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Bin ich blind oder sehe ich klar?

 

Als ich ganz klein war, war die Welt noch in Ordnung. Ich fragte mich zwar ständig, wieso ich ich sei und nicht z.B. meine Eltern, denn eigentlich waren wir ja dasselbe, aber wenn mich einer was fragte, musste immer ICH nachdenken und antworten, und das Blöde dran war, dass nicht einfach eine Stimme aus mir sprach, die die richtige Antwort gab, sondern dass ich diese Stimme hervorbringen musste und auch noch irgendeinen sinnvollen Inhalt. Meine Stimme war klein und brüchig und unsicher. Die ganze Welt war eine weiche cremige lauwarme beige Flüssigkeit, aber ich war wie eine Lücke darin, in die nichts hineinfloss, und in der also auch nichts drin war. Meine Eltern waren auch solche Lücken. Offensichtlich konnte ich nicht sehen, was drin war, aber es war was drin, denn es kam was raus. Und mit solcher Selbstverständlichkeit. Stimmen, die nur dazu da waren, sich zu bewegen, zu reden, einen in Grund und Boden zu reden.

 

Später in der Schule stand ich meist abseits. Ich wollte mich nicht lächerlich machen bei den Spielen der anderen. Ich hätte so gerne mitgespielt, aber die Kinder fragten mich einmal und dann nicht wieder. Hätten sie ein zweites Mal gefragt, hätte ich mich getraut. Aber ich wartete vergeblich. Ein-, zweimal sagte mir ein Kind: Wieso stehst Du da bei denen, wir sind doch da drüben? Also stellte ich mich in Zukunft noch weiter weg. Da konnte ich alles sehen und musste nicht zugeben, dass ich nicht wusste, wohin ich eigentlich gehörte. So begnügte ich mich mit Zusehen und versuchte mir einzureden, dass ich auch nichts weiter wollte.

 

Nach unserem Umzug lernte ich eine ganze Reihe von Kindern kennen, die in der Nachbarschaft wohnten. Der eine, weißblonde bekam nach ein paar Jahren einen weißblonden Zwilling. Den Zwilling hatte ich eigentlich lieber, er erweckte in mir das Gefühl von etwas Gelbem voller Energie, und ich empfand es so, als könnte ich immer riechen, dass er nach Waschpulver und Zucker roch. Das war bei seinem Zwilling, der zwar irgendwie größer war und nicht so niedlich, nicht der Fall. Zwei andere Kinder hießen Klaus. Der eine hatte ein breites Gesicht, er war freundlich und ruhig. Es tat mir sehr leid, dass ich ihn aus Versehen mit einem Stein verletzt habe, und ich war so zerknirscht, dass ich freiwillig nicht mehr mit ihm spielte, damit ich ihm nicht noch mal weh tat. All dieses Blut auf seinem teigigen weißen Gesicht war so schlimm für mich gewesen, jedes Mal, wenn ich ihn sah, spürte ich den Schmerz in seiner Stirn als wäre es meine eigene.

 

Mit zwei anderen Kindern fuhr ich manchmal zusammen in die Schule. Einer davon war frech und irgendwie dunkel und rau, der war derjenige, der mir besser gefiel. Ich weiß immer noch nicht, ob das Bernd oder Guido war. Aber wenn er da war, war das ja egal, er hat mich immer erkannt.

 

In der vierten Klasse dann ging es bei uns Mädchen darum, den anderen ins Poesiealbum zu schreiben. Es gab insgesamt drei Mädchen mit dicken blonden Zöpfen in der Klasse und im Religionsunterricht (der war in einem anderen Schulgebäude, da gingen einzelne Kinder aus verschiedenen Klassen zusammen hin). Die Mädchen sahen ganz anders aus als die anderen. In meinen Augen waren sie die allerschönsten, und irgendwie kamen sie mir ganz unwirklich vor. Ich bat sie untertänigst, mir einen Eintrag in meinem Buch zu schreiben, und zu meinem großen Erstaunen taten sie das. Da erfuhr ich dann auch, wie sie hießen. Aber als ich die dritte fragte, meinte sie, sie stehe doch schon in meinem Album. Sie zeigte mir den Eintrag. Ich fand nie heraus, wo die eigentliche Dritte hingekommen war. Denn die andere mit den Zöpfen stand auch schon im Album.

