Träumen – Meine Reise durch die Dunkelheit
Es ist noch ganz finster. Ich wache halb, und halb noch kann ich den Faden ziehen, an dem der Traum hängt. Ich ziehe vorsichtig, wie ein Angler, der eine noch unbekannte Beute am Köder nagen fühlt, etwas hat sich verhakt an seiner langen Leine.
Ich ziehe und ziehe und spüre, wie die Schnur in jenem alten Hotel hängt mit den hohen Decken, wo es immer dunkel ist und ich in einer schummerigen Abendbeleuchtung durch die hohen Gänge streiche, nicht mehr wissend, ob es wirklich ein Hotel oder die Universität ist oder ein Gebäude, das ich aus einem Film kenne.
So oft schon bin ich dort gewesen, Grand Hotel Budapest oder war es was aus Hogwarts? Irgendwo da könnte der Speisesaal mit den Tausenden von schwebenden Kerzen sein. Und irgendwo ist mein Zimmer, das ich für eine Nacht gemietet habe, und morgen weitermuss.
Leider habe ich vergessen, dass ich zum Abendbüffet gehen wollte, und als ich vom Meer kam, war das Essen schon weggeräumt und ich musste mir in beklemmend lichtlosen Ecken im halb leeren Bazar hinter dem Haus etwas suchen. Viel gab es nicht mehr. Das worauf ich mich gefreut hatte, war schon abgegrast. Aber das Meer, das Meeer war da. Und was braucht man denn anderes?
Auch im Mondenschein rollte es noch unablässig über den Sand, fing aber bereits an, bedrohlich zu wirken, wenn ich länger in die Wogen starrte. Vielleicht zöge es sich zurück und käme als riesengroße Brecher zurück, um mich zu verschlingen. Es wird auch morgen noch da sein, wenn ich wieder weg bin und heiter, friedlich und zuverlässig in gemessenen Wellenschritten ans Ufer schäumen.
Ich aber kam im Dunkeln an und habe es im Dunkeln besucht. Und bei Anbruch des Morgengrauens schon muss ich weiterziehen. In meinen Träumen wird es nicht mehr hell.
Der Schrecken
Er steht im leeren Pool und streicht die Wände. Der Pool ist aus Metall. Ich habe den Werkstattstaubsauger auf den Rand gestellt und reinige hinter ihm den Boden, der voller abgeblätterter Farbfetzen vom alten Anstrich ist. Blau in blau in blau. Lang man hinein, zerbröselt alles noch weiter. Drum sauge ich alles ein. Weg mit Schrecken! Der Saugschlauch ist lang, ich ziehe noch ein bisschen mehr.
Auf einmal kippt der Sauger, er trudelt über den Rand und bevor ich reagieren und ihm schnell noch entgegenkommen kann, donnert er mit enormem Getöse und schallendem Widerhall auf den Poolboden.
Ich sehe wie in Zeitlupe erst die Farbdose aus der Hand fallen und mit einem Knall auf dem Boden aufschlagen, die Farbe spritzt, der Pinsel hat sich klappernd auf der anderen Seite niedergelegt, und in Zeitlupe geht währenddessen der Malkünstler zu Boden. Er schlägt hart mit dem Kopf auf dem Poolboden auf, liegt da und bewegt sich nicht mehr. Aus seinem Kopf tritt ein rotes Rinnsal aus, findet dank der abschüssigen Bauweise direkt den Abfluss.
Schutzwall
Ein Mensch hat sich in sich gefestigt. Er hat Stein auf Stein gelegt, um sich selbst zu befestigen. Er ist seine eigene Festung geworden. Eine unumstößliche Mauer. So fühlt er sich gut. Gepanzert, gewappnet, unangreifbar. Einflüsse von außen wären Gefahr. Es könnte ein Stein wieder herunterzunehmen sein, womöglich an empfindlicher Stelle. In Bauchhöhe, in Flankenhöhe, am Knie. Lieber nicht. Lass mich, wie ich bin. Das ist gut so. Ich weiß, was ich tue.
Er zementiert sich. Drinnen steckt der weiche Kern. Schmort gemütlich im eigenen Saft. Je länger, desto intensiver der Geschmack. Unverwechselbar. Ein hochkonzentriertes Konkokt. Eine alchemistische reduzierte Formel. Nichts fehlt. An alles ist gedacht. Alles ist geklärt. Perfektion, die kaum einer sieht und keiner zu schmecken bekommt.
Faszinierend
Ich trete langsam näher. Ich bin mir nicht so ganz sicher, was ich da sehe. Mein Blick richtet sich nach oben. Ganz hell ist es da, goldenes Licht kommt mir entgegen, flutet nach unten, umhüllt mich und lässt mich durchsichtig werden. Es duftet, ein dünner schmaler Geruchsfetzen zunächst, nach Vanille und einem süßen Aroma wie Sandelholz, ich kann es nicht genau definieren. Es verwandelt sich in eine kräftige Wolke, ganze Schwaden davon wirbeln um mich und beglücken meine Nase und mein Denken. Es riecht nach Frieden und Sorglosigkeit, wie ich sie in meiner Kindheit kannte.
Mein Herz erhebt sich, ich kann es nicht mehr bändigen, es hat sein Eigenleben und beschlossen, hier hält es nichts mehr, es muss, es muss, es muss da hin. Es zieht mich mit so einer Kraft hinterher, dass ich mühelos aus meinen Schuhen schlüpfe, als klebten diese am Boden, und wie am Faden einer Marionettenspielerin nach oben gezogen werde, um das Licht ganz von der Nähe zu sehen. Es ist so hell und so schön! Mir wird ganz warm und freudig. In mir jubiliert es. Ich bin ganz und gar verzückt. Es muss doch mit den Händen zu greifen sein! Es ist so zauberschön, dass ich fast platzen möchte. Wie wunderbar! Ich strecke meine Arme aus und kriege nichts zu fassen. Da ist nichts. Es hat keine Konsistenz.
Gänseklein (15 Minuten Schreibzeit)
Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, gab es bei meiner besten Freundin an Festtagen, wo bei uns eine Weihnachtsgans oder ein Osterbraten auf den Tisch stand, jeweils Gänseklein. Dazu wurde Gänsewein gereicht, aber das war ja wohl nicht dasselbe.
Sie konnte mir nie erklären was das eigentlich ist, aber offensichtlich schmeckte es ausgezeichnet, und sie freute sich immer sehr auf ihr Gänseklein.
Als ich dann meine eigene Küche führte, aber nur ganz erbärmlich verdiente, entdeckte ich, dass es Hühnerklein zu kaufen gab. Erst versuchte ich es damit, die knochigen Stücke zu braten wie ein ganzes Hähnchen, aber das war nicht sonderlich erfolgreich. Die Haut wurde zwar schön knusprig, aber es war halt nichts dahinter.
Schließlich fand ich heraus, dass man damit Suppe kochen musste. Nun waren hunderte von lukullischen Gerichten vorprogrammiert. Egal, welches Gemüse man auch immer verwendete, mit Hühnerklein drin ergab sich immer eine leckere Suppe.
Damals war ich außerdem Spezialistin für Dosenfraß. Mein Freund schenkte mir zum Geburtstag einen elektrischen Dosenöffner, damit ich es leichter hätte. Von da an gab es keine Halten mehr, keine Dose war mir vor mir sicher!
Ich weiß z. B. noch gut, dass ich einmal zu einer Party Gulasch mitbringen sollte. Das beinhaltete eine Handvoll Fleisch und verschiedene Dosen Gemüse, was ich halt gerade so hatte, mindestens Erbsen, Möhren, Mais und rote Bohnen und natürlich ganz viel Speck. Nein, keine Angst, Fenchel oder Artischocken kamen nicht auch noch hinein. Sauerkraut wäre vielleicht sogar eine gute Idee gewesen.
Als ich mit den Kindern später im Sommerurlaub in Spanien war, hatten wir auch so einen kreativen Koch, der kulinarisch nicht mehr wirklich vertretbare Mischungen aus verschiedensten Gemüsen produzierte z.B. kombinierte er gerne Weißkraut mit Rosenkohl oder Brokkoli mit Blaukraut. In der Zwischenzeit hatte ich kochen bereits gelernt und nahm mir naserümpfend nach den ersten Tagen nichts mehr von seinen gemüslichen Exzessen.
Leider habe ich aber in meinem ganzen Leben bislang noch von niemandem Gänseklein angeboten bekommen. Vielleicht ist das heutzutage nicht mehr schick. Außerdem sind Gänse schon fast unbezahlbar geworden. Da trennt man wohl auch die weniger hochwertigen Teile nicht mehr heraus, denn am Stück kommen sie einfach mit auf die Goldwaage.
Popcorn
Wir klappen die Enden der Tüte aus, legen sie in die Mikrowelle, unbedingt mit der richtigen Seite nach oben. Es dauert eine ganze Weile, nichts passiert. Wir fragen uns, ob wir alles richtig gemacht haben. Fast will ich die Tür wieder öffnen und schauen, was los ist, da geht es los. Erst langsam und zaghaft, dann immer mehr. Peng peng peng! Es wird scharf geschossen.
Mein Jüngster versucht, im allerdings unvorhersehbaren Takt mitzuhüpfen. Der Ältere macht mit, dann fange ich an, dazu zu tanzen. Eine Riesengaudi haben wir dabei!
Plötzlich bemerken wir, dass eigentlich nicht mehr viel passiert. Die Geräuschkulisse ist abgeflaut. Nur nicht zu lang, sonst werden sie schwarz und fangen an zu stinken!
Tür auf, raus damit! Aufreißen, voooorsichtig, denn es dampft brühheiß heraus. Vom Körper abgewandt in die Schüssel kullern lassen. Yeah! Gut sind sie geworden, und es sind nur ganz wenige kleine gelbe Kügelchen am Boden der Tüte übrig. Angeklebt, ungeöffnet.
Gierige Hände grabschen in die große Schale und stopfen bergeweise weiße Wölkchen in die kleinen Münder! Wir werden bestimmt nichts übrig haben für morgen und uns überlegen müssen, was wir damit machen. Eine Freundin schlug neulich vor, Reste in den Salat zu kippen. Es sei ja schließlich auch nur Mais.
Warten
Ungeduld. Mein zweiter Vorname. Ich trapple mit den Fingern, wippe mit dem Fuß, kratze mich am Hinterkopf, zupfe an meinen Augenbrauen. Ich möchte aufspringen und was tun, weiß aber nicht was. Ich hab Angst, wenn ich was tue, genau dann, in dem Moment ist es soweit. Wenn ich sitzenbleibe, ist das, wie wenn man der Milch beim Kochen zuschaut, da passiert gar nichts. Es passiert erst und genau dann, wenn man den Raum verlassen hat. Soll ich? Bei Fußballspielen im Fernsehen ist es auch so. Gehe ich aus dem Zimmer, genau dann fällt das einzige Tor im Spiel.
Mein Leben lang habe ich Warten gehasst. Es ist eine Strafe. Seit Zeiten des Handys kann man in diesen Momenten wenigstens irgendwas tun. Davor hatte ich immer ein Buch dabei und schnell was gelesen. Auf diese Weise habe ich Berge von Büchern verschlungen. Nun verschlinge ich Berge von Blödsinn und überflüssigem Wissen oder Unwissen, besonders Unwissen von anderen auf Facebook. Ich schlage meine Zeit tot. Dabei ist der gegenwärtige Moment ja der einzige, den man hat.
Ich versuche, mir mit einer Gehmeditation wenigstens ein bisschen Ruhe zu gönnen. Ich laufe auf Zehenspitzen, gaaaanz langsam, drehe mich, schwenke in die andere Richtung. Gaaanz langsam wieder zurück, diesmal auf den Fersen. Wie fühlt sich der Boden an, wie fühlt sich mein Körper an? Geht man so langsam, vergisst man mitten im Schritt, wie Gehen überhaupt funktioniert.
Ich schaue auf die Uhr. Mist! Jetzt hab ich es doch echt vermasselt! Jetzt ist es bereits 0:02 Uhr in Deutschland. Dein 18. Geburtstag hat bereits begonnen. Fern von daheim hab ich den großen Moment verpasst. Naja, macht nichts. Bei uns scheint die Sonne. Ich werde jetzt mal anrufen. Als Mutter hätte ich eigentlich die erste sein sollen…
Das Geschenk
Was hat sie mir denn da in die Hand gedrückt? Ein schön verpacktes Päckchen, ein auserlesen ästhetisch wirkendes Papier ist drum herum, selbst bemalt. Eigentlich ein schlichtes braunes Packpapier, aber mit verschiedenen Lackfarben ist es so grandios verziert, dass man es eigentlich einrahmen und an die Wand hängen müsste! Altrosa, türkis, hellgrün, rötlich gold, schwarz, dunkelblau, es sieht fantastisch aus!
Das Ganze ist mehrfach umwunden mit einem zerfieselten Hanfgarn, stellenweise eine Kordel, in anderen Bereichen löst sich das Ganze auf. Es sieht aus wie ein Lost Place in Schnurform, ist aber absichtlich so gestaltet, auf extravagante Weise verfallen und exklusiv degeneriert! Wohl mit einer Straminnadel wurden mehrere goldene Fäden in 3 verschiedenen Goldschattierungen hindurchgezogen.
Meine Freundin hat sich wirklich Mühe mit der Verpackung gemacht! Sie macht sich immer viele Gedanken über die Person, der sie etwas schenkt und sucht etwas ganz Spezielles aus. Und sie verpackt es auch auf außergewöhnliche Weise.
Ich bin ganz aufgeregt, habe keine Ahnung, was mich wohl erwartet… Es ist kein großes Päckchen, eher in der Größe eines Buchs, aber viel höher. Es ist relativ leicht, und wenn ich es vorsichtig schüttle, raschelt es sacht. Ich löse ganz behutsam das Band und rolle es vorsichtig zusammen. Dann öffne ich mit Fingerspitzen das Papier, ohne es zu beschädigen, weil ich mir vornehme, es tatsächlich für eine Collage zu verwenden und luge ganz neugierig hinein…
Unglaublich, mir kommen die Tränen… Dass sie daran gedacht hat! Ich umarme sie fest, ganz fest, und mein Herz klopft ihr meine Liebe von Brust zu Brust.
