Vor etwa fünfzig Jahren landete ich mit meinen Eltern auf der kleinen Insel Menorca. Das war unser erstes Mal auf den Balearen. Alles war neu und außergewöhnlich für uns. Zuvor waren wir nur in Österreich und in Bibione Pineda an der Adria gewesen. Wir genossen fantastische Sommerferien. Nur der Autovermieter hatte uns mit der miesen Karre, die er uns angedreht hatte, ganz eindeutig übers Ohr gehauen. Der 1. Gang funktionierte überhaupt nicht, man musste im 2. Gang anfahren, und auch die Bremsen waren wohl schon uralt. Aber wie wir an der Fahrweise vieler anderer Touristen unschwer erkannten, war dies wohl eine recht weitverbreitete Masche.
Nach mehreren herrlichen Badetagen wollten wir eines Abends aus unserem Hotelmenütrott ausbrechen und statt dem immer wiederkehrenden „Hacksteak Hoffmann“ als Option 3 auf der Speisekarte (es wurde leider sogenannte europäische Küche angeboten) etwas Landestypisches essen. Wir waren bei unseren Ausfahrten bereits mehrfach an einem kleinen Restaurant ca. einen Kilometer hinter dem Ortsausgang vorbeigekommen. Wir hatten uns nämlich immer an dem großen Tierheimschild orientiert, das direkt gegenüber, sogar in deutscher Sprache, stand, um den richtigen Abzweig zu finden, über den wir zu einer besonders zerklüfteten Bucht gelangten, die jedoch Seitenterrassen zum Liegen mit Einstiegsleitern ins Meer hatte. Hier konnte man wunderbar ins Wasser springen, da es tief genug war im Gegensatz zu den ganzen anderen seichten Buchten.
Das kleine Lokal war sehr rustikal eingerichtet mit viel Holz und Pflugscharen, Wagenrädern, einem schwarzen Kummet, vielen Hufeisen, Kalebassen, die von der Decke hingen und ähnlichem Dekor. Es wirkte sehr heimelig und es war außerdem äußerst gut besucht. Nicht nur von uns, sondern auch von zahlreichen Katzen. Meine Mutter stand direkt mit ihnen auf bestem Fuß, und auch ich hatte meine Freude an ihnen.
Wir hatten Glück, dass gerade ein Tisch frei wurde und studierten gleich die Karte. Leider war diese nur auf Katalanisch, mit dem wir nichts anfangen konnten. Uns gegenüber hing jedoch eine Kreidetafel, auf der das Gericht des Tages angeschrieben stand „conill amb patates“. Daneben war eine abenteuerliche Zeichnung von einem Kaninchen. Patates hatten wir auch so als Kartoffeln identifizieren können, und somit bestellten wir dreimal Tagesgericht.
Wie sich herausstellte, war dies eine hervorragende Wahl. Das Fleisch zerging auf der Zunge, war fantastisch mit landestypischen Kräutern gewürzt, und die Kartoffeln waren mit der Schale geschmort und mit Meersalz bestreut. Dazu tranken meine Eltern Rotwein und waren bester Laune, und ich bekam zur Feier des Tages eine Limonade. Wir waren rundum zufrieden und mein Vater hinterließ ein reichliches Trinkgeld. Wie gut, dass wir endlich den Schrecken der ständig gleichen Speisekarte im Hotel entkommen konnten! Die Knochen und einige leckere kleine Stückchen Fleisch genossen die Katzen zu unseren Füßen.
An drei weiteren Abenden fanden wir uns wieder in diesem Lokal ein, und jedes Mal gab es wieder Kaninchen. Das war so himmlisch, die Spanier wussten wirklich, wie man so etwas zubereitet, dass es mit einem Kaninchen schon fast keine Ähnlichkeit mehr hatte! Wir schwelgten einfach im siebten Himmel und bescherten auch die ausgehungerten kleinen Mäuler unter uns mit einem reichen Segen. Das Kaninchen war der Hit auch unter den anderen Touristen, die das Restaurant bevölkerten und alle dasselbe bestellten.