 

In der Zwischenzeit lernte ich ein Mädchen kennen, das wie rosa Zuckerguß war, aber gleichzeitig wie eine frische essbare Pflanze. Ich wusste nicht, was für eine Pflanze, aber inzwischen würde ich sagen, Sauerampfer. Damals kam bei uns so etwas nicht auf den Tisch, und im Garten wuchs es auch nicht, aber den Geschmack kannte ich irgendwoher. Mit diesem Mädchen verstand ich mich unglaublich gut. Wir wurden Bluts“brüder“ und steckten täglich zusammen. Ich konnte sie überall erkennen. In ihrer Nähe spürte ich eine Vibration in meinem Brustkorb, das war wie ein Detektor. Dann wusste ich, da ist sie irgendwo. Und ich fand sie. Sie war sehr blond, und sehr oft hatte sie ein rosa-weiß kariertes Kleidchen an. Das war auffällig. Und passte zu dem Zuckerguss.

 

Auch die paar Kinder, die ich zuvor in der Grundschule als nett empfunden hatte, waren irgendwie anders als die anderen. Eine war sehr dick, ich erkannte sie deshalb gut. Sie verschwand nach einiger Zeit von der Schule. Eine stotterte und roch nach Bittermandeln. Ich konnte sie herausriechen. Sie kam in die Sonderschule. Eine war sehr sehr lebendig und machte lauter Blödsinn. Dadurch fiel sie mir täglich auf. Sie hatte eine Schwester, die eine dunkle Hautfarbe hatte. Die war mir noch lieber, denn sie war sehr brav und irgendwie niedlich. Aber ich konnte sie nur finden, wenn ihre Schwester mit ihr zusammen war. Sie zogen weg. Eine sprach sehr bayrisch und wirkte auf mich leicht und voller Kraft. Sie war auch recht gescheit und redete ununterbrochen. Mit ihr ging ich oft ein Stückchen nach Hause. Sie kam in eine andere Klasse. Eine hatte lockige dunkle Haare, eine Riesenmähne. Sie war leicht zu erkennen, hatte eine knarzige Stimme, und sie war ein oder eineinhalb Jahre meine Freundin. Dann zog sie weg.

 

Bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium waren wieder die beiden Zopfmädchen dabei. Ich versuchte mich anzufreunden, da stellte sich heraus, dass die eine mich kannte, die andere aber noch nie gesehen hatte. Als ich ihr sagte, sie stehe doch in meinem Album, meinte sie, das müsse ein Irrtum sein, sie wäre nie mit mir zusammen in der Schule gewesen. Ich glaube, sie hat mich für völlig verrückt gehalten. Ich hielt mich auch für ziemlich daneben, wieso passierte mir dauernd so etwas? Ich verwechselte alle möglichen Leute und es gab immer wieder hochnotpeinliche Situationen.

 

In der Praxis meiner Eltern musste ich häufig, wenn meine Mutter meinem Vater half und nicht hinaus konnte, die Tür öffnen, wenn es klingelte. Die Patienten redeten dann mit mir, und ich stellte fest, dass sie so viel über mich wussten. Sie fragten mich auch, ob ich das letzte Mal meine Mathehausaufgabe noch gut hingekriegt hätte, obwohl ich noch nie mit ihnen gesprochen hatte. Das war sehr merkwürdig.

 

Meine Mutter erkannte auf der Straße andere Leute schon, wenn sie noch ganz weit weg waren. Ich schaute möglichst immer auf den Boden, damit niemand mich bemerkt. Ich hoffte, sie würden auch mich dann nie ansprechen, denn wenn ich sie nicht sah, erkannten sie mich hoffentlich auch nicht wieder. Das war leider nicht der Fall. Sie redeten immer mal wieder auch mit mir, aber ich hatte keine Ahnung, wer sie waren. Meine Mutter ärgerte sich dann heftig über mich.

 

Am Gymnasium war ein Mädchen, das dicke Wangen hatte und nach Schinken roch. Ich schnüffelte ständig an ihr, denn der Geruch gefiel mir gut. Ich weiß nicht, was sie sich dabei dachte, dass ich sie immer beschnüffelte. Sie ist heute die Patentante eines meiner Kinder und die einzige, die ich noch von der Schulzeit her kenne.