Frühling
Frühling flattert hellblau schmetterlingig durch feenhafte rosa- und gelb getüpfelte Knospenheide, Zirruswölkchen schmelzen sachte am Himmel. Die laue Brise bändelt in die Milchkannen der Sennerinnen und umzipfelt elfenhaft die dankbaren Kuheuter. Bebänderte Negligés in zarten Pastellfarben küssen einander vorsichtig auf der Wäscheleine und rascheln dabei sinnlich verheißungsvoll. Es singt allüberall – unermesslich facettenreich. Ein Frohlocken erhebt sich in die Lüfte, erst zart und behutsam, dann schwillt es an zu einem furiosen Crescendo.
Doch auf einen Schlag fängt alles an zu krächzen, Stimmbänder schmirgeln rauh, falsche Töne und abgebrochene Triolen mehren sich, ein heiseres Raspeln wird laut, die Kolkraben übernehmen das Kommando. Der eben noch so wie eine Fata Morgana erscheinende, goldstaubdurchwehte Sonnenstrahl streichelt nicht mehr faunisch über die kurz zuvor entstandenen Pfützen, das wunderliebsame Geworbel bricht gänzlich ab. Es ist schließlich April.
Ganz unvermittelt verfinstert sich der Himmel. Es kracht und dröhnt, als schlüge man gegen eine biegsame Metallplatte. Schon öffnen sich die himmlischen Schleusen. Die Pfützen werden nachgefüllt.
Flughafen
Majestätische Großvögel. Anflüge. Abflüge. Wartezeit. Die Papierkarte, auf die man gut aufpassen muss. Ausweis herzeigen. Gelangweilt tun. Draußen beim Besteigen des Busses riecht es brenzlig verkokelt, dünn und schroff, kratzt im Hals. Ein typischer Geruch. Stinkt es? Für mich ist es sogar ein schöner Geruch, voller Wehmutswolken. Kerosin. Benzin in Reinhard Meys vielbesungenen Pfützen schillernd wie die Regenbögen. Die Luft knistert.
Verängstigte, aber tapfer sich nichts anmerken lassende Passagiere nehmen Platz, kämpfen mit dem Gurt. Viel zu weit eingestellt beim einen, beim anderen ist die Länge für ein Kleinkind dimensioniert. Alte Hasen tun so, als wären sie in der Passagierkabine aufgewachsen. Süßliches Lächeln mehr oder weniger erfrischender Stewardessen und eines Quotenstewards.
Draußen Gangway, Gepäckverladung, bunt bemalte Maschinen. Die eigene sieht dagegen langweilig aus.
Endlich bin ich hier. Die Entscheidung ist getroffen. Die Reise geht ins Irgendwo. Ich fange an, mich wieder zu fühlen. Ein leichtes Vibrieren in mir. Große Erleichterung. Sie steigt unaufhörlich hoch, möchte sich fast lautstark Luft machen.
Wir rollen. Da kommt der Zebrastreifen. Das Flugzeug galoppiert. Es drückt mich in den Sitz, die Turbinen brausen. Freiheit steht da in Riesenbuchstaben über dem Horizont. Nur ich kann das sehen. Hauptsache, weg von dir.
Abendessen
Ich werde gerufen. Alles um mich liegen und stehen lassen. Aufgeräumt wird später. Treffe ich nicht unmittelbar nach dem Ruf am Tisch ein, führt das zu Diskussionen und verdirbt den ganzen Abend.
Da bin ich also! Schnell den Hocker am Tischende hervorgezogen. Quietschend schrammt er über das Linoleum. Schon sitze ich da, erwartungsfroh, wie auch mir Erwartung entgegengebracht wird.
„En Guätä mitenand!“
Ich greife zu. Beherzt. Reichlich. Das wird erwartet.
Ich kaue gründlich. 20 Mal. Wenn ich erwachsen bin, muss ich dann 32 Mal kauen. Für jeden Zahn einmal. So will es Papas Gesetz. Hier gibt es unsäglich viele Gesetze.
Später werde dann ich sie machen.
Wärme
Wärme ist für mich eine Art Synonym für Heiterkeit, Beschwingtheit, orangerote Farbtöne, Sirren in der Luft wie von Heuschrecken und gelegentlich beinhaltet sie auch knatternde Sonnenschirme. Auf jeden Fall ist es der Geruch warmen Holzes, am besten von Sandelholz. Es ist das Streicheln deiner Hand auf meinem Rücken, auf meinem Bein. Deine Körpertemperatur ist immer höher als meine Unterkühltheit, und das macht sich auch durch den Stoff eines Sommerkleides bemerkbar. Wo deine Hand über mich streift, ergießen sich dunkelrote Wellen mit blassroteren Rändern. Ich sehe Deine Handschrift auf meiner Haut, bis in meinen Rücken hinein.
Wärme ist ein froher Laut, ein Singen, das sich einen Weg durch die Stimmbänder bahnt, obwohl niemand danach gerufen hat. Es ist kaum zu unterdrücken, es summt mich und bricht sich Bahn, es muss hinaus. Es kumuliert in einer eigenkomponierten musikalisch fragwürdigen Sommersymphonie. Mir ist sie schön und dich stört sie nicht. Mit weichen Augen suche ich oben in den Wolken nach einem Zeichen.
Was eine veränderte Aufmerksamkeit mit mir macht (10 Minuten Schreibzeit)
In unserer Sensitive-Dance-Zoomsession heute sollten wir verschiedene Arten der Aufmerksamkeit ausprobieren. Dazu gab es entsprechende Anweisungen. Die ersten beiden Musikstücke für die mäandernde Aufmerksamkeit führten mich quer durch den Raum, ich war mal hier, mal dort, sah aus dem Fenster, entdeckte, dass die Blumen auf dem Fensterbett gewässert werden müssen und brachte die Gießkanne in die Küche, um später nicht zu vergessen, für sie Lebenselixier zu holen. Bei meiner Rückkehr fiel mir das Durcheinander im Raum auf. Ich fing an zu sortieren, denn da lag manches am falschen Platz. Dabei fiel mir sehr störend die dicke Staubschicht auf dem dunklen Holz ins Auge. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und nahm das Staubtuch aus dem Schrankfach. Das schwang ich zumindest im Takt der Musik. Schließlich bemerkte ich jedoch, dass ich nun komplett aufgehört hatte zu tanzen. Ich wischte nur noch. Wie einfach ich mir selbst komplett verloren gegangen war mit dem, was ich eigentlich gerade tat – ich war ja doch in der Tanz-Session!
Beim nächsten Experiment, der fokussierten Aufmerksamkeit, konzentrierte ich mich auf jeweils einen Gegenstand und betrachtete diesen beim Tanz auf der Stelle. Die Arme bewegten sich mehr als die Beine. Ich hielt mich an den gedrechselten Säulen der großen Standuhr fest und spürte das rauhe, alte Holz warm unter meinen Händen. Und plötzlich entdeckte ich einen Lichtstrahl, der aberwitzig ins heute so schummrige Zimmer lugte. Den ließ ich auf mein drittes Auge strahlen, bewegte mich so vorsichtig, dass er mir nicht entkommen konnte. Der Sonnenstrahl wärmte mir die Augen. Nach dem Tanz blickte ich in die Zoomgruppe und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass bei allen anderen nur die Wohnungseinrichtung scharf zu sehen war. Wie sehr ich auch versuchte, mich auf die in der Mitte des Bildes stehenden Menschen zu konzentrieren, da war ein blinder Fleck. Ich war als einzige verblieben, alle anderen waren nur mehr flüchtige Schatten. Ich war also ganz bei mir. Mit mir. Meine treueste Begleiterin.
Mosaik (10 Minuten Schreibzeit)
In fünf Mosaikkursen habe ich gelernt, wie man Scherben zusammenfügt, so dass etwas Einzigartiges entsteht. Die meisten in den Kursen arbeiten so, wie die Anleiterin sich das erhofft. Makellose Kacheln knacken sie mit einer Zange, sie nehmen bunte, dünne Glasplatten und teilen sie gezielt. Sie nutzen eine Vorlage oder haben zumindest einen genauen Plan im Kopf, was dabei entstehen soll: makellose Werke aus möglichst gleichförmigen Stücken.
Was mache ich, zum Entsetzen der Lehrerin? Ich zerschlage die Kacheln mit einem Hammer und lege flink, was mein Farbensinn und meine Intuition mir vorschlagen. Ich nehme die Behälter mit Reststückchen, Abfallprodukten der Werke der anderen, kleine Unikate mit außergewöhnlichen Rändern, und dekoriere damit Holz, Borke oder einen interessanten Stein. Ein paar Olivenbaumblätter und Samenkapseln der Jungfer im Grünen dürfen schon auch mal mit drauf. Die Arbeitsweise der anderen ist mir zu steril, zu seelenlos. Sie würde mich einfach zu sehr einengen, denn ich mag mich nicht selbst schematisieren. Dieses Recht gebe ich ja schließlich auch keinem anderen.
Gestern habe ich einen in zig Bruchstücke zerplatzen Teekannendeckel mit Goldplättchen und Mosaikkleber „restauriert“. Nun sieht man ihm an, dass er schwer gelitten, aber gerade noch mal Glück gehabt hat. Da geht es ihm genau wie mir. Auch ich bin bei meinem Unfall in Scherben gegangen und wurde nochmal wieder zusammengeflickt. Meine „goldenen“ Nahtstellen trage ich mit Stolz. Und wäre der Teekannendeckel, der bereits der zweite für diese Kanne ist, die mir jemand Besonderer geschenkt hat, nicht entzwei gegangen, so hätte er nicht so perfekt Platz in meinem jetzigen Leben. Er stammt aus meiner Jugend, wo ich unbeschwert und leicht war. Aber seit gestern ist er in mein neues Leben herübergekommen und ist nun einer wie ich.
Ich werde mir bewusst: Tatsächlich, dieser Bruch war nötig, denn erst, wenn alles völlig umgeordnet und neu zusammensortiert ist - die Bruchstücke aller meiner Mosaike, die der Teekanne und auch meine eigenen Knochenfragmente – ergeben sie wie ein Puzzle etwas Neues, und jetzt erst, in der neuen Gestalt, kann man endlich erkennen, was das Ganze darstellt.
Kleidung
Für viele ist Kleidung etwas, das einfach zweckdienlich sein muss. Zum Beispiel für meine Freundin, die sehr viel reist. Sie hat immer nur kleines Gepäck, da braucht sie an Flughäfen nicht lange zu warten. Ihr Outfit muss für die unterschiedlichsten Umstände tauglich sein, zusammenrollbar, unverwüstlich, geruchsneutral, richtig niedrigen Temperaturen trotzend oder evtl. muss man ja auch mal hüfttief durchs Wasser waten. Andererseits könnte es auch plötzlich warm werden. Auch dafür ist sie ausgerüstet. Sie knöpft einfach 4 Schichten der Funktionsbekleidung heraus.
Bei mir ist Kleidung ein Ausdruck meiner selbst, quasi als Gesamtkunstwerk. Ich kleide mich nach der aktuell von mir empfundenen Tagesfarbe, schön, fließend, farbig, freudig, dafür möglicherweise ziemlich unpraktisch. Eine Freundin staunte, dass ich solchermaßen gewandet auch meine Putzarbeit erledige. Oder einkaufen gehe. Im Paillettenkleid, wenn es denn sein muss, denn dann war mir an dem Tag festlich zumute. Ich ziehe an, was mir gefällt, mache meine eigene Mode, richte mich nicht nach dem, was die anderen gerade für unabdingbar angesagt halten. Ich genieße die Welt und ihre Möglichkeiten. Und mich.
Heimgehen
Heimgehen kann für manche eine Erlösung sein, die es draußen oder gar im Urlaub nicht mehr aushalten. Sie freuen sich auf ihre schummrige Höhle oder ihr geordnetes kleines Reich, sie können es gar nicht mehr erwarten, den BH runterzureißen, die Schlabberhose anzuziehen, ihre Beine endlich hochzulegen oder den Kühlschrank zu plündern. Auf manche der freudig wedelnde Hund bzw. die schnurrende Katze. Auf andere ihre Lieblingsserie.
Andere jedoch machen sich auf ein Donnerwetter bei Vatern gefasst oder das Nudelholz ihrer Privat-Xanthippe oder fürchten sich vor dem herrschsüchtigem Gatten, so dass sie am liebsten für immer wo anders blieben, wenn sie denn wüssten, wo sie in Sicherheit wären.
Unter Umständen bedeutet heimgehen auch: heim in eine Welt jenseits der unseren. Zu dem, was ein Geistlicher ihnen versprochen hat, oder auch dahin, wo sie in der Tiefe ihres Herzens zu gehören glauben. Und auch hier kann man sich drauf freuen oder voller Angst hoffen, dass dieser Tag niemals kommt.
Halten wir es wie E.T. – probieren wir erstmal zu telefonieren, ob wir dort überhaupt noch erwünscht sind! Und wenn nicht… dann einfach noch ein bisschen länger draußen bleiben.
Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz (10 Minuten Schreibzeit)
Er nahm den dicken schwarzen Stoff seiner Hose in die Linke und versuchte mit der rechten, mit den Fingernägeln diesen Fleck herauszuschaben. Oh nein, es bröselte kein bisschen, vielmehr war der Fleck ziemlich feucht und unangenehm. Immerhin nicht besonders groß. So nahm er kurzentschlossen seine ebenfalls schwarze Jacke und band sie sich mehr oder minder elegant um die Hüften, um die unerfreuliche Stelle abzudecken. Allerdings war es ihm nun eine Spur zu kühl. Aber egal, die zwei Kilometer würde er schon aushalten. Außerdem wird es einem warm, wenn man länger geht, redete er sich ein.
Er marschierte schnurstracks nach Hause, ohne weiter links noch rechts zu schauen. Die Distanz machte ihm doch ein bisschen zu schaffen, aber schließlich bog er in seine Straße ein. „Grüß Gott, na auch unterwegs?“, erschreckte ihn ein Nachbar. Mit gesenktem Kopf hastete er eilig an ihm vorbei, jetzt in ein Gespräch verwickelt werden wollte er keinesfalls.