In der Zwischenzeit hatten wir uns, abgesehen von vielen Katzen, mit einem Straßenhund angefreundet, der uns täglich begegnete und eigentlich immer im gleichen Revier herumlief. Es war ein relativ großer, weißer, sehr schöner und auch schlauer Hund. Er war lieb und völlig harmlos, zutraulich und wir hatten immer das Gefühl, er warte auf uns ganz speziell. Meine Mutter überlegte sich bereits, ob wir ihn irgendwie mitnehmen könnten, aber damals war das noch sehr schwierig. Das Tier hätte laut meiner Eltern zig Impfungen und einen Gesundheitsausweis bekommen müssen und womöglich mehrere Monate in Quarantäne gemusst. Für meine Mutter zu meinem Leidwesen unüberwindbare Hürden. Dabei erzählte sie mir immer wieder, dass ihre Freundin aus Italien im Auto einen Esel mitgebracht hatte, einfach indem sie ihn auf der Rückbank unterbrachte, eine Decke über ihn legte und ihre drei Kinder darauf sitzen ließ. Offenbar hatte das Tier begriffen, worauf es ankam, denn sie fuhren problemlos durch den Zoll und hatten von da an ihren eigenen Esel im Garten.
Eines Morgens gegen Ende des Aufenthalts ging ich wieder den Hund begrüßen, aber ich fand ihn an der Straße liegend, blutend, traurig und hoffnungslos. Offenbar hatte ihn jemand angefahren, und er hatte da wohl bereits die ganze Nacht gelegen, denn es ging ihm schlecht und er hatte sich irgendwie aufgegeben, das konnte ich fühlen. Mit meinen Eltern brachten wir ihn schleunigst zum Tierheim, denn die hatten sicherlich auch einen Tierarzt und würden sich gut um ihn kümmern. An eine Mitnahme war ja jetzt überhaupt nicht mehr zu denken. Das brächte nur noch Probleme mit sich.
Im Tierheim angekommen, erfuhren wir jedoch von der deutschen Inhaberin, dass die Aufnahme von Hunden überhaupt nicht in Frage käme, sie nähme nur Katzen an. Tierarzt sei ihr keiner auf der Insel bekannt. Täglich kämen Touristen, die ihr Katzen brächten. Wir wollten die Katzen dann noch gerne ganz kurz ansehen, das schien der Frau mit der Augenklappe und der scheppernden Stimme allerdings nicht so besonders recht. Trotzdem schaffte es meine Mutter, sie zu umgarnen, so dass sie uns schließlich die Käfige zeigte.
Erstaunlicherweise waren diese gar nicht gut bestückt. Es waren nur drei Katzen da, und von denen hatte jede nur 3 Beine. Die Frau erklärte, dass es ihr immer sehr gut gelänge, Abnehmer in der Nachbarschaft für die Katzen zu finden, aber diese dreibeinigen Kreaturen wolle man nicht haben. Die seien ja nicht vorzeigbar. Also müsse sie sich wohl ewig um diese kümmern, was für eine Belastung. Die Frau war irgendwie extrem unsympathisch. Sie schien ihren Job als Zumutung zu betrachten, dabei hatte sie doch sicherlich selber das Tierheim eröffnet. Den Katzen schien es auch nicht sonderlich gut bei ihr zu gehen. Die Käfige stanken und wirkten viel zu klein und schmuddelig.
Frustriert verließen wir die Örtlichkeit und wussten überhaupt nicht, was wir mit dem armen lieben Hund nun machen sollten. Die Unterlage, die wir ihm aus dem Hotel organisiert hatten, hatte er ziemlich vollgeblutet. Er war sehr schwach und apathisch. Wir brachten ihn zurück vor das Hotel und legten ihn im Schatten ab. Mein Vater besorgte in der hoteleigenen Apotheke Desinfektionslösung, die dem armen Tier offensichtlich große Schmerzen bereitete, was es aber, ohne zu schnappen, ertrug. Dann umwickelte mein Papa die Verletzungen mit etlichen Mullbinden. Meine Mutter kam mit einer Porzellanschüssel voller Wasser aus der Hotelküche und der Hund trank ein paar winzige Schlucke.
Meine Eltern gingen dann baden, und ich saß noch lange bei dem Hund, der jedoch nur still da lag und sich kaum rührte. Als ich schließlich aufstand und zu meiner Familie ging, fühlte ich, dass mein letztes Streicheln seines etwas verzottelten Fells wohl ein letzter Gruß war. Ich hatte Tränen in den Augen und ich fühlte mich wie eine Verräterin. Von der anderen Straßenseite sah ungerührt eine der unvermeidlichen Katzen zu, die überall herumstreunten. Normalerweise waren es mehr. Als ich später zurückkam, um nach ihm zu sehen, war der Hund samt Schüssel verschwunden, und wir sahen ihn danach nicht mehr.