 

Nachdem meine bessere rosa-karierte Zuckerguss-Sauerampfer-Hälfte eines Tages meinte, sie hätte jetzt eine andere Freundin, und sie habe sie besucht, war ich am Boden zerstört. Sie war der einzige wichtige Fixpunkt in meinem Leben, und ich fühlte mich furchtbar hintergangen. In diesem oder im nächsten Jahr zog sie dann weg, mein Leben lag in Trümmern. Bis zum Abitur hatte ich keine Freundin. Ich war immer allein. Einige erkannte ich in den Pausen gut, denn sie waren unangenehm und sprachen fast ausschließlich darüber, wie viel sie gestern wieder gebüffelt hätten. Ich versuchte, möglichst anders als sie zu sein, was sich einige Zeit lang in meinen Schulnoten äußerte, die ich absichtlich verschlechterte. Ich wollte nicht, dass die anderen mich aus Versehen mit denen in Verbindung brächten. Aber ich war ihnen sowieso ziemlich egal. Sie wussten alles übereinander, ich wusste nichts über sie. Und es fehlte mir auch nicht.

 

Nach dem Abitur zog ich zum Studieren nach München. Ich hatte beschlossen, dass jetzt alles anders werden sollte. Ich wollte viele Freunde haben, nicht mehr schüchtern sein, Spaß haben. Ich ließ auch endlich meine Nase operieren, die mich lange Zeit sehr unglücklich gemacht hatte (sie war auch für wildfremde Kinder ein Wahrzeichen – ich kam an der Realschule vorbei und da standen böse Jungs, die immer riefen: Der Geier kommt, der Geier kommt! Ich wusste vor dem Vorbeigehen nie, ob das wieder dieselben seien, und schlich sicherheitshalber in gebückter Haltung mit gesenktem Kopf vorbei, damit sie mein Gesicht nicht sehen konnten. Waren sie es, so erkannten sie mich trotzdem, und ich wurde wieder ausgelacht).

 

Während des Studiums lernte ich dann sehr viele Jungs und Mädchen kennen. Es kam auch zu vielen Verwechslungen. Sehr peinlich war es, als ich einen festen Freund hatte, und ihn eines Tages in der U-Bahn stehen fand. Ich ging zu ihm hin und umarmte ihn und wollte ihn küssen. In dem Moment bemerkte ich an seinem Blick, dass etwas nicht stimmte. Und als er den Mund aufmachte, hatte er eine ganz andere Stimme. Ich stieg an der nächsten Station aus und zitterte am ganzen Körper. So was Idiotisches war mir noch nie passiert. Ich beschloss, niemanden mehr anzusprechen, sondern nur noch zu warten, bis die anderen mich ansprachen. Wenn sie mich kannten, taten sie das auch.

 

In der Mensa setzte ich mich immer an den Tisch mit den Persern. Ich konnte anhand ihrer Aussprache und ihrer deutschen Sprachkenntnisse sehr leicht erkennen, wer was war. Ich fand auch einen Freund, der sehr viel größer als alle anderen war und spindeldürr. Mit dem war ich lange Zeit befreundet. Da war wieder diese Vibration in der Brust, und ich wusste immer, wer er war. Später verliebte ich mich zu dessen großem Ärgernis in einen weiteren Perser, der eine wunderbar warme Samtstimme hatte und dicke schöne Augenbrauen. Da war auch diese Vibration. Inzwischen weiß ich, dass die Vibration auch etwas mit einer gemeinsamen Wellenlänge in puncto Intelligenz zu tun hat.

 

Als sich all diese Beziehungen zerschlagen hatten, lernte ich meinen Mann kennen. 1989 heirateten wir. Oft gingen wir auf Flohmärkte. Das Blöde dran war nur, dass er immer schneller an den Reihen vorbeiging als ich. Und dann verlor ich ihn aus den Augen, und oftmals suchte ich ihn verzweifelt, anstatt in Ruhe die Sachen anzusehen. So war mir mancher Ausflug vergällt, denn etwa 1/3 der Flohmarktzeit war ich mit Suchen nach meinem Mann beschäftigt. Auch wenn er dann vor mir stand, amüsierte er sich häufig, indem er mich auflaufen ließ. Ich erkannte ihn oft auch dann nicht, wenn ich schon fast mit ihm zusammenstieß.

 

Er lachte mich auch häufig aus, wenn ich über andere Leute, die er mir zeigte, sagte: Sieht aus wie… Ich habe die blöde Angewohnheit, bei den meisten Leuten, eine Assoziation in meinem Kopf zu bestimmten anderen Leuten zu haben, die ich früher kennengelernt habe, und die sich noch in meinem Leben befinden. Außer mir sieht da aber meist keiner eine Ähnlichkeit.