Erlöst drehte er schließlich den Schlüssel im Schloss und betrat seine Wohnung. Als erstes kam eine kleine Eingangshalle, dann das Wohnzimmer mit dem schönen Teppich, und dahinter lag ein weiterer Flur, der endlich ins Badezimmer mündete. Dort zog er die Hose aus und betrachtete den Schaden. Sein Oberschenkel blutete stark.
Nun wurde er sich bewusst, dass er eine dünne rote Linie durch alle Zimmer und vermutlich den ganzen Weg bis nach Hause getröpfelt hatte. Er war auch sehr entkräftet, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, gleichzeitig fühlten sich seine Hände eiskalt an. Am liebsten wollte er sich nur noch hinlegen.
Und jetzt, beim Anblick der Wunde, überfiel ihn plötzlich der Schmerz wie eine glühend heiße Wand aus Lava. Den hatte er bisher ausblenden können. Wahrscheinlich war es der Schock nach der Begegnung, der ihn gnädig am Funktionieren gehalten hatte. Aber auf einmal war das Gefühl da, bohrend, reißend, verheerend, das Bein fing an zu pochen und zu zittern, und die ausgestandene Angst wogte ein zweites Mal über ihn hinweg wie die Brandung damals in Venezuela, die ihn einfach auf die Felsen geschleudert hatte.
Die blaue Wand
Erschöpft, aber zufrieden legte er den Pinsel aus der Hand. Endlich war er fertig geworden. Seit Tagen hatte er an dieser Wand gearbeitet. Erst hatte er an einem sehr heißen Tag die alte Farbe abgeschliffen, was nicht einfach war, da die Bretter nicht gerade, sondern bereits durch die Witterung in sich gerundet und verbogen waren. Außerdem schwitzte er fürchterlich, und durch die Hitze fiel er mehrfach fast von der Leiter. Sie machte ihn ganz benommen.
Als nächstes hatte er dann einen Nachmittag lang mit dem Kärcher den ganzen Staub abgewaschen.
Als alles getrocknet war, hatte er gesehen, dass an einigen Stellen immer noch große, runde Farbflecken wie Pockennarben auf der Wand glänzten, und so schloss er noch einen zweiten Schleifgang an. Daraufhin musste noch mal gewaschen werden, und dann endlich durfte er mit der blauen Farbe streichen.
Nicht einmal umrühren musste man die Farbe. Sie strich sich fantastisch. Tropfte nicht, deckte wunderbar, es war die reine Freude, den Pinsel zu schwingen. Da er aber derartige Arbeiten nicht gewohnt war, strengte es ihn trotzdem ziemlich an, und am Abend fühlte er sich ausgelaugt. Außerdem bemerkt er, als er ins Bett stieg, bereits einen ordentlichen Muskelkater.
Über Nacht hatte es zu regnen begonnen, und die Temperatur war auf nur 9 Grad abgesunken. Das war nicht mehr lauschig, das Arbeiten auf der Leiter machte heute keine Freude, es war vielmehr eine Tortur. Er hatte kein passendes Outfit, und so befürchtete er, sich zu verkühlen und die Brust tat ihm bereits weh. Ob vom Muskelkater oder vom eisigen Wind? Pflichtschuldig strich er die zweite Hälfte der Wand, aber die Wand war lang und wollte kein Ende nehmen.
Als er hineinging, um sich einen heißen Tee zu machen, hustete er zum ersten Mal. Es war ein langer Hustenanfall. Ungewöhnlich schlimm. Es tat richtig weh. Drei Tage später brach er zusammen. Er schaffte es nicht mehr ins Krankenhaus.
Tafelsilber (10 Minuten Schreibzeit)
Als ich klein war, war ich zuständig für das Silberputzen. Wir hatten silbernes Besteck, das sehr gerne gelb anlief, und wenn man länger nicht drauf aufpasste, sogar schwarz. Da musste mit einem speziellen Tuch poliert werden, was das Zeug hielt, damit es nicht so unschön aussah. Schließlich wollte man sich auch nicht dran vergiften. Ich stellte mir vor, die schwarzen Flecken seien giftig wie Quecksilber. Die schwarzen Flecken färbten dann auf das Silberputztuch ab und auf meine Hände. Außerdem roch das auch noch ungut. So ausgiebig wie nach dem Silberputzen habe ich meine Hände sonst nie gewaschen.
Das Dumme beim Silber war, dass man silbernes Besteck nicht in saure Saucen stellen durfte, weil es sich sonst ablöste und man das Silber womöglich mitaß, und auch nicht damit Kohl essen sollte, weil der es angeblich schwarz anlaufen ließ. Auch Kartoffeln durfte man nicht mit dem Messer schneiden, a) wegen Knigge und b) wegen Anlaufen. Wenn eine Frau ihre Tage hatte, durfte sie auch nicht mit silbernem Besteck essen, weil man dann Schwefel ausdünste, und dann würde das Besteck auch wieder schwarz.
Immer mal wieder wurde das Besteck zusammen mit unseren Ringen und Alufolie in einem Topf mit Wasser eine Weile gekocht, dadurch wurde alles wieder schön silbern, was ich vorher nicht so gut hinbekommen hatte. Die silberne Teekanne passte nicht in den Topf, an der zeigte sich immer ganz gut meine Unfähigkeit. Ich war halt einfach nicht ausdauernd genug. Meine Mutter meinte, man sähe schon, ob jemand seine Arbeit mit Liebe machte oder nicht. Und ehrlich, ich liebte diese Teekanne nicht so arg.
Was alles von den Anweisungen Ammenmärchen sind, habe ich nicht überprüft. Ist mir auch nicht mehr wichtig, denn inzwischen habe ich zwar normales Besteck, um das man sich nicht kümmern muss, aber das von mir noch verwendete Silber ist wohl in einem Zustand, wo es sich nicht mehr weiter verschlimmern kann. Selbst wenn man im Fall von Kartoffeln auf Knigge pfeift. Wahrscheinlich ist nur noch Alufoliensilber drauf. Der Rest dümpelt ja vielleicht in meinem Magen. Ich stelle mir vor, wie ich innerlich glänze wie ein wunderschöner Spiegel.
Mal wieder Busfahren (15 Minuten Schreibzeit)
Marlon war schon ewig nicht mehr in einen Bus eingestiegen. Heute Abend musste er nach Trudering, aber sein Auto hatte leider nicht anspringen wollen. Erst wollte er den ADAC rufen, aber um diese Zeit käme der wohl erst sehr spät. Es war noch zu viel los auf den Straßen. So beschloss er also, es doch mal wieder mit dem Linienbus zu probieren. Schließlich fuhr der genau da hin, wo er hinmusste, und einen Parkplatz suchen brauchte er dann auch nicht.
Als er den Gang im Bus entlang ging und all die abweisenden Gesichter der Fahrgäste sah und den Geruch einatmete, der von einigen sehr unangenehm aufstieg (Marlon war da hoch empfindlich) wurde ihm schon ganz anders. Die Haltestangen, an denen er sich beim Vorwärtsgehen festhielt, klebten und waren verschmiert. Eklig war das. Der einzige freie Platz schien der über dem Rad zu sein. Diesen Platz hatte er noch nie leiden können. Es war so unangenehm hoch und man saß da beengt und in Habachtstellung. So als wäre man gerade noch geduldet und nicht vollwertig.
Er hatte eine Zeitung dabei und las, als der Bus sich der U-Bahnbaustelle für die neue Linie nach Riem näherte. Trudering also schon. Nicht mehr lang und er würde erlöst sein. 18 Uhr 46.
Auf einmal hatte er das Gefühl, zu fallen, mitsamt dem Bus. Die Passagiere schrien lauthals und panisch. Das Gefühl trog nicht, sie fielen tatsächlich, und das sehr tief. In einem Sekundenbruchteil, als Marlon von der Zeitung aufsah, sah er draußen vor dem Fenster plötzlich Betonstücke, Kies und Erde neben sich, und dann tat es einen fürchterlichen Schlag, wie eine Explosion. Ein grauenvoller Schmerz durchfuhr Marlon, er wurde auf seinem zerborstenen Sitz direkt unter das Dach des Busses katapultiert, war der Länge nach dorthin genagelt mit dem massiven Rad direkt unter ihm. Sein ganzer Körper schien zerquetscht zu sein.
Um ihn herum Geschrei, Stöhnen, Schmerzenslaute, Kinderweinen, Frauenweinen, Männerweinen, panische Stimmen, Geräusche von weiterhin zusammenbrechenden Haltestangen, Dachteilen, zerbrochenen Sitzschalen, die noch weiter nachgaben. Glassplitter waren durch den Bus geflogen, die Fenster waren zertrümmert und zackige Reststücke steckten in den völlig verbogenen Fensterrahmen.
Marlon konnte nicht sehen, was im Inneren des Busses vor sich ging. Sein Blick war aus dem Fenster gerichtet und er konnte den Kopf nicht mehr drehen, wahrscheinlich waren seine Wirbelkörper nur noch Fragmente. Neben ihm Kies und alles voller Wasser. Seile, die Helfer von irgendwo hinunterließen. Offenbar war es etlichen Menschen gelungen, den Bus irgendwie zu verlassen. Sie wurden mit den Seilen um den Brustkorb nach oben gezogen.
Niemand kümmerte sich um Marlon, jeder war mit sich selbst beschäftigt. Wasser flutete in den Bus und fing an, Marlon da oben an der Decke zu umspülen. Es wurde ihm so kalt, er zitterte und spürte seinen zerschmetterten armen Leib bald nicht mehr. Dann trat das Wasser in seine Nase ein, das war es dann. Neurologische Fehlzündungen in seinem Gehirn ließen ihn ein gleißendes Licht sehen, bevor alles für immer aus seinem Wahrnehmen verschwand.
Erst acht Monate nach dem Unglück vom 20.9.1994 fand man seine Leiche im Truderinger Loch. Da er ansonsten nie mit dem Bus fuhr, war niemand auf die Idee gekommen, ihn ausgerechnet hier zu suchen, wiewohl er von seinem Bruder und ein paar Freunden vermisst wurde. Aber er war ja stets ein ziemlich undurchsichtiger Mensch gewesen. Mit seinen 27 Jahren hatte er schon verschiedene seltsame Aktionen hinter sich, und so ziemlich jeder hatte ihm zugetraut, einfach auf Reisen zu gehen, ohne irgendjemanden zu informieren.
Befremden
Was versteht man unter diesem Wort? Ist es überhaupt ein Substantiv? Das Befremden, das ihn befiel. Überfallartig. Mit Befremden. Mitbefremden, mitbe fremden, mitbefrem den. Das klingt so wie etwas Türkisches. Oder, wenn ich es mir genauer überlege: wie das, was der Türke an der Dönerbude sagt: „mit alles? Mit scharf oder mit ohne scharf?“
Auf jeden Fall hat es eine Konnotation von Fremdenfeindlichkeit. Das Fremde sieht dieses Wort als etwas Unangenehmes, was auch das Fremdeln beim Kleinkind ausdrückt. Oder ist dieser Begriff vielleicht vielmehr ein Verb? „Ich befremde mich“, so ein Wort wie „ich befreunde mich“. Das hieße dann aber eher ich ent-fremde mich, gefühlt so etwas wie ich ent-freunde mich. Oder eigentlich dann dich. „Ich betschüsse mich“, sagte ein Freund immer beim Heimgehen.
Befremden ist, so wie ich das empfinde, ein befangenes Wort. Es ist seltsam belegt, wie eine belegte Zunge, mit der spricht man dann befremdlich, und wenn man sie rausstreckt - ganz weiß - macht man sich Freunde zu Fremden.
Irgendwie ist es ein aus der Art geschlagenes Wort, das sich nicht richtig einreihen lässt. Es neigt sich schräg in seltsamem Winkel aus der Reihe. Nach hinten geneigt. Überheblich und etepetete. Steif und arrogant. Es weckt in mir Befremden. Eigentlich hat es dann damit sein Ziel erreicht: Punktlandung.
Besuch im Pflegeheim (15 Minuten Schreibzeit)
Lange hatte ich gezögert, mit schlechtem Gewissen. Endlich habe ich einen Tag gefunden, an dem ich sonst nichts Wichtiges vorhabe, egal wie es ausgeht. Zehn Minuten oder drei Stunden. Ich besuche die ehemalige treue Zugehfrau meiner verstorbenen Mutter im Pflegeheim. Ein Parkplatz findet sich direkt, ein gutes Omen, denke ich. Im Heim verlaufe ich mich zunächst, ich weiß nämlich nicht, wohin, und dann sagt man mir, die gesuchte Dame sei gar nicht bei ihnen. Nach einem Telefonat stellt sich aber heraus, doch die ist im anderen Stockwerk.
In der Teeküche soll sie sein. Ich gehe hinein, etwa acht ausdruckslose Gesichter brüten dumpf vor sich hin, zwei schauen mich kurz an und wieder weg. Welche von denen könnte es sein? Frau E. hatte immer einen wilden Lockenkopf. Hier sitzen alle mit bravem weißem Topfschnitt und Seitenscheitel. Die Hälfte fällt weg, das sind Männer. Die anderen? Ich muss fragen. Man zeigt sie mir. Sie kennt mich nicht.
Ich rücke mir einen Stuhl hin und versuche, ein Gespräch mit der Dame zu führen. Das heißt, ich rede und sie schaut vor sich hin. Sehr gelegentlich murmelt sie etwas über einen Arzt, der hier sei und aber nicht immer hier sei. Das trägt zum Gespräch wenig bei. Ihre Stimme ist total verhuscht und furchtbar leise. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit der richtigen Person spreche. Nichts an ihr erinnert an die mir bekannte, liebe, rigorose Frau, die mir immer Käse-Sahne-Torte zum Geburtstag gebacken hat. Eine ganze. Die mein Meerschweinchen betreut hat, als ich klein war, die 30 Jahre bei meinen Eltern gearbeitet hatte.