In dieser Woche hatte sich die Insel zusehends geleert, man merkte, dass die Saison zu Ende ging. Alles schien zu verschwinden. Die Anzahl der besetzten Tische im Hotel nahm ab, der Essensbereich wurde verkleinert, ein großer Teil des Speisesaals wurde durch eine Schiebetür über die gesamte Breite weggesperrt, am Pool gab es plötzlich viele freie Liegen, an den Buchten standen jetzt einheimischer Angler, aber es waren kaum noch Touristen dort. Die vielen Geschäfte, die Schnorchelausrüstungen, Badelatschen, Bikinis und Strandtaschen draußen vor der Tür anboten, hatten sich wohl auf die Hälfte dezimiert. Nun kehrten diese Läden uns ein blindes Auge in Form eines heruntergelassenen rostigen Blechrollos über die gesamte Front zu. Auch die Katzenpopulation hatte sich irgendwie zusehends ausgedünnt.
Wir hatten uns auch langsam nicht mehr so wohl hier gefühlt, denn das tägliche Nichtstun machte uns ein wenig schwermütig, und die bereits erreichte Sonnenbräune war nicht mehr zu toppen. Das Auto fuhr noch deutlich schlechter als anfangs, und obendrein hatten wir ohnehin längst die gesamte Insel bereits fünf oder sechsmal umrundet, so dass sie uns nichts Neues mehr bieten konnte.
Wir beschlossen, am Abend nach dem Abschied von unserem lieben Hund, den ich mir insgeheim eigentlich schon als Familienmitglied erhofft hatte, noch ein letztes Mal zum Kaninchenrestaurant zu fahren. Schon beim Schwenk um die Kurve sahen wir, dass es relativ ausgestorben wirkte. Wir kehrten ein und bestellten unser Conill, aber stattdessen schüttelte der flotte Spanier, in den ich heimlich verliebt war, weil er so glühende schwarze Augen hatte, vehement den Kopf und zeigte auf die Tageskarten-Kreidetafel, auf der nun „Rodkill“ stand. Conill gab es also heute nicht mehr. Wir hatten keine Ahnung, was Rodkill denn sein könnte und witzelten, ob das eine spanische Variante von Rotkohl, bei uns daheim in Bayern also Blaukraut, sein könne. Da wir hier aber immer hervorragend gespeist hatten, vertrauten wir dem Koch und lernten nun also mal ein neues balearisches Gericht kennen.
Wir wurden nicht enttäuscht, wieder bekamen wir ein saftiges Fleischstück. Es schmeckte ganz anders als Kaninchen, auch anders als Schwein oder Rind oder Lamm, aber es war unglaublich gut gewürzt. Wahrscheinlich über Nacht mariniert, sagte meine Mutter, die sich ja mit Kochen dank Hauswirtschaftsschule recht gut auskannte. Dazu gab es kein Blaukraut, sondern verschiedene Gemüsesorten, die bei uns zu Hause in den siebziger Jahren eher noch Seltenheitswert hatten: Auberginen, Zucchini und etwas Orangefarbenes, das laut meiner Mutter wohl eine Kürbisart sein könnte. Das Mahl war jedenfalls lukullisch, und hätte es damals schon Onlinebewertungsportale gegeben, hätten wir bestimmt bilderreich untermauerte Loblieder im Internet gesungen.
Was erstaunlich war, es waren keinerlei Katzen mehr da, die um unsere Beine strichen und um Essen bettelten. Vielleicht hatten die anderen Touristen doch eine einfachere Möglichkeit gefunden, diese niedlichen Fellnasen mit nach Hause zu nehmen. Oder sie waren vielleicht mit der Fähre hier und haben sie im Kofferraum nach Hause geschmuggelt.
Am nächsten Tag ging unser Flug und zu Hause erwarteten uns schon meine Meerschweinchen und die Katzen, die allesamt mit Hingabe von unserer Zugehfrau versorgt worden waren. Ich war immer noch traurig über das Schicksal des liebgewonnenen Hundes und fragte mich, ob ihn wohl jemand beerdigt hatte. Mir wäre wohler gewesen, hätte ich gewusst, dass er irgendwo auf der Insel eine schöne Grabstätte hätte, am besten mit Blick aufs Meer. Wir waren wohl die einzigen, die noch gelegentlich von ihm sprachen.
Von dem leckeren Essen auf Menorca schwärmten meine Eltern noch lange ihren Freunden vor. Was auch immer meine Mutter probierte, über Nacht marinieren, verschiedenste Kräutermischungen kreativ zusammenmixen, so einen Wohlgeruch und intensiven Geschmack wie dort konnte meine Mutter einfach nicht hinbekommen. So träumten wir noch oft vom zarten Conill und erzählten begeistert vom fantastisch saftigen Rodkill.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.