 

Ich hatte mir instinktiv eine ungesellige Tätigkeit und eine Arbeitsstelle gesucht, wo ich meine Ruhe hatte. Es gab da nur wenige Mitarbeiterinnen, das war schön so, ich kam mit ihnen gut zurecht und wusste immer genau, wer sie sind. Dann wechselte ich die Arbeit, dort waren mehr Leute. Mit manchen arbeitete ich eng zusammen. Eine davon war mir lange Zeit tödlich beleidigt, als ich auf der Treppe an ihr vorbeiging, und sie fragte, wohin sie wolle, ob sie einen Termin habe, weil ich sie für eine Mandantin gehalten hatte.

 

Als ich dann kleine Kinder hatte, war es für mich immer extrem schwierig, sie auf dem Spielplatz zu finden. Besonders Rafael hatte auch immer die Angewohnheit, ständig zu verschwinden und nie mehr zurückzukommen. Oft war er auf der Suche nach mir, lief aber ganz wo anders hin und fand mich nicht. Und ich ihn auch nicht. Das waren teils schlimme Aufregungen. Ich behalf mich damit, den Kindern außergewöhnlich grelle Oberteile zu kaufen. Dann musste ich nur nach den jeweiligen Farben Ausschau halten. So lange sie dann auch das Oberteil anbehielten, hatten wir keine Probleme. Eine Katastrophe war es jedoch im Schwimmbad. Wie oft habe ich in voller Panik den Boden eines Schwimmbeckens nach einem womöglich untergegangenen Kind abgesucht. Dann zupfte mich Lenny an der Hand und sagte: Hier bin ich! Ich schloss ihn in den Arm und sagte: Aber Rafael ist nicht mehr da! – Wieso, der sitzt doch auf unserer Decke! Lenny erkennt jeden Erwachsenen und jedes Kind sofort. Egal wo. Auch in Badehose und sogar mit Badekappe.

 

Im Kindergarten herrschte bei der Abholung stets ein Gewusel. Häufig fand ich mein Kind nicht. Die Kindergärtnerin suchte es mir geduldig heraus. Oft blieb ich einfach bis zum Schluss, und Rafi blieb auch bis zum Schluss. So fanden wir uns. Als später Lenny in den Kindergarten kam, hatten wir das Problem nicht, er kam immer zu mir.

 

Während der 6 Jahre, die meine Kinder nacheinander den Kindergarten besuchten, führte ich dort die Kinderbücherei. Die Kinder waren oft beleidigt, weil ich jedes Mal nach ihrem Namen fragen musste, wenn sie die Bücher zurückbrachten. Auch nur zwei der dazugehörigen Mütter konnte ich erkennen. Eine der Mütter ist Marokkanerin und sah einfach völlig anders als die anderen aus. Mit ihr bin ich noch befreundet. Meine andere Freundin erkenne ich von hinten am Gang und an ihrer Standardkleidung in Kombination mit glatten langen dunklen Haaren. Dazu hat sie drei herausragend blonde Kinder. Inzwischen erkenne ich sie auch, wenn sie ganz alleine unterwegs ist.

 

Inzwischen bekam ich mit einer Nachbarin ein Problem. Sie kam mir morgens häufig entgegen, wenn ich die Kinder in Kindergarten bzw. Schule brachte. Sie grüßte mich immer sehr vorwurfsvoll, leider immer als erste, denn ich habe sie nie bemerkt. Seit letztem Jahr redet sie nicht mehr mit mir, obwohl ich sie häufig im Haus sehe und da ja weiß, wer sie ist, denn in unserem Haus wohnen nur 11 Parteien. Ich grüße sie, sie geht mir aus dem Weg und antwortet nicht. Und ich ärgere mich. Vermutlich habe ich sie irgendwo wieder unabsichtlich übersehen. Eine Nachbarin erkenne ich sehr gut immer auf der Straße. Sie geht sehr schief und hat eine Perücke auf. Mit ihr rede ich gerne. Sie ist ein Kernseifentyp und leuchtet von innen heraus.