Ich zeige ihr verschiedene Bilder, von mir, wie ich noch jung war und meine lange braunen Indianermähne hatte. Von unserem Haus. Von meiner Mutter, von meinem Vater. Von meinen Söhnen. Schließlich von meinem Ex. Ich sage dazu, meine Mutter wollte ja nicht, dass ich den heirate.
Plötzlich ist das Licht angegangen in Frau E. „Deine Eltern, die hatten ja schon die Weisheit mit Löffeln gefressen. Die waren von allem schon sehr überzeugt. Mit dem Herr Doktor ging es ja noch, mit dem bin ich zurechtgekommen, aber die Frau Doktor konnte schon anstrengend sein. Du solltest ja den Prinz Charles heiraten, ich weiß noch. Aber du warst oft ganz schön stur. Das war auch gut so. Wenn man bei denen nicht stur war, ist man nicht weit gekommen“
Sie ist wieder da, wie schön! Leider gibt es jetzt Essen. Ich störe da bloß. Ich habe ein Bild mitgebracht, das ich ihr zur Erinnerung in ihr schönes, sonniges Zimmer bringe. Während ich es mit der Schwester aufhänge, frage ich nach. Nein, von den etwa 20 Verwandten (von denen ich weiß) seien bisher erst zwei zwei- oder dreimal dagewesen. Und das in fünf oder sechs Monaten. Die Tochter, die sie angeblich habe, sei überhaupt noch nie dagewesen. Sowieso erkenne die Frau E. nie jemanden. Man könne nichts mit ihr reden, sie verstehe gar nichts, sie wisse nichts mehr, sie erinnere sich an nichts.
Zum Abschied gebe ich ihr die Hand. Die hält sie mit großer Festigkeit und sagt von ganzem Herzen „bleib mir gesund, Manela!“. Da muss ich sie umarmen, mir egal, wer jetzt alles blöd schaut. Sie weint. Ich weine. „Komm recht bald wieder, Manela!“ und zum Abschied winkt sie mir durch die Glastür. Nach einer Stunde 15 Minuten fahre ich nach Hause, den Kopf voller Erinnerungen.
Freunde
Die Tür geht auf. Er schlurft herein, ganz geknickt. Ich umarme ihn fest. „Das tut soo gut“, sagt er mit einem tiefen Seufzer und lehnt sich gegen mich, als wäre ich der Fels in der Brandung, die Rettungsboje, das einzige, was ihn noch stützen kann.
Wir kennen uns schon seit Jahren, und immer sind wir auf gleicher Wellenlänge, wir schwingen zusammen, wir verheddern unsere Gedanken zusammen und entknoten sie in Lichtgeschwindigkeit, wir lachen, wir liegen vor Lachen fast am Boden, dann wieder sind wir ernst und wälzen Gedanken, die sonst keiner von uns hört. Er bringt mich weiter, und ich bringe ihn weiter. Wir ergänzen uns. Wir verstehen genau, was den anderen bewegt. Er muss den Satz gar nicht zu Ende bringen.
Es gibt aber auch Tage wie heute, da sehen wir uns in die Augen und etwas darin sagt uns, der andere ist nicht in Ordnung, die Haut über seiner Seele ist hauchdünn und könnte jeden Moment aufreißen. Und unser beider Augen füllen sich mit Tränen. Wir schniefen zeitgleich.
Ja, diesmal ist es eine ernste Geschichte. Das habe ich schon am Telefon erfahren. Und wenn ich ihn mir so anschaue, wie er abgenommen hat, und mit einer neuen Frisur signalisiert, sein Leben hat sich mal wieder komplett gedreht, dann bin ich mir nicht sicher, ob uns das diesmal enger zusammenschweißt oder ob die Wege ihn auf ein Terrain führen, das ich selber nicht betreten würde.
Aber eins ist sicher: ich werde weiterhin da sein, wenn er mich braucht. Genauso wie er das für mich wäre.
Ashe Reshteh
Die kennt Ihr wahrscheinlich noch nicht. Es handelt sich um eine persische Suppe, besser gesagt, einen ziemlich zähflüssigen, würzigen Eintopf. Da befindet sich alles Mögliche drin – natürlich Zwiebeln und Kurkuma, dazu jede Menge getrocknete, angebratene grüne Kräuter, so etwas wie Petersilie, Spinat, vielleicht Bockshornklee, der iranische Schnittlauch, der platt und breit ist… Dann diverse Bohnenkernsorten, dicke, weiße, braune, grüne, sowie Kichererbsen und Linsen. Allesamt nicht so weich gekocht, sondern fast noch leicht knackig, und, was dem Ganzen den Namen gibt: Reshteh, das ist sowas wie Spätzle, also eine Art von Nudeln. Und die dafür sehr weich gekocht. Außerdem wird gewürzt mit Kashk, das ist eine getrocknete Flüssigkeit aus saurer Ziegen-, Schafsmilch oder Pferdemilch. Die trocknet man in Kugelform, was zu fast ewiger Haltbarkeit führt. Wird Kashk wieder in Wasser eingeweicht, ergibt das dann die Zutat. Ash heißt übrigens Suppe, ein E wird an Substantive angehängt, um aus zweien davon einen zusammengehörigen Begriff zu machen. Das E wird auch an den Vornamen hingehängt, wenn er zusammen mit dem Nachnamen fällt.
Die Haupteigenschaft von Ashe Reshteh, die noch mit gebratenen Knoblauchstücken oder Röstzwiebeln und angerösteter Minze garniert wird, ist, dass sie ziemlich blähende Effekte hat. Man isst sie, wenn jemand eine Reise antritt, gemeinsam mit vielen anderen Menschen, die ihm Lebewohl wünschen. Dann bekommt er durch die Suppe entsprechend Rückenwind, um beschwingt nach Hause zu düsen, sagte meine iranische Schwiegermutter. Fröhlich knatternd durch die Lüfte oder so. Die anderen sind dann froh, dass er weg ist, und essen am nächsten Tag noch Ash poshte sar – was übersetzt Suppe hinter dem Rücken bedeutet. Wer weiß, was sie dann alles über denjenigen sprechen, der gerade mal nicht da ist!
Tropfen triefen, Tropfen klopfen (10 Minuten Schreibzeit)
Mein Gemüt ist heute ganz bedeckt, ja sogar verregnet. So wie es von draußen hereinschallt, so reflektiert es von innen. Und von außen rauscht es heute. Es strömt vor Regen! Die berühmten Katzen und Hunde trommeln aufs Dach. Es ist ekelhaft unfroh da draußen, und das hat seinen Effekt auf meine Laune. Ich bin ein Sonnenmensch, dann kann ich gut Wetter machen, gute Miene zu bösen Spielen und aus meiner eigenen Mitte heraus strahlen. Aber heute…
Ich schaue hinter der sicheren Verglasung hinaus. Eine weiße Wand wälzt sich durch meinen Garten, die Bäume und Sträucher drehen und wenden sich in einem wilden Windtanz, die Natur lässt alles Angewurzelte die Oberhand kräftig spüren. Auf einmal sehe ich, wie diese Wand anfängt zu wandern, sie zieht von rechts nach links über meine Terrasse hinweg, gerade so als wäre sie ein theatervorhangförmiger Geysir. Allerdings kommt das Wasser von oben. Es spült alles hinweg, was sich aberwitzig in den Weg getraut hat. Derzeit eher weniger Insekten und Ameisen als sonst, die haben längst Reißaus genommen, dafür aber haben einige Schnecken gewagt, sich in den Weg zu stellen, und das bekommt ihnen schlecht. Sie werden hinweggekärcht und krümmen sich danach sicher schmerzhaft getroffen. Vor allem die hässlichen braunen, so ganz ohne schützendes Häuschen.
Die Regenwand wandert langsam aber stetig, und dahinter: nur noch vereinzelter Tropfenfall. Die Sonne kommt sogar sofort heraus und kreiert eine wahre Farbenexplosion verschiedenster Grüntöne, während vorne noch die Wasserwand meine Hauswand nicht erreicht hat. Car wash! Garden wash! House wash! Jetzt prasselt sie mit vollem Ungestüm auf das Dach, mäht drüber hinweg mit einem wahnsinnigen Getöse, als wäre die Abdeckung aus purem Blech.
Und plötzlich ist Stille, Friede, Freude Eierkuchen. Ein paar harmlose Tropfen fallen nicht mehr gongschlagartig, pflatschend, sondern liebevoll tupfend auf den Pool, der soeben noch geschäumt hat, als hätte man Spüli hineingekippt. Ein Regenbogen offenbart sich über dem Dach gegenüber und ein freudiges Geräusch folgt seiner Bahn in den Himmel. Ich stelle erstaunt fest, dass das Geräusch aus meiner Kehle kam. Meine Mundwinkel sind dem Geräusch gefolgt und zeigen nach oben. Wie einfach es ist, mich wieder glücklich zu machen! Licht ist so wichtig! Meine Sonnenfrau kommt aus dem Wetterhäuschen und verweist den Miesmacher-Regenmann in den Hintergrund.
Sich schnell fertig machen (10 Minuten Schreibzeit)
Himmel, schon so spät! Sie hatte den ganzen Vormittag im Bett vertrödelt, und plötzlich fiel ihr ein, dass sie ja um 12 Uhr verabredet war. Sie glitt in Affengeschwindigkeit aus dem Bett, soweit dies in ihrem Alter möglich war, taumelte noch etwas unbeholfen barfüßig aufs Klo, danach ins Bad, drehte den Brausekopf an, während sie ihren Pyjama auszog. Splitternackt die Zahnbürste benetzen, eine erbsengroße Zahnpastasträhne draufgetupft, putzen, Handtuch von der Aufhängung reißen, probieren, ob das Wasser warm würde. Noch Zeit zum Putzen. Es dauerte immer so lange, bis es durch die Rohre in ihr Bad kam.
In die Küche, einen Kaffee machen!!! Wat mut, dat mut. Geht das nicht schneller?
Zurück im Bad, inzwischen mit den Zähnen fertig, Mund abwaschen, Augen, Stirn, Wangen, ab unter die Dusche. In Nullkommanix die Problemstellen einseifen und wegduschen. Wasser aus und raus, abtrocknen.
Mit umgewickeltem Handtuch ins Schlafzimmer, sich kurz aufs Bett legen, um die Wassertropfen vom Rücken auch wegzukriegen. Unterhose, Hose an. Vorhang auf, wie sieht es draußen aus? OK, ganz passabel. Pulli mit kurzen Ärmeln geht heute. Halt, während das Ding noch um den Hals hängt, schnell noch Deo nehmen! Mit den Armen reinschlupfen.
Nochmal ins Bad, Gesichtscreme verwenden, in 2 Minuten die Übungen für den Hals und die Decolletépflege drauf. Augen schwarz umranden. Mit dem grobzinkigen Kamm durch die Haare.
Schnell in die Küche. Das Kaffeewasser ist inzwischen zum Glück heiß. Auf den Knopf drücken, da trödelt er lahm in die Tasse, als hätte man alle Zeit der Welt. Süßstoff und viel kalte Milch rein. Die Spritzer wegwischen. Die Hälfte des Kaffees schnell runterschlucken.
Im Gang Schuhe an. Socken vergessen. Jetzt geht’s aber nicht anders. Jacke an. Alles dabei? Handtasche mit Handy, Geld und Schlüssel in der Hand. Passt. Alle Fenster zu? Nochmal kurz durchs Haus wetzen. Schlafzimmerfenster war noch auf. Gut, dass sie geschaut hat!
Und jetzt los. Perfektes Timing. Keine Minute zu früh. In drei Minuten wird sie am Treffpunkt sein.
Da klingelt ihr Handy – die Freundin hat es zeitlich nicht geschafft, kommt erst in 15 Minuten.
Eine alte Puppe
Knarzend öffnet sich die Tür aus Holzlatten, die in das verstaubte Reich längst vergessener Schätze führt. Spinnweben streifen mir durch die Haare, es riecht muffig und nach Stockflecken. Beim Gehen wirble ich Staub auf, der in den Sonnenstrahlen, die durch eines der beiden kleinen Dachfenster hineinfallen, tanzt. Viele überflüssige Dinge sind hier verstaut, ein alter kaputter Staubsauger, Dutzende von Kartons von Elektrogeräten, deren Garantie seit Jahrzehnten abgelaufen ist, alte Töpfe und Weckgläser, Dinge ohne Belang, lieblos verstaut, entsorgt bis auf Weiteres, und das Weitere ist dann nie gekommen.
Lederne Koffer, noch ohne Rollen. Ich öffne eine Kofferschnalle, nach einigem Hin- und Herruckeln springt sie widerwillig auf, dann die zweite. In dem Koffer ist ein seltsamer Fund: Kinderkleider, alle rosa, in verschiedenen, längst verblassten Farbnuancen. Die Mottenkugeln haben jedoch gut gewirkt, die Sachen riechen grässlich, mir wird ganz flau im Magen.
Ich ziehe ein paar dieser Sachen hervor und begutachte sie. Darunter kommt eine nackte, verfleckte Puppe zum Vorschein. Ihre Frisur ist nur aufgemalt. Es ist eine wirklich alte Puppe. Auf einmal erinnere ich mich, als wäre es gestern. Dorle hieß sie. Ich habe sie geliebt. Jede Nacht leistete sie mir Gesellschaft. Jeden Tag nahm ich sie überallhin mit. Sie war mein einziger Spielkamerad. Bis zu dem Tag, als sie sie mir weggenommen haben, mir die langen Haare abgeschnitten und mir neue Kleidung hingelegt haben. Zum ersten Mal bekam ich lange Hosen statt der bequemen Röckchen. Ab sofort musste ich blau oder braun tragen und scheußliche dunkelkarierte Hemden, genau wie die anderen Jungs. Ich habe die Schule schon gehasst, bevor ich am nächsten Tag überhaupt hingebracht wurde.
Der mysteriöse Fall des schwebenden Eichhörnchens
Als ich von meinem Schreibtisch aufblicke, sehe ich gegenüber ein Eichhörnchen in der Baumkrone der Kastanie herumturnen. Blitzschnell rennt es den Stamm hinunter, um im nächsten Moment wieder mit einem trockenen Ästchen im Maul zurückzukommen. Ich beobachte sein fleißiges Hin- und Her und bin ganz begeistert von seinem Arbeitseifer und Elan. Ganz im Gegensatz zu mir, die ich gerade eine Pause dringend nötig habe.