 

Dann habe ich drei Jahre in einem Second-Hand-Laden ehrenamtlich gearbeitet. Auch hier musste ich stets nach der Kundennummer fragen. Auch wenn manche Leute schon fast täglich in den Laden kamen. Die Frauen brachten ihre Kinder mit, die spielten dort in einem Spielzimmer. Manchmal musste ich ein Kind ermahnen, weil es Ärger machte. Dann ging ich aus dem Spielzimmer in den Verkaufsraum und fragte, wem eigentlich das blonde Mädchen da gehöre. Manchmal sah mich eine Kundin sehr böse an, dass ich das nicht wisse. Das war häufig der Fall, wenn das Leute waren, die ich eigentlich schon aus dem Kindergarten oder z.B. von der Kinderbücherei, oder vielleicht noch länger – womöglich schon seit der Krabbelgruppe kennen müsste.

 

Eine Freundin lädt zum Geburtstag ihrer Tochter immer dieselben Kinder ein. Eine der Mütter teilt jedes Mal denselben Seitenhieb in meine Richtung aus – ich begegne ihr anscheinend ständig auf der Straße und will sie dann jedes Mal nicht kennen. Total arrogant von mir. Ich entschuldige mich jedes Mal, aber sie betrachtet mich vermutlich als extrem dumme Kuh und glaubt, ich entschuldige mich bloß bei ihr, weil die Gastgeberin anwesend ist. Auf der Straße kenne ich sie dann wieder nicht. Inzwischen weiß ich, dass sie bei der Kinderärztin arbeitet. Seit ich das weiß, erkenne ich sie dort auch jedes Mal wieder. Aber auf der Straße nicht. Überhaupt kenne ich alle Leute an dem Platz, wo sie sich üblicherweise aufhalten und ich mit ihnen rechne, recht gut. Ab und zu bin ich auch ganz stolz, dass ich jemanden auf der Straße richtig erkannt habe. Bei einer Frau aus dem Blumenladen habe ich monatelang gerätselt, die mich immer wieder - sicher 20 mal trafen wir aufeinander - mit ihrer dunklen Stimme auf der Straße grüßte. Als ich dann im Oktober zum Geburtstag meiner Mutter im Blumengeschäft einen Strauß bestellen wollte, löste sich das Rätsel endlich, wer sie ist. Vielleicht hätte ich mir mal lieber selber eine Freude machen sollen und schon im Juli für mich selber eine Pflanze kaufen sollen…

 

Als ich eines Abends beim Vorbeigehen am Fernseher zufällig hörte, dass es Leute gäbe, die gesichtsblind seien, schnappte ich das Wort auf und es drang in mein Gehirn ein. Leider wurde danach nichts mehr zu diesem Begriff gesagt. Aber ich wälzte ihn eine Weile in meinem Kopf, das war doch etwas, das ich eigentlich auch über mich sagen könnte! Ich hielt das Wort jedoch für eine freie Erfindung und vergaß es nach einer Weile wieder.

 

In der Zeit stellte ich fest, dass Rafael die Leute klassifizieren konnte. Er ordnete ihnen Farben zu. Ich fand das als sehr spannend. Und irgendwann merkte ich: ich mache das auch. Aber nicht so wie er – bei mir sind es Farbmischungen, Gerüche und Geschmack, ein Eindruck der Energiemenge, eine Konsistenz, ein Maß der Ausdehnung – wie viel Platz nimmt diese Person in meinem Empfinden ein? Die Stimme der Leute habe ich im Ohr, wenn ich an sie denke. Dieser Eindruck von der Person entsteht in der Zeit, wenn sie nicht mehr da ist. Nach einem Treffen. Und er hält sich sehr lange.

 

Nicht immer funktioniert das gut. Ich stand mit Rafael in der U-Bahn und entdeckte zwei freie Plätze. Der Mann daneben kam mir sehr bekannt vor. Ich beratschlagte mit Rafael, und wir beide waren uns einig, dass das der Mann war, der früher bei uns im Haus gewohnt hatte. Er ist schwul und wohnte da mit seinem Partner. Leider kriegten sie sich sehr in die Haare und trennten sich, mussten die Wohnung verkaufen.

 

Wir setzten uns also dazu und ich sprach den Mann an, duzte ihn wie immer, und fragte, ob er mit seinem Freund wieder zusammengekommen sei, ob sie wieder zusammen wären?

 

Der Mann sah mich sehr indigniert und empört an und meinte: Ich glaube, Sie verwechseln mich da! Sie sind doch eine Patientin, oder? Sie waren übrigens schon lange nicht mehr bei mir in der Praxis.

 

Mit vor Entsetzen hochrotem Kopf stellte ich fest, dass das nicht der schwule Nachbar war, sondern mein Zahnarzt.

 

Nach der Erkennung der Hochbegabung bei Rafael und im Zuge dessen auch bei mir, fing ich an, mich viel mit dem Internet zu beschäftigen. Daraus zog ich viele Informationen über Hochbegabung und stellte fest, dass man eigentlich nach allem suchen könne, was einem einfiel. Irgendwie fiel mir da das Wort wieder ein: Gesichtsblind. Ich suchte und fand. Prosopagnosie.

 

Und was ich da las, passte. Mir wurde ganz anders. Ich hatte schon immer gewusst, dass ich ein Problem hatte, das ich nicht benennen konnte, aber das einfach da war. Und wodurch ich bei den anderen nicht so besonders beliebt war. Und wodurch ich immer wieder in seltsame Situationen kam, die peinlich waren. Ich war stumpfer und unaufmerksamer als die anderen, mir waren Dinge nicht wichtig, die den anderen wichtig waren. Beim Friseur gewesen, neue Brille, Bart und vorher keiner? Neuer Lippenstift, den Pulli zum ersten Mal an, 5 kg zugenommen oder 7 ab? Ich verwechselte Mütter und Töchter. Ich sprach große Kinder mit „Sie“ an und duzte die Mutter.

 

Ich schloss mich der Mailingliste an und stellte fest: Ich bin nicht alleine so. Es geht den anderen genauso. Und wir sind anders. Ich setzte mich in dieser Zeit absichtlich vielen Testsituationen aus. Ich kaufte Bücher mit Konzentrations- und Gedächtnisübungen und arbeitete diese durch. Um zu sehen, ob es nun eigentlich einfach Faulheit und Desinteresse meinerseits wäre, und ob ich mit etwas mehr Einsatz und gutem Willen die Leute besser erkennen könne. Ich stellte fest: es ist hoffnungslos. Selbst wenn ich jemanden vor mir sehe, ihn laut genau beschreibe und in dem Moment noch weiß, wie er aussieht, jedes einzelne Detail – wenn er weg ist, weiß ich nur noch Details. Und die passen nicht zusammen. Sie ergeben nichts, es sind nur Stückchen.

 

Was bleibt, ist ein Gesamteindruck. Ich habe mich dann einige Zeit damit beschäftigt, und dabei festgestellt, dass ich mir nicht mal das Gesicht meiner Eltern vor meinem geistigen Auge vorstellen kann. Was ich da sehe, ist ein Foto, und dazu habe ich die Stimme dieser Menschen im Kopf.

 

Wenn ich von jemandem ein Foto habe, kann ich ihn mir auch hinterher gut vorstellen. Fotos sind zweidimensional. Die dritte Dimension scheint mir zu fehlen. Bleibt der Mensch ungefähr so wie auf dem Foto, habe ich kein Erkennungsproblem. Ändert er gerne sein Aussehen, komme ich nicht mit.

 

Eines Tages sprach mich eine extrem verwirrte Frau auf der Straße an und erzählte mir allerlei Seltsamkeiten. Ich beschloss, nachdem sie mit ihren merkwürdigen Geschichten weg war, doch die Polizei vom Handy aus anzurufen, ob so eine Frau vielleicht in irgendeinem Heim vermisst würde. Leider fragte der Polizist mich sofort, wie groß, wie klein, wie alt, Haarfarbe, was hatte sie an? Besondere Kennzeichen? Ich versagte auf der ganzen Linie. Wahrscheinlich hatte ich Glück, dass die Polizei nicht gleich kam, und an ihrer Stelle mich in eine geschlossene Anstalt gebracht hat. Der Polizist hatte wohl beschlossen, dass ich ihn nur auf den Arm nehmen wollte, und es kam überhaupt niemand.

 

Nun, wo diese ganzen unangenehmen Situationen einen Namen hatten, stellte ich aufgrund der Beiträge in der Prosopagnosie-Mailingliste auch fest, warum ich so ungern fernsehe: in Filmen werden die Schauspieler maskiert, mal sind sie jung, dann erwachsen, dann gealtert. Für mich sind das drei verschiedene Personen. Wenn es nun um vielleicht 5 Personen in einem Film geht, macht das für mich 15. Wenn nun auch noch Vor- und Rückblenden stattfinden, und das ganze nicht chronologisch abläuft, bin ich aufgeschmissen. Ich verstehe die Handlung einfach nicht. Also kann ich genauso gut zu einem x-beliebigen Zeitpunkt aufstehen und rausgehen und irgendwann viel später wieder hereinkommen. Da ich nichts verstehe, fehlt mir auch nichts. Es sind für mich alles nur Kurzfilme, die aneinandergereiht wurden. Einige wenige Filme haben mich beeindruckt, in denen habe ich alles mitbekommen. Entweder treten in ihnen nur sehr wenige Charaktere auf oder sie sind von vorne bis hinten chronologisch richtig. Oder ich habe das Buch kurz zuvor gelesen und weiß, womit ich zu rechnen habe.