Das kleine Tierchen ist so emsig, gar nicht zu bremsen. Bestimmt baut es an einem Kobel für den Winter. Eigentlich ist es schon reichlich spät im Jahr, denn man kann ausgesprochen gut in den Baum hineinsehen, die Blätter sind ohnehin den Miniermotten zum Opfer gefallen und schon frühzeitig abgefallen.
Der putzige kleine Geselle springt und fliegt abwechselnd durch die Lüfte. Wie er so senkrecht nach oben sausen kann! Der Baum ist schon ganz schön hoch, obwohl er erst 35 Jahre alt ist. Den hat nämlich der Nachbarssohn gesetzt.
Huch, was ist denn das? Das Eichhörnchen ist zu einem Nachbarsbaum gesprungen, aber in der Mitte zwischen den beiden Bäumen steckengeblieben. Mitten in der Luft. Da hängt es nun, als sei der Film gerissen, wie ein Standbild auf dem Videorekorder. Ich verstehe es nicht. Es bewegt sich überhaupt nicht mehr! Mitten im Sprung einfach da geblieben!
Ich gehe auf die Terrasse hinaus und schaue hinüber. Ich kann nicht erkennen, was da los ist. Es rührt sich überhaupt nicht. Irgendein durchsichtiger Faden, so etwas wie eine Angelschnur vielleicht, die durch die Luft gespannt ist? Aber wie käme so etwas da hin? Warum sollte jemand so etwas machen?
Natürliche Ursachen kann ich mir nicht vorstellen. Ich gehe hinein, um meinen Feldstecher zu holen. Vielleicht muss ich die Feuerwehr anrufen. Was mache ich jetzt?
Mit dem kleinen Fernglas komme ich zurück. Was ist das? Das Eichhörnchen ist nicht mehr da. Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, was ich denken soll. Außer: Der Teufel ist ein Eichhörnchen!
25 letzte Sommer
Ihr war ganz zittrig, das Herz raste und der Verstand setzte aus. Was hatte der Arzt da eben gesagt? Wenn sie Glück habe, könnten es noch sechs Monate sein? Man wisse nicht, wie schnell der Krebs wachse. Das hatte sie nicht erwartet, sie hatte gewusst, dass etwas mit ihr nicht stimmte, aber dass es Krebs war, hörte sie hier zum ersten Mal. Und dann gleich so ernst! Ihr war schlecht. Sie stürzte hinaus, musste sich übergeben.
Nach dem Gespräch ging es ihr zunächst fürchterlich. Sie war so durcheinander, dass sie ihr Auto nicht mehr fand, und als sie es dann doch endlich hatte, schaltete sie zum Losfahren in den 3. Gang. An der Wohnung fuhr sie gedankenverloren vorbei und landete irgendwie bei einer Freundin. Das war auch gut so. Die machte ihr einen Tee und drückte sie erst mal fest und machte ihr Mut. „Nimm das nicht für bare Münze!“, sagte sie. „Steck Dir ein Ziel, das du noch erreichen willst, irgendwas, worauf du dich freuen kannst, und dann denk nur noch daran, wie wunderbar es sein wird, wenn du das machst, und alles andere, die schlechten Gedanken, die schiebst du einfach weg. Wenn die kommen, einfach wegatmen, schick sie gen Himmel. Auf Nimmerwiedersehen!“
Das war wohl der beste Rat, den sie in ihrem ganzen Leben bekommen hatte. Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her! Diese Frau hatte ihr ein freundlicher Himmel in den Weg gelegt.
Von nun an war sie ständig unterwegs. Einmal noch nach St. Peter Ording, einmal noch nach Salzburg, einmal noch nach Ingolstadt, einmal noch nach Dessau, einmal noch nach Frankreich… Das machte sie dann 25 Jahre lang und genoss 25 Sommer in Palavas-les-Flots in der Nähe von Montpellier.
Die Rede ist von meiner Tante Magda. 1979 bekam sie die Diagnose, aber sie starb 2005.
Dagobert Duck’s Geldspeicher
Endlich in Entenhausen. Die Tür geht auf zu dem riesigen Tresorraum in Überlebensgröße. Millionen von golden funkelnden Talern! Zaster! Mammon! Schotter! Kies! Wer möchte da nicht hineinhechten! Einmal im Leben muss man das aushalten, auch wenn es schmerzhaft sein könnte! Da rollt der Rubel, fleucht der Euro haarscharf am Auge vorbei, klirrt der Dirham und kollert der Dollar, wenn du dich raketengleich hineinkatapultierst! Einen Münzberg hat schließlich nicht jeder in seinem Pool. Wenn der nicht regelmäßig umgeschichtet wird, setzt er übrigens auch Algen an, äh Grünspan. Das wäre doch arg bedauerlich. Also ab aufs Sprungbrett und hepp!
Die paar Wochen im Krankenhaus sind es wert. Hoffentlich hattest du noch die Gelegenheit, dir schnell die Taschen vollzustopfen. Am besten hast du dir vorher das Hemd oder den Pulli schon in die Hose gesteckt, dann passt am meisten rein! Einfach vom Halsausschnitt aus füllen. Ja, OK, beim MRT muss das dann alles wieder raus, sonst klebst du womöglich an der Röhre fest. Aber sowas ist doch nebensächlich. Es geht schließlich um die Challenge – wann war das letzte Mal, dass du was zum ersten Mal getan hast? Eben! Also! Anlauf, federn – doing doing doing – und hinein ins Vergnügen!
Schepper rassel koller!
Stöhn winsel…
I have a dream
Ich stehe vorne im Saal und halte eine Fackel in der Hand. Zögernd und etwas schüchtern trete ich in den Gang, der mich nach hinten führt. Rechts und links sitzen unglaublich viele Menschen. Alle warten sie, was ich machen werde. Ich gehe zur ersten Reihe. Wie ich sehe, trägt jeder dort ebenfalls eine Fackel. Meine brennt, die anderen sind noch kalt.
Ich probiere es aus, senke meine Fackel und bedeute dem Mann, der links vorne sitzt, das gleiche zu tun. Es dauert ein bisschen, bis seine Fackel Feuer fängt. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Bei der Frau im Publikumsblock rechts funktioniert es schon gleich besser. Schnell leuchtet das Licht in ihrer Hand und ermutigt gehe ich weiter. Rechts und links mache ich überall Licht, immer schneller kann ich das, und nun halten mir die Menschen ihre Fackeln bereits in den Gang hinein, damit ich keine weiten Wege habe und es richtig flott geht.
Und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der erste jeweils dem zweiten das Licht anzündet und so weiter. Ich sehe mich kurz um und entdecke zu meiner riesigen Freude, dass in einigen Reihen bereits bis zum Ende der Reihe alle ein brennendes Licht in der Hand halten.
Bald habe ich das Ende der Halle erreicht, da sehe ich erstaunt, dass die Rückwand der Halle nicht mehr da ist. Dort stehen weitere Reihen und Reihen von Menschen, draußen, im Dunkel der Nacht und warten auf das Licht. Und ich freue mich, dass meine Fackel alle anzünden kann. Als sie zu schwach wird, reicht mir einer, der das merkt, seine frische Fackel, damit ich noch weit weit gehen kann. Ohne zu ermüden - im Wissen, das Wichtigste zu tun, was ich je in meinem Leben getan habe, gehe und gehe ich, und Tausende von Menschen werden zu Lichterträgern.
"Kritik ist wie ein Rummikub-Spiel – jeder denkt, er kennt die besten Züge, bis jemand den Tisch umwirft." (Titelvorschlag von OpenAI)
Wenn ich eines wirklich nicht gut verkraften kann, dann ist es Kritik. Schlechte Kritik, versteht sich! Ob gerechtfertigt oder auch nicht, das ist wie ein Schlag in den Magen und dann taucht plötzlich Klein Manu auf und möchte Sachen auf den Boden schmeißen, die dann irreparabel sind, mit dem Fuß aufstampfen, der danach 3 Monate lang weh tut, die Tür zuknallen, so dass der Schreiner vorbeikommen muss und das Scharnier wieder einsetzen, und dann wütend und verzweifelt auf dem Bett ins Kissen heulen. Eigentlich bräuchte ich als nächstes jemanden, der mich festhält und umarmt. Der kommt aber nicht, denn der hat dann grade dies Schn… von mir voll. Für jetzt oder immer. Und fünf Minuten später würde ich reumütig zurückdackeln und schauen, ob ich die Situation irgendwie wieder kitten kann. Was seltenst der Fall ist.
Was hilft in solchen Fällen, wenn trotz Marshall Rosenberg und dem, was mir von seinem Konzept der gewaltfreien Kommunikation im Hinterkopf spukt, aber nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, einfach Verzweiflung und Jähzorn hochkommen oder irgendein archaisches Verhalten mich überrollt, wogegen ich mit der Manu im gesetzten Alter von 64 nicht ankomme?
Bei mir ist es meist, einfach ganz aus der Situation rauszugehen, bevor es richtig eskaliert und gut durchatmen. Und wenn es schief gegangen ist: Rummikub spielen. Allein gegen mich mit unvorhersehbarem (?) Ergebnis oder in der App auf meinem Handy. Da werden meine blöden Gedanken ausgehebelt, die mein Ego, die Schwurbeline, mir so eingäbe, damit ich mich im Leid suhlen könnte. Nein. Will ich nicht. Pfui! Aus! Sitz! Und zieh ja nicht die schwarze 13, die brauch ICH nämlich!
They’re coming to America! Today! (15 Minuten Schreibzeit)
Im Radio hörte sie zufällig, dass heute der große Tag sein würde! Zum ersten Mal würden sie nach Amerika kommen! Bisher waren sie da noch nicht so sonderlich bekannt. Aber Emily wusste, dass Großes in ihnen steckte. Einmal gehört, und für immer verliebt! Gleich nach den ersten Tönen hatte sie das gewusst. Für die Stimme von George könnte sie sterben!
Und dann waren die auch noch alle so süß! Man wusste gar nicht, wer am tollsten aussah. Und lustig waren die angeblich! Und wahnsinnig schlau. Und sie hatten alle so schöne Haare! Hach, und wie sie sich sexy bewegten! Ihre Musik ging einem sofort in die Beine, da konnte niemand stillsitzen. Und jedes Wort, das sie sangen, war ganz speziell für Emily. Alles passte auf sie. In jedem Song steckte Liebe, und die erfüllte jede Faser in ihr.
Emily schaffte es, als erste am JFK-Flughafen zu sein. Sobald sie es gehört hatte, naja fast, aufbrezeln musste sie sich ja schon - war sie losgefahren, und das hatte bestimmt sonst noch niemand getan. Dachte sie. War aber ein Trugschluss. Sie stellte fest, dass außer ihr noch etwa 500 andere auch schon da waren, das war ja aber doch vier Stunden bevor das nächste Flugzeug aus England ankam! Genau wie sie, hatten sich alle anderen hübsch gemacht. Mit dickem schwarzen Lidstrich, hochtoupierten Haaren und in ihren nettesten Sachen standen sie da, und alle hatten nur den einen Wunsch: ihrem Liebling ganz nahe zu kommen!
Endlich war es soweit. Polizisten und Sicherheitspersonal war zu Hauf vorhanden, was an diesem Flughafen normalerweise nicht der Fall war, aber diese große Begrüßungsschar war den Ordnungshütern suspekt. Man musste mit allem rechnen. Und es waren inzwischen Tausende geworden. Emily stand aber wie durch ein Wunder in der ersten Reihe. Als das Flugzeug landete, übertönte ein Kreischkonzert aus Tausenden von weiblichen Kehlen den Turbinenlärm.
Es dauerte ziemlich lang, bis die vier endlich aussteigen konnten. Sie taten dies etwas unsicher, denn sie wussten nicht, ob sie nicht etwa von dieser riesigen Menge von hübschen Mädchen in kleine Stückchen zerfetzt und ins Album geklebt werden würden. Sie hatten aber Hoffnung auf das Gute im Menschen und wagten sich mutig die Gangway hinunter.
Fans hatten einen roten Teppich ausgerollt, und den schritten sie entlang unter dem Gejubel und kaum auszuhaltenden Geschrei der jungen Frauen. Es flogen Blumen und Schlüpfer, BHs und Teddybären, und manche hatten sich noch kreativere Sachen ausgedacht. Hunderte von Schildern mit Liebeserklärungen wurden hochgehalten, aber die Jungs beeilten sich, so schnell wie möglich hier wegzukommen.
Emily schaffte es, trotz der vielen Ordner, George am linken Handgelenk anzufassen. Überrascht drehte er sich zu ihr um und sah ihr lächelnd in die Augen. Dann legte er kurz seine andere Hand auf die ihre und sagte zu ihr ganz leise, so dass sie es von seinen Lippen ablesen musste: ”Thanks for your loving heart“
Dann war er weg, und auch die anderen waren verschwunden. Zurück blieben weinende Frauen, etliche waren auf den Boden gesackt, weil das alles zu viel für ihre Nerven war und mussten von Rettungshelfern hochgehoben oder gar weggetragen werden.
Für Emily war dies der glücklichste Augenblick in ihrem Leben, und heute noch, fünfzig Jahre später, erzählt sie ihren Enkeln davon mit einem fast überirdischen Leuchten in ihren Augen. Sie hatte monatelang ihre Hand nicht mehr gewaschen, da wo George sie berührt hatte, bis sie schließlich einsah, dass es so nicht weiterging. Zur Ed-Sullivan-Show, wo die Pilzköpfe dann auftraten, hatte sie keine Karten bekommen, aber sie hatte IHN gesehen, und er hatte ihr die Liebe im Herzen für immer verankert. Was wollte sie noch mehr! Ihre Freundinnen beneideten sie ein Leben lang.
Da George leider bald anderweitig vergeben war, musste sie wohl oder übel jemand anderen heiraten. Allerdings hieß auch er George, und sogar mit Mittelnamen Harry. Und er hatte dunkelbraune Haare, dunkle Augen und war lieb und einfühlsam wie ihr Idol. Gitarre spielen lernte er zeitlebens nicht, aber singen konnte er leidlich, denn auch er hatte eine schöne, ungewöhnliche Stimme. Emily lebte mit ihm im siebten Himmel.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spielt in ihren Träumen im Hintergrund auch noch heute For you blue: “Because you’re sweet and lovely, girl: I love you. Because you’re sweet and lovely, girl – it’s true, I’m living every moment, girl, for you. I loved you from the moment I saw you, you looked at me, that’s all you had to do….”
Altes Gemäuer (15 Minuten Schreibzeit)
Vor mir hochaufragende Wände, aus riesigen Steinen gefügt, die handbehauen sind. Völlig unregelmäßig, aber in ihrer Unregelmäßigkeit mörtellos ineinander gepasst in der Perfektion eines Puzzles. Die Steinblöcke sind jeweils etwa knie- bis beinhoch und relativ quadratisch. Manche sind allerdings auch eher trapezförmig oder gar dreieckig. Aber jedenfalls immer in etwa dieser Größe. Jeder einzelne scheint ein unglaubliches Gewicht zu haben. Sie sind altersgrau bis schwarz geworden, sehr grob, an der Außenseite nicht geglättet, also kein feiner Marmor. Das ursprüngliche Weiß spitzt an einigen Stellen noch zwischen den Rußlagen hindurch.
Ich bemühe mich, mich an dieser Ruine vorbeizuschlängeln, in der Hoffnung, jedoch keinen beinlosen Kriechtieren zu begegnen, jedoch ist es sehr schwierig, da von weit oben diese riesigen Blöcke heruntergefallen sind. Wie ein Potemkin’sches Dorf steht von der Trutzburg nur noch ein Teil, eine Hollywoodfassade, jedoch auf zwei Seiten. Der Turm scheint noch relativ intakt, nur fehlt der ganze obere Teil. Ich bin wirklich beeindruckt von er Baukunst und kann mir kaum vorstellen, wie die Menschen diese riesigen Blöcke nach oben befördert haben können. Hinunter gekommen sind sie leicht, nämlich durch ein Erdbeben.
Wer wollte überhaupt in so einer Gegend wohnen? Wem musste er trotzen, dass er ausgerechnet hier sein Lager aufschlagen wollte? Rings herum geht es auf und ab, überall sind Bäume, die Natur hat alles überwältigt, es gibt kaum ein Durchkommen. Direkt neben der Burg geht es jäh in den Abgrund hinunter. Der Aufstieg war für mich nicht leicht gewesen. Die unteren Mauerteile sind bereits bemoost, zwischen den Fugen ist überall Gras zu sehen und andere „Mauerblümchen“, die lustig gelb blühen und hier Herrinnen der Lage sind. Niemand wird sie ihnen streitig machen.
Ich kehre schließlich durchgeschwitzt von den hohen Temperaturen zurück zu meinem in großer Entfernung geparkten Auto, denn es gibt keinerlei Weg zu dieser Burg. Ich muss klettern und mich durch Gestrüpp und Dickicht zwängen. Heuschrecken springen mich an, und von oben rieselt es auf mein Haar und in den Nacken. Ich fühle mich besudelt. Das würde zu meiner Vorstellung passen von dem, was sich in so einer Burg vielleicht zugetragen haben mag. Ihr Zweck ist mir bislang unbekannt. Es gab auch kein Schild, dem ich hätte entnehmen können, um was es sich hier handelt.
So ein Gebäude errichtet man am ehesten noch, wenn man Gefangene darin zu Tode bringen möchte oder um Leprakranke unterzubringen. Weit weg von der Zivilisation. Oder war die Burg selbst der Zweck des Aufenthalts? Diese Burg aus Stein zu bauen in einer Art von Strafaktion, eine Burg, die sonst keinen weiteren Existenzgrund hätte, als unter Leiden erbaut zu werden? An einem Ort, wo Gut und Böse sich ineinander verwandeln, an dem es keine moralischen Krücken gibt, nur steingewordene Machtdemonstration, empathielose Dominanz pur. Ich schüttele mich. Für einen Urlaub ist diese Gegend ganz eindeutig nicht geeignet.
Mein Wecker und ich verstehen uns blendend
Für die meisten Menschen ist so ein Wecker eine Ausgeburt der Hölle, deren Agieren an Unmenschlichkeit kaum noch zu übertreffen ist. Wann auch immer er rumort, ist es immer zur Unzeit, reißt aus den schönsten Träumen, erwischt einen im Tiefschlaf, so dass man dann den ganzen Tag herumläuft wie mit Scheuklappen neben einem wattegefüllten Hirn, die Fäuste kaum verblümt geballt aufgrund mieser Laune.
Für mich hingegen, die ja zu keiner festen Zeit mehr aufstehen muss, ist die Weckfunktion meines Handys ein wahrer Glücksfall. Für diese Geschichte hier habe ich zum Beispiel Google berufen, mich in fünf Minuten aus meinem Schreibwahn zu reißen. Wenn ich koche, stelle ich Frau Google, wenn ich wen anrufen muss oder ich vorhabe rauszugehen, sagt sie mir rechtzeitig, wann ich mich dafür bereit machen soll, wenn ich ein Nickerchen halte – dann gönne ich mir genau 30 Minuten, denn ansonsten: Tiefschlaf usw. mit allen beschriebenen lausigen Folgen. Ich habe einen Ton eingestellt, den ich gut ertragen kann, und so alle halbe Jahr wechsle ich den, wenn ich seiner überdrüssig bin und ihn nicht mehr hören mag.
Es ist mir tatsächlich schon ein paar Mal passiert, dass ich keinen neuen Weckertermin mehr anlegen konnte, weil ich 50 Stück oder sowas bereits gespeichert hatte, da war was in fast jeder halben Stunde dabei. Und dann sagt die nette Dame im Handy mir aber nicht „Sorry, kann nicht mehr, bin am Anschlag, tilt!“, sondern tut so, als sei alles in bester Butter, nur dass sie mich dann nicht weckt. Also räume ich brav immer wieder auf, denn das eine Mal, wo ich tatsächlich morgens in aller Herrgottsfrühe zu für mich nachtschlafender Zeit um halb 10 raus muss, möchte ich ja dann keine böse Überraschung erleben.
Seit zwei Minuten läuft hier irgendwie Musik. Was ist denn los? Schon fünf Minuten vorbei? Dabei fiele mir noch deutlich mehr ein. Nur so viel noch: Google Weckerin, du bist eine meiner besten Freundinnen! Danke dir für deine stets so freundliche Hilfe!
Die Verschrägung von Metaphern (10 Minuten Schreibzeit)
Manchmal bekomme ich einfach Lust, mit Metaphern und seltsamen Verbildlichungen um mich zu schlagen, sie dem Leser oder Zuhörer um die Ohren zu hauen und ihm damit Hören und Sehen vergehen zu lassen. Was natürlich schlecht wäre, wenn er dann nicht mehr lesen oder zuhören kann. Gibt aber viele, denen das gerade Spaß macht.
Warum tue ich das? Möglicherweise, weil ich, offenbar, wie ich erfahren habe, im Gegensatz zu ganz vielen anderen Leuten in Bildern denke, das heißt: im Allgemeinen völlig wortlos. Ich habe also eigentlich meinen Beruf als Übersetzerin entweder völlig verfehlt oder ihn gerade deshalb gewählt, weil er für mich die größtmögliche Herausforderung darstellt, die mir möglich ist: Übersetzen.
Ich übersetze mein Leben lang, aus dem Bildischen ins Wortische. Aus dem Latein ins Deutsche, aus dem Englischen, Französischen, Italienischen, Spanischen, Farsi und Türkischen und wieder zurück. Zwischen mir und mir. Zwischen dir und mir. Zwischen den Kunden und den Händlern. Zwischen den Bedürftigen und denen, die das Geld haben. Zwischen meinen Eltern und meinem Ehemann, der aus einem anderen Kulturkreis kam, zwischen den Kindern und den Lehrern usw.
Und innen in mir drin immer nur Farben und Bilder, aus denen ich synthetisieren muss, interpretieren, konkretisieren, formulieren. Und dann mein Hirnwasser wallen lassen muss, um die Wogen meines Innersten vernünftig erscheinen zu lassen (auch wenn sie es nicht sind) und sie deutlich gebremst und gesellschaftskonform angepasst, gemessenen Schrittes auf Wanderschaft zu schicken. Damit dich meine Wahrheit ereilt und nicht blitzschlagartig überfällt, sondern langsam in dich einsinkt. Damit mein Input Wasser auf deine Mühlen und nicht der Sand in deinem Getriebe wird. Damit das Korn langsam gemahlen, und nicht gleich das ganze Zahnrad mit hineinbröckelt und zu tödlichen Splittern wird, die dir den Genuss vergällen und dich hinterrücks von innen erdolchen.
Und deshalb habe ich auch so eine Freude am Ausquetschen von Wörtern, bis sie nachgeben und sich neu formen oder am Plattwalzen von Bildgewaltigem, bis es in eine Streichholzschachtel passt und in die Sammlung der Miniaturbilder an der Wand aufgenommen werden kann.
Erweise mir also Gnade und schmunzle ab und zu über meinen sprachspielirrwischigen Irrwitz, denn ganz normal kann jeder und gewinnt damit den Blumentopf - ich aber will einen blühenden Tulpenbaum im Garten, der völlig topflos oberhalb des Horizonts eine Erweiterung desselbigen über dem Untertellerrand des haushaltsüblichen Philodendrons feiert.
Flehkraft
So wie andere Leute sich z.B. im Stricken oder Totospielen oder Autowaschen perfektioniert haben, so hatte Frollein Duftefein in der Gabe des Flehens Meisterniveau erreicht. Sie wusste, wenn sie etwas erreichen wollte, dann konnte ihr das niemand abschlagen. Sie brauchte dazu keinen Altar und war auch keinesfalls eine fleißige Kirchengängerin. Sie wallfahrte nicht mit Erbsen in den Schuhen im härenen Büßergewand gen Lourdes, auch war sie es nicht etwa gewohnt, ihr Knie zu beugen oder gar vor irgendjemandem in demütiger Haltung zu verharren. Sie hatte einfach einen Flehkraftverstärker erfunden.
Allmorgendlich nahm sie einen Esslöffel von ihrer Mixtur geheimer Substanzen (ein paar davon waren Ingwer, Kurkuma, Manukahohnig und Knoblauch, aber den Rest werde ich euch natürlich nicht verraten!). Dann konnte sie, was auch immer sie wollte, mit größtmöglicher Gelassenheit und einem tiefen Blick aus ihren wunderschönen Augen völlig entspannt und dennoch so unausweichlich und alternativlos aus jedem herauslocken, der ihren Weg kreuzte, dass niemand dem gewachsen war, und ein jeder hilflos, aber bedingungslos glücklich nachgab. Sie brauchte nur einmal leise „Bitte“ zu flüstern, und schon klappte alles wie am Schnürchen. Sie bekam immer und überall alles und jederzeit.
Wie sie letztendlich an dieses allergeheimste Rezept geraten war, das ließ sie niemals verlautbaren, denn sonst wäre ihr magisches Talent vielleicht verlorengegangen. Und auch du hättest das ja nicht gewollt, wenn auch du es hättest. Vielleicht findest ja auch du eines Tages das Rezept.
Spielen mit Opa
Als ich klein war, war ich häufig bei meinen Großeltern in der Wohnung voller Antiquitäten und wunderschöner alter Möbel. Der italienische Opa hatte mich sehr lieb und spielte furchtbar gern mit mir Versteck, wobei er mich an den abstrusesten Orten suchte. Bestimmt wusste er ganz genau wie bei der berühmten Sabine, die hinter der Gardine steht und wo unten die Füße rausstanden, dass auch ich, die süße Maus, am liebsten hinter dem Vorhang Unterschlupf fand. Außerdem konnte ich mein Lachen nur sehr mühsam verbergen, wenn er in jeder Blumenvase oben auf dem Schrank nachschaute und mit seltsamen Geräuschen Erschrecken und Überraschung mimte, dass ich nicht da drin war. Er schaute auch im Schreibtisch und im Schrank hinter sämtlichen Türen aus Glas, durch die man mich natürlich gesehen hätte. Er kniete sich auf den Boden und sah lange unter dem Sessel und unter dem Sofa nach. Auch den Deckel vom Klavier hob er, aber komischerweise lag ich nicht flach auf den Tasten.
Ein spezielles Spiel gab es auch, da musste ich immer seinen rechten Zeigefinger fangen, den Cerino Penti. Leider war der Cerino Penti so dermaßen flott, dass mir das nur ganz ganz selten gelang. Ständig tupfte der freche Kerl mir auf die Hand oder auf die Stirn oder den Hinterkopf, kitzelte mich rasch unterm Arm, zupfte an meinem Ohr oder drückte auf meinen Zeh, aber er war einfach nicht zu kriegen. Es machte riesig viel Spaß, und ich weiß nicht, wer von uns beiden dabei mehr lachte und ausgelassener war. Ich denke, ich hab meinen Opa lange jung gehalten, was so gut vorhielt, dass er 95 wurde.
Lukullisches Lokum (10 Minuten Schreibzeit)
Sabine freute sich sehr auf diese Köstlichkeit, die sie in einem kleinen Geschäft an der Ecke erstanden hatte, das sie erst heute entdeckt hatte. Es war ein Laden, in dem es ganz viele süße Sachen in allen Farben gab, sicherlich nicht frei von dreistelligen Zahlen mit einem E davor, aber was soll's, ab und zu darf man auch sündigen! Sie hatte sich einen Karton füllen lassen mit einer türkischen Spezialität, Lokum aus Granatapfelsaft mit Rosenblättern und vielen Pistazien. Turkish Delight, also Türkisches Entzücken nenne man das auch, sagte der alte Mann an der Verkaufstheke schmunzelnd.