 

Überhaupt – Bücher… Mit Personen in Büchern habe ich keine Probleme. Ich habe im Kopf, dass Lilly gelblich mit grünen Sprenkeln ist und schmal und flink. Oliver besteht aus lila-schwarzen Nebelschwaden und hat eine tiefe Stimme mit schönem Timbre. Beverley ist eine orange-braune Zicke mit eitrigem Geruch und bei Carlo denke ich an blaue Sitzwürfel, die man stapeln kann. Und das bleibt im ganzen Buch gleich.

 

Setzt das nun jemand als Film um, und es gelingt ihm perfekt, habe ich immer noch ähnliche Assoziationen. Meist ist irgendein schrecklicher Missgriff dabei, wenn ich Pech habe, sehr viele. Dann bin ich enttäuscht und finde den Film furchtbar.

 

So lese ich unheimlich gern und sehe sehr ungern Filme. Manche Hörbücher sind grandios, manche entsetzlich. Denn mit der Stimme des Vorlesers verbinde ich wieder Assoziationen, die dann vielleicht überhaupt nicht zu dem Buch passen und alles überdecken. So kann in meinem Kopf kein Bild entstehen. Und ich brauche Bilder, um meine Umwelt zu begreifen.

 

Im Internet lernte ich in einem Büchertauschforum eine Menge Leute kennen. Wir konnten uns ungestört in einem von uns neu gegründeten weiteren, jedoch privaten Forum unterhalten. Einmal wurde auch thematisiert, dass ich gesichtsblind bin. Alle waren fasziniert von meinen Eindrücken von ihnen. Sie wollten wissen, was ich mit ihnen verbinde. Bin ich grün oder rot? Weich oder sehnig? Nach was schmecke ich? Rieche ich gut? Ich habe geantwortet. Ich glaube, es kam ihnen so ähnlich vor, als erstellte ich ihnen ein Horoskop. Manche waren nicht begeistert, meine Assoziation widersprach ihrer eigenen Vorstellung von sich selbst, hatte nichts mit ihren Lieblingsfarben zu tun, oder sie hassten – im Gegensatz zu mir - Aubergine und Basilikum.

 

Als ich dann diese Menschen das erste Mal in natura traf, war es für mich bei einigen nicht leicht, mich umzustellen. Wie die Personen in einem Buch, die ich dann in einem Film sehe. Aber bei manchen war es auch ganz einfach.

 

Wieder zu Hause hatten sich die Assoziationen, die ich mit einigen von ihnen verband, stark geändert. Insbesondere kam nun eine zusätzliche Komponente dazu: die Stimme. Ich konnte kein Wort mehr lesen, das einer meiner Freunde geschrieben hatte, ohne dabei die Stimme und Intonation zu hören. Und die Geschwindigkeit des Sprechers. Und dabei fühlte ich die innere Bewegung, fühlte er sich gut dabei, wie ging es ihm gerade? Daraus erwuchs in mir ein großes Mitempfinden – ein Mitschwingen. Ich konnte mich sehr gut einfühlen. Bei manchen jedoch gelang mir das nicht. Im Folgenden hatte ich mit letzteren immer häufiger mit Missverständnissen zu kämpfen. Wir redeten bzw. schrieben total aneinander vorbei. Bei denen, wo es gut gelang, konnte ich glaube ich, viel Beistand und Motivation liefern.

 

Die Missverständnisse hatten sich zuletzt gehäuft. Ich habe meine Mitgliedschaft in dem Forum gekündigt.

 

Nun versuche ich es wieder mehr mit Menschen in meiner Umgebung. Ich trage jetzt ein selbst erstelltes Merkblatt bei mir, auf dem einiges zum Thema Prosopagnosie steht. Ich habe es einigen neuen Bekannten prophylaktisch überreicht, falls ich in Zukunft auf der Straße einfach an ihnen vorbeigehe, sie beim Einkaufen nicht erkenne, sie über den Haufen renne und Entschuldigen Sie! murmele (und weiterrenne), und nicht: Ach, Felicitas! Sorry, war so abgelenkt, hast Du inzwischen einen neuen Job? Und wie geht es Kevin und Laura?