Zu Hause angekommen konnte sie es kaum erwarten, davon zu kosten. Oh, wie unglaublich lecker das war! Da sie heute sehr müde war und nur noch ein bisschen lesen wollte, nahm sie die Schachtel mit ins Bett und aß im Liegen weiter, während sie mit der anderen Hand die Seiten umschlug. Erst schnabulierte sie vorsichtig ein Stück, dann noch ein zweites, denn das Entzücken war tatsächlich so groß, dann ein drittes, ein viertes... Dann war ihr irgendwie flau im Magen. Den Rest für morgen, dachte sie. Und übermorgen oder so, falls noch was da ist. Das waren noch etwa 15 Stück.
Sie schlief bald ein und wachte schon im Morgengrauen auf. Irgendwie fühlte sie sich gar nicht wohl. Es juckte sie überall. Offenbar hatte irgendetwas sie gestochen! Gab es denn um diese Zeit noch Mücken? Eigentlich war es doch schon fast zu kalt! Sie kratzte sich und zog unter ihrem Fingernagel etwas Schwarzes unter ihrem Busen hervor. Was war denn das? Da entdeckte sie es: eine Ameisenstraße führte quer durch ihr Bett! Die verlief über ihren Oberkörper und endete in der Schachtel mit dem Lokum neben ihrem Kopfkissen. Mit einem gellenden Schrei beförderte sie die Papierbox aus dem Bett und schlug wild auf die Ameisen ein. Es waren ganz kleine, man sah sie kaum. Aber dafür waren sie um so biestiger.
Sabine stürzte unter die Dusche, ihren Pyjama spülte sie zuerst ab und arbeitete sich dann, so gut es ging, aus diesem hinaus. Nasse Klamotten ausziehen war viel problematischer als sie geahnt hatte. Danach brauste sie sich überall ab und bestaunte eine enorme Anzahl von kleinen roten Kratern auf ihrem Körper und winzig kleinen schwarzen Insekten im heißen Wasser um den Abfluss. Auch die Haare mussten durchgespült werden, es juckte auch am Kopf.
Und im Schlafzimmer wartete dann die richtige Misere auf sie. Mit Haarspray ging sie auf die restlichen Ameisen los, die sich bereits am Boden zusammenrotteten, wo sich das Lokum dank ihres Befreiungsschlages überall verteilt hatte. Das süße Zeug transportierte sie dann mit Todesverachtung auf einer Schaufel zur Mülltonne. Den Boden musste sie saugen und auch den Staubsaugerbeutel in die Tonne katapultieren. Das Bett zog sie ab und wusch alles sofort. Zwei Ameisenfallen, die auf Vorrat eingelagert waren, aktivierte sie und platzierte sie im Schlafzimmer.
Heute Nacht würde sie sicherheitshalber auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Völlig entzückungs- und zuckungsfrei, aber in langweiliger deutscher Sicherheit. Und mit geputzten Zähnen.
Das erhebende Gefühl der Abwesenheit von mir (15 Minuten Schreibzeit)
Manchmal kann ich mich selber nicht aushalten. Manchmal bin ich mir in allem zu viel. Ich bin zu laut, zu doof, zu nervig, zu schwer, zu träge, zu verfressen, zu langweilig, zu Nullachtfuffzehn, zu vorhersehbar vor allem. Das kann ich an mir überhaupt nicht leiden.
Da gäbe es dann etliche Möglichkeiten, aus dem angehenden tiefen Loch wieder raus zu kommen. Das wichtigste ist: sich selber irgendwie auszuschalten. Wenn man nicht da ist, kann es da drin endlich wieder freier denken. Dann hätte dieses Denkdings wieder eine Chance, und das gibt doch gleich wieder unnötige Hoffnung. Äh, ich meine die nötige Hoffnung.
Das geht bei mir dann so, dass ich mich ins Bett lege und hoffe, dass bald ein neuer Tag kommt, an dem ich beglückt mit so was wie einer Amnesie wieder aufwache und fröhlich flöte: jeder Tag ist ein neuer Anfang, tirili! Das klappt öfter mal. Zu Zeiten liege ich dann viel im Bett, weil ich mir selbst keine gute Gesellschaft bin. Damit ich nicht sehe, dass ich mit mir nicht nur Tisch, sondern sogar Bett teile, mache ich dann am besten die Augen zu.
Eine andere Methode ist natürlich: im Barfach nachschauen, ob da irgendeine Flasche drin ist, die einen verdächtig durchlässigen Korken hat und deren Inhalt offenbar ganz von selber verdunstet. Da helfe ich dann nach. Netter ist das natürlich in Gesellschaft, wenn jemand da ist, der sich selber auch nicht so gut leiden kann, dann kann man sich da ziemlich hochschaukeln. Im Endeffekt weiß man dann nicht, ob der neue Tag ein guter Anfang ist oder man vielleicht besser auf den nächsten Sonnenunter-, nicht -aufgang gewartet hätte.
Die dritte Methode, die relativ sicher ist: irgendwo hinfahren. Weit weg. Noch besser ist nicht zu fahren, sondern zu fliegen. Dann wäre man mit und in Sicherheit weit von sich selbst entfernt. Man bucht spontan irgendeine Reise, die man sich, wenn man besser drüber nachdächte, vielleicht eher nicht antun würde, begibt sich zum Flughafen, und zwar möglichst direkt dorthin, ohne über Los zu gehen. Wartet, bis das Flugzeug den Zebrastreifen erreicht, ab dem es dann irrwitzig beschleunigt, und kaum geht das Gefühl des Erhoben-Werdens los, ist einem schon klar, wenn ich mich grad selber nicht leiden kann, wird es möglicherweise dort drüben auch gar nicht besser werden. Aber dann findet man vor Ort bestimmt für Option 1 ein Bett, eine Strandliege und eine Happy Hour mit Sex on the Beach. Letzteres für Option 2 oder 4.
Auf die Option 4 gehe ich dann wohl besser nicht so genau ein, denn sie ist meist sehr wenig zielführend und sollte eigentlich besser unter den Tisch fallen.
Es gäbe auch noch eine Option 5, ein One-Way-Ticket ins Abseits, dazu müsste aber der Weltschmerz schon so schlimm sein, dass man sich selber nicht mehr findet und nicht mehr kennt. Wir berichten nicht über diese Option und verweisen Sie an die Telefonnummer der Seelsorge und geschulte psychologische Betreuer.
Wenn alles nicht hilft: einfach gute Freunde anrufen und möglichst lange miteinander quatschen. Vielleicht haben die ja auch viel schlimmere Probleme als man selbst, dann kann man sich um diese kümmern und ist dabei nicht ganz bei sich, weil man ja beim anderen ist.
Aber egal, wohin man auch immer abhauen möchte, sich selber hat man ja leider immer mit dabei. Erst wenn man erkennt, dass das der eigentliche Grund ist, warum man die Fluchtmaßnahmen ergreift, und dass man vor sich selber Fünfe grade sein lassen muss und in den Spiegel schauen sollte, um sich zu sagen: „ich seh dich, wie du bist, und ich hab dich trotzdem lieb“ kann man in Ruhe daheimbleiben und froh sein, dass man doch da ist.
Der Cafard (15 Minuten Schreibzeit)
Wenn meine Mutter mich trübsinnig vorfand, sprach sie immer (in keinster Weise beunruhigt) davon, ich hätte halt den Cafard (sprich: Kafahr). Ob das jetzt etwas ist, was man als Schweizerin normalerweise so benennt, oder ob das etwas ist, was man hier in Bayern sagt oder früher kannte – keine Ahnung. Die Leute, mit denen ich heute Umgang pflege, kennen das Wort eher nicht.
Auf jeden Fall drückt es aus, dass man von sowas wie Weltschmerz niedergedrückt ist. Wenn man das Wort nachschlägt, bedeutet es auch Küchenschabe, also genau wie die fröhlich bemelodeite La Cucaracha, la cucaracha, die damit also auch dasselbe ist. Eigentlich geht es in dem Lied auch nicht um was Erfreuliches, nur die Melodie tut so, als wäre es ulkig und was, worüber man lachen könne. Der Küchenschabe wurde erst ein Bein, dann zwei rausgerissen, aber niemals geben die Cucarachas auf, sie tanzen weiter ganz happy in der Küche.
Manche reden auch vom schwarzen Hund, dem black dog der Depression und des finsteren Gedankenwusts: Man wird angefallen, auf den Boden geworfen, und dann liegt man da und schafft es nicht mehr, alleine aufzustehen. Das kann nur einen Tag lang sein, aber üblicherweise ist es eher eine Phase von Tagen oder Wochen, in der man dann auch nah am Wasser gebaut hat und keine Sandsäcke dabei. Was auch immer jemand achtlos, ohne allzu viel damit aussagen zu wollen, dahinsagt, trifft einen zutiefst im hinterletzten Winkel der Seele, bis zu dem alle Türen sperrangelweit offenstehen und lässt dort die Decke einstürzen.
Die fällt einem also auf den Kopf, aber nicht in dem Sinne, dass man sich einfach ganz profan langweilt und, um dem entgegenzuwirken, gerne rausgehen würde, um was anderes zu erleben, sondern so, dass man unter den Trümmern begraben hilflos und ohnmächtig daliegt und seinem Ende durch missliche Umstände unweigerlich entgegensieht. Jedenfalls fühlt es sich so an. Ein Alpdruck, der auf der Brust lastet, einen nicht mehr richtig atmen lässt und dazu führt, dass man nur noch tragische Gedanken in Endlosschleife denken kann.
Gegen das nicht richtig Atmen kann man sehr leicht was machen, zum Beispiel im Kästchenrhythmus von 1-4 einatmen, 1-4 anhalten, 1-4 ausatmen, 1-4 so lassen und wieder von vorne. Wenn man noch in der Lage ist, auf diese einfache Idee zu kommen.
Eine andere Methode, die Gedanken auszubremsen, mit denen einen das eingebaute Ego, die Schwurbeline oder der Egon, wie auch immer man es gerne benennen möchte (alles, was einen Namen hat, ist leichter zu bewältigen) ausbremsen will, wäre z.B. zu sich zu sagen: Und, Schwurbeline/Egon, was ist jetzt dein nächster Gedanke? Dann fällt ihm plötzlich nicht mehr sehr viel ein und man kann die Trümmer von der heruntergebrochenen Decke beiseite räumen und dabei feststellen: war nur aus Styropor und nicht Beton. Aber auch auf diese Idee muss man erst mal kommen!
Was aber, wenn alle freudvollen Gedanken den bösen Prophezeiungen weichen müssen, was aber, wenn da nur noch Finsternis ist? Wohin aber gehen wir? „Wohin tragen wir am besten unsere Fragen und den Schauer aller Jahre?“ Nach Ingeborg Bachmann „in die Traumwäscherei ohne Sorge? Was aber geschieht, wenn Totenstille eintritt?“
Und ich höre im Kopf meine Mutter, wie sie sagt: „Jetzt stell dich nicht so an. Putz die Nase, wasch dir dein Gesicht und komm jetzt endlich zum Abendessen, wird’s bald!“
Abendessen hat meist geholfen. Sagt die Waage auch. Fröhlich weiter in der Küche tanzen. Auf einem halben Bein oder so. Dabei festhalten an den Einbauschränken. Den Cafard einfach mal ordentlich herumwirbeln, bis ihm Hören und Sehen vergeht und er lieber verschwindet. Unabdingbar in der Küche: ein Radio. Mit dem Sender, der immer noch dieselben Songs spielt wie vor 40 Jahren, als ich da auf dem Hocker über meinem Abendbrot schniefte.
Elfenbein (15 Minuten Schreibzeit)
Theofila Pantotila war eine berühmte Fee unter ihresgleichen. Man kannte sie landauf und landab, quasi so wie Holla, die Waldfee. Von der hört man ja immer noch mindestens monatlich so einiges. Theofila Pantotila jedoch verschwand in der Versenkung, und das kam so:
Nachdem Rumpelstilzchen sich beim Fußaufstampfen ja selber mitten entzweigerissen hatte vor lauter Wut und Scham, dass die Müllerstochter, die inzwischen Königin war, ihn so hereingelegt hatte, hatte Theofila Pantotila mit ihm jede Menge Mitleid. Das war eine echt tolle Eigenschaft von ihr, aber in diesem Fall auch eine ziemlich blöde. Denn Rumpelstilzchen war kein guter Kobold gewesen, nicht so ein lustiger (wenn auch anstrengender) wie der Pumuckl. Ihr habt das sicher alle bereits gewusst, aber der Theofila Pantotila war das halt leider nicht klar. Es passiert ja oft so: diejenigen, die ein richtig liebevolles Herz haben, können oft nicht so gut unterscheiden, ob der für den sie sich einsetzen, das dann auch verdient. Oder sie meinen, vielleicht würde er sich ja ändern, wenn sie nur gut genug zu ihm wären.
Die liebe, gute, selbstlose Fee bahrte also den zweigeteilten Stilz (warum man ihn Stilzchen nannte, weiß keiner, er war eigentlich ziemlich korpulent), der jetzt mit seinem üblichen Gerumpel und Gegrummel aufgehört hatte und stattdessen ob der erlittenen Verletzungen so leise war, dass nur noch ganz schwaches Winseln und Stöhnen aus seinem Munde aufstieg, auf einem Blätterbett unter duftendem Jasmin auf. Dann entzündete sie Sandelholzsplitter und Rosenblüten, fügte ein bisschen Weihrauch und Cassiarinde hinzu, streute weißen Pfeffer obendrauf und trieb sich schließlich mit einer ganzen Handvoll Galgant im bereits qualmenden Gemisch die Tränen in die Augen.
Sie weinte und weinte und weinte und tropfte ihre Tränen auf die Rissstellen am Stilz, so dass diese sich wieder zusammenfügten. Um sicherzustellen, dass der Stilz auch wirklich ganz fest zusammengewachsen war, trat sie probehalber mit ihrem zarten Fuß in der Mitte unterhalb seines Nabels auf die in Blitzesgeschwindigkeit heilende Wunde. Und, äh ja, was soll ich sagen, sie hatte die Heilkraft ihrer eigenen Tränenflut gewaltig unterschätzt, denn so wuchs sofort das zarte Füßlein nebst zierlichem Elfenbeinchen an dieser Stelle an.
Es blieb der armen Theofila Pantotila leider nichts anderes übrig, als sich selber ihr Bein abzureißen und fürderhin einbeinig durch die Wälder zu schweben. Wenn Elfen Körperteile verlieren, ist das aber leider irreparabel, da hätte auch keine Elfenträne ihrer Kolleginnen geholfen. Danke der Nachfrage!
Wo auch immer die so verunstaltete arme liebe, gute, selbstlose Fee nun hinkam, lachte es aus den Baumkronen und den Gebüschen. Alle hielten sich die Bäuche vor Kichern, wie sie denn nun ausschaute. Da sieht man mal wieder, dass diese Elfen gar nicht alle so sonderlich nett waren! Wer den Schaden hat, brauchte auch im Elfenreich für den Spott nicht zu sorgen. Theofila Pantotila schämte und grämte sich ob dieser Verhöhnungen und Verunglimpfungen so sehr, dass sie beschloss: das war's mit ihrem beruflichen Wirken. Kaum sieben Tage nach dem Unglück mit dem Stilz war sie auch schon weg und wurde niemals mehr gesehen in dem Wald zu Mainz.
Der Stilz jedoch hatte kaum sieben Tage nach dem Glück mit der Fee eine neue Manneskraft in seinem dritten Beinchen entdeckt, mit dem er jetzt sehr neckische Spielchen treiben konnte. Als dann das Mittelalter vorbei war und die Keuschheitsgürtel wieder ausgezogen wurden, trieb er es wild und hat bis heute eine unglaublich riesige Schar von Nachkommen gezeugt, deren Genom leider auch noch dominant ist. Die rezessive freundliche, gutmütige und frauenverstehende Genvariante im Männerreich blieb also auf der Strecke, und drum gibt es heute unter den Männern einfach so viele Stilze. Wahrscheinlich kennst du auch etliche und musst mir leider Recht geben. Und das alles wegen einer altruistischen Fee…
Wut
Was ist das für ein Gefühl? Es ist etwas, das für viele selbstverständlich ist und sie zu kleinen Scheusalen für 2 Minuten oder zu schrecklichen Berserkern werden lässt, die womöglich ihr Umfeld in Trümmern, Schutt und Asche hinterlassen, für andere ist es ein Gefühl, das es nicht gibt.
Wenn man in früher Kindheit ständig daran gehindert wird, die Wut zuzulassen, weil man das nicht macht und es nicht anständig ist, oder weil dem mit so einer Gegenwut entgegengetreten wird, dass man sofort begriffen hat: „das mache ich besser nie wieder!“, dann ist die Wut vielleicht einfach eine große Leere. Ein Gefühl, das sich auf ganz andere Weise äußert. Vielleicht in Traurigkeit, Depression, Angst oder Essstörungen.
Einen gesunden Umgang mit der Wut, die man nicht spürt und nicht zulässt, kann man vielleicht später lernen, wenn man herausfindet, dass man sie in sich verkapselt hat und sie immer mit sich herumträgt, aber nie befreit. Da ist ein Ventil, das ist zugeklebt und innen drin wird der Druck immer größer. Dann passiert vielleicht was ganz ganz Schlimmes, in einem Rausch unheiliger Wut in schrecklicher Weißglut, oder man tut sich selbst etwas an. Vielleicht auch unabsichtlich. Womöglich bekommt man Krebs, denn wo die Wut nicht rausgebrüllt werden darf, frisst sie sich hinein. Dann frisst der Körper sich selber an oder auf.
Im glücklichsten Fall kann man die Wutenergie gewinnbringend umleiten. Z.B. in Tanz, in künstlerische Aktivität (ich glaube, dass eine der Voraussetzungen für gute Kunst Wut, Leiden und Traurigkeit sind), oder wie ich: ins Schreiben. Ob für sich selbst oder andere. Hauptsache: raus damit, nicht drinnen behalten und ansammeln.
Allein im Wald
Ich hab eine Erinnerung, dass ich ein Kopftuch trug und ziemlich tollpatschig meiner Wege tapste. Meine Eltern hatten mich in den Wald mitgenommen zum Pilze suchen. Ein Fichtenwald, kein schöner Ort. Die Bäume waren so unendlich hoch und hatten ganz kahle Stämme, an denen nichts Grünes war. Jedoch ragten in alle Richtungen spitze Spieße aus den Stämmen, unbenadelte Äste, die nach mir griffen und mir weh tun wollten.
Irgendwie muss ich meine Eltern verärgert haben. Vielleicht war ich zu langsam, vielleicht konnte ich nicht mehr, vielleicht wollte ich getragen werden, vielleicht war ich auch frech – das war etwas, das man mir häufig vorwarf – jedenfalls sagte meine Mutter zu mir, dass sie genug hätte von mir und mich nicht mehr haben wolle. Sie gehen jetzt weg und lassen mich da. Sie kommen nie wieder.
Fort waren sie. Ich kam nicht hinterher, ich war zu klein. Da stand ich verlassen im Wald, mutter- und vaterseelenallein. Verzweiflung und Unglauben, Angst, Panik, Hilflosigkeit, Ohnmacht wallten in mir auf. Und die Bäume, die überall um mich herum lebensunfreundlich wie gefährliche, seelenlose Riesen standen, um mir die Augen auszustechen mit ihren spitzen dünnen Fingern.
Ich weinte und weinte und weinte. Ich weiß nicht, wie lange. Irgendwann waren meine Eltern wieder da. Gnade vor Recht, ich wurde doch wieder mit nach Hause genommen.
Ich hatte meine ganze Kindheit und Jugend Migräne. Insbesondere konnte ich es überhaupt nicht ertragen, wenn irgendwo im Raum ein spitzer Gegenstand war. Zum Beispiel ein Bleistift, eine Gabel, ein Schaschlikspieß. Den fühlte ich direkt in meinem Auge sitzen, und bei seinem Anblick bekam ich Panik. Noch immer muss, wenn ich am Tisch sitze, ein Messer so hingelegt werden, dass es nicht auf mich zeigt. Ich kann es nicht aushalten.
Und in allen meinen Partnerschaften ist da immer diese tief in mir drin lauernde Angst, wieder allein gelassen zu werden. Wie Hänsel ohne Gretel allein im Wald zu stehen. Hänsel war derjenige, der hilfloser war. Gretel hat immerhin dafür gesorgt, dass der Bruder nicht von der Hexe gebraten wurde und die Hexe in den Ofen geschubst. Hänsel war komplett handlungsunfähig. Das war ich lange lange Zeit auch.
Und wenn in der Partnerschaft Dinge schieflaufen, denk ich, ich steh im Wald. Und das ist ganz und gar nicht komisch. Dann schlägt eine schwarze Woge von Ohnmacht über mir zusammen, mein Gehirn versagt den Dienst und meine Füße wollen wegrennen, bleiben aber wie angewurzelt stehen. System overload. Nein bitte, erdet mich nicht mit Waldbaden!
Das Biest
In einem Zwinger wohnt das Biest. Es ist riesig groß und stark. Es ist gemein und böse und skrupellos und strotzt vor Kraft. Es würde über Leichen gehen. Es hat alle schlimmen Gedanken, die man denken kann, bereits gedacht. Es ballt die behaarten groben Fäuste und seine Augen berühren sich schier in unsäglicher Wut, weil es den Zwinger nicht öffnen kann und diese Gedanken in die Tat umsetzen. Die Ketten, an denen es befestigt ist, rasseln dabei und hebeln die Haken fast aus dem Gemäuer. Das Biest tobt im Käfig von links nach rechts und wieder zurück unter stetem Geklirr und Geschepper der Eisenringe der Ketten.
Draußen vor dem Käfig sitzt, mit Watte in den Ohren und Angst im Herzen, obwohl es draußen und nicht in Reichweite der Kreatur sitzt, ein graues Männlein, der einsame Wärter. Der gebeugte alte Mann versucht sich mit Lektüre bei Kerzenschein von dem Grauen abzuschirmen, das hinter seinem Rücken im Käfig stattfindet. Er liest ununterbrochen, nur ganz selten trinkt er einen Schluck Tee aus seiner Thermoskanne. Er liest romantische Schnulzenromane und fröhliche Schulwitze, harmlose Geschichten wie die, die seine Frau im Fernsehen ansieht. Seine Frau hat er seit Jahren nicht mehr gesehen. Er ist hier angestellt, um bis zu seinem Lebensende aufzupassen. Der Stapel gelesener Bücher neben ihm ist turmhoch.
Hinter der nächsten Tür hockt noch ein graues, gebrechliches Männlein auf einem Schemel und hält Wache, dass keiner in den Vorraum zum Zwinger hineinkann. Auch neben ihm häufen sich die Bücherberge. Auch Zeitschriften und einschlägige Magazine sind dabei, damit es ihm nicht so langweilig wird. Aber eigentlich interessieren ihn die gar nicht mehr. Er ist zu alt und zu schwach.
Was aber, wenn einer kommt, und die beiden erbärmlichen kleinen Männlein narkotisiert, die Türe öffnet und die Ketten aufsperrt? Was wenn auch ich mein Biest einfach freiließe, das in meinen Gehirnwindungen haust?
Fernweh (15 Minuten Schreibzeit)
Eines Tages ist es wieder so weit. Ich habe lange genug zu Hause gesessen, ich hatte genug Alltag, ich trotte so brav vor mich hin und jeden Tag passiert etwas Ähnliches. Ich versuche, Farbtupfer in meine Woche zu bringen, einen türkisenen Kinobesuch in einem schwarzweißen Kinosaal, ein purpurrotes Konzert in einem schwarzweißen verdunkelten Theatersaal, eine feuerrote Musik auf einer schwarzweißen Langspielplatte, eine graublaue Story in einem schwarzweißgedruckten Buch, aber es reicht nicht, es bleibt alles schwarzweiß.
Die Woche stapft so beschwerlich dahin, als hätte man dicke dunkle Ackererde an den Gummistiefeln hängen, als bliebe man in den Ackerfurchen stecken.
Etwas anderes muss her. Irgendjemand redet von Sansibar, jemand anderes von Rhodos. Ich sehe auf Facebook ein paar Fotos von Mallorca. Der Stachel steckt plötzlich in meinem Herzen, verhakt sich, kratzt, ziept, fängt an zu bohren, ein feiner Draht führt von ihm zu einem unsichtbaren Ort am anderen Ende, von dem aus eine lange Leine gespannt ist bis zu mir. Dieser Draht flirrt an der Luft, elektrische Impulse werden durch ihn geschickt, keine schmerzhaften, aber irritierend. Sie kommen nicht etwa in regelmäßigen Abständen, sondern z.B. immer, wenn ich den grauen Himmel sehe, immer wenn ich auf das fröhliche Bild mit den Ährengarben im Van Gogh-Stil schaue, immer wenn die Uhr 11:11 oder 2:22 zeigt, immer wenn ich Wörter lese wie Kalkutta, Wind, Connecticut, Paella.
Und eines Tages fällt mir ein: ich könnte doch mal checken, ob es nicht vielleicht ein Seminar irgendwo gibt, das mir gefiele. Einen Mosaikkurs, ein Achtsamkeitsseminar… Ach nein, ich will aber gar nicht weg. Ich habe Dinge zu erledigen. Ich habe einen Haufen Arbeitsvorgänge angestoßen. Ich habe Veränderungen angezettelt in meinem Zuhause. Es ist gerade so viel in der Schwebe. Was soll ich tun? Rund um mich herum gehen so viele Dinge schief. Den Freunden geht es nicht gut. Ich will nicht zulassen, dass diese Schwingungen auch in meinem Leben präsent werden. Aber sie sind auf dem Weg. Der Boden vibriert manchmal, es knackt und knistert manchmal beim Gehen. In der Nacht liege ich manchmal wach und habe finstere Gedanken. Ich weiß gerade nicht weiter. Schick mir ein Zeichen, Universum…
Und dann schau ich auf Facebook, und da springt es mich an: ein Angebot für drei Monate auf la Palma. Ich schlucke schwer. Drei Monate ist unendlich lang. Was würde das mit mir machen? Welche Veränderungen trüge das in mein Leben? Könnte ich das aushalten, so lange ein anderes Leben zu führen? Die Insel, sagt die Wohnungsmieterin, die ihr kleines Reich in dieser Zeit gewillt ist, zur Verfügung zu stellen, habe so etwas wie Skorpionenergie. Und schon fühle ich die feine, knirschende Trennlinie zwischen Jekyll und Hyde, zwischen Schmerz und Genuss, zwischen Salzig und Süß. Skorpionenergie ist die Energie meiner Kindheit. Zwischen Skorpionen bin ich groß geworden.
Diese Insel sendet einen unüberhörbaren Ruf aus. Der Ruf zieht an dem dünnen Draht, der zu meinem Herzen führt und zupft und rupft immer heftiger. Sie schüttelt mich aus der Ferne so, dass ich am anderen Ende anfange wie ein Fisch an der Angelschnur zu zappeln, zu tanzen, zu rocken. Und dann… sage ich zu.
Mutterfreud und Mutterleid (15 Minuten Schreibzeit)
Ich erinnere mich an deine Stimme, angeblich klang sie genau wie meine, bzw. umgekehrt. Ich spräche genauso und in derselben Tonart. Ich kann dich in meinem Kopf immer noch sprechen lassen, wenn ich möchte. Du hast mich am Schluss Jahre lang nicht mehr richtig gehört, obwohl dein Hörgerät maximal laut eingestellt war. Bei Kindern gibt es das, dass sie muttertaub sind. Bei dir war es wohl kindertaub. Alles andere hörtest du gut.
Ich hörte dich aber auch nicht so gut. Vieles, was du mir erzählt hast, ging zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Jetzt wünschte ich manchmal, ich könnte dich fragen, aber das geht nicht. Niemanden in der Familie kann ich mehr irgendwas fragen.
Deine Augen waren grau, könnte man meinen, aber wenn du neben dem Pool saßest, waren sie türkis. Das war vielleicht auch die Freude über den Pool und das Grün rundherum und die vielen Vögel in den Bäumen. Besonders die Amseln hast du geliebt – den Erich und die Erika. Die waren für dich sehr wichtig, Symbole für Botschaften