 

Diesen Zettel muss ich noch einer Frau geben, mit der ich vor einiger Zeit ein peinliches Erlebnis hatte. Ich war mit meinem Sohn nach einem Kinobesuch unterwegs zur U-Bahn, als diese Dame an uns vorbeieilte und mich mit dunkler Stimme mit Namen begrüßte. Ich grüßte zurück, jedoch ohne Namen. Wie immer. Mein Sohn fragte sehr laut: kennst Du die? Und, da ich inzwischen sehr froh und stolz war, sie nach ein paar Ratterratterklicks in meinen Gehirnwindungen erkannt zu haben, sagte ich mit nicht wesentlich leiserer Stimme zu ihm: Klar, der gehört doch der Blumenladen bei uns. Die Frau drehte sich um und starrte mich entgeistert an, und eilte dann weiter.

 

Logisch, diese Frau hat eine schöne dunkle weinrot-schwarze Ausstrahlung, ist klein und etwas kompakt. Und sie hat eine tiefe Stimme.

 

Und sie hat einen Schal, den sie immer trägt.

 

Und den hat die Frau aus dem Blumenladen nicht.

 

Ergo: es ist nicht die Floristin…

 

Es ist, wie mir siedend heiß bewusst wurde: die Geschäftsführerin des Kulturhauses.

 

Ich lebe nicht mehr in einer cremig-beigen Umgebung. Ich sehe meine Umgebung klar und deutlich. Die Menschen in ihr sind bunt. Sie mögen einen grünen Pullover anhaben, sind aber ein Rosenquarz in einer Quecksilberhülle. Oder ein graublauer Schemen, der nach Schlehe schmeckt.

 

Meine Eltern sind für mich so, wie auf den jeweils letzten Fotos. Wenn ich am Grab meiner Großeltern stehe, sehe ich im Geiste meine Oma, wie sie auf einem Polaroidbild in typischer Pose etwas gebeugt in roter Jacke auf dem Sofa sitzt und Zeitschriften liest, und dabei höre ihre Stimme. Mein Opa sagt immer „Manueleliliebs“, räuspert sich heftig und tätschelt meine Hand mit seiner knochigen, kühlen Altmännerhand.

 

Wenn ich mit meinen Kindern demnächst zum Friseur gehe, werde ich unmittelbar danach ein Foto schießen und es mir aufhängen, damit ich sie auch außerhalb der Wohnung sofort erkenne.

 

Mich selbst im Spiegel erkenne ich jeden Morgen und lächle mir zu. Ich weiß, wer das ist. Ich weiß, wie meine Augen aussehen, und in meiner Vorstellung sehe ich insgesamt noch so aus wie vor 20 Jahren. Immer wieder entdecke ich ein paar neue Fältchen. Aber so ist das halt. Ich bin früher auch schon mal in einem Kaufhaus an einer voll verspiegelten Säule vorbeigekommen und dachte mir: Die Frau da vorne kenne ich doch! Äh, ja, sollte ich vielleicht auch.

 

Meine Freundinnen winken mir zu, wenn ich zum Stammtisch komme, ich muss nicht mehr von Tisch zu Tisch gehen und warten, ob mich eine einlädt, mich dazuzusetzen.

 

In einem Programmheft vom Kulturhaus war ein Foto von mir abgedruckt, darunter stand ein Spruch aus einem Interview mit mir: „Milbertshofen ist wie ein Dorf, wo man alle kennt“. Naja, eigentlich ist es so, dass mich jeder kennt. Und wenn er mich anspricht, dann weiß ich auch wieder, wer das ist. Meistens.

Prosopagnosie - Link zur Webseite, da kann man auch einer Mailingliste beitreten. Sehr sinnvoll, wenn Sie meinen, dass Sie betroffen sind.

Prosopagnosie, Interview am 25.7.2011, M94,5
prosopagnosie-kopie.mp3 [5.0 Mb]
Download

Text von afk M94,5 - Über Prosopagnosie, 25.7.2011
 

Kennen wir uns?

basierend auch auf dem Interview mit mir. Ein Dankeschön an Olivia Mahan!

 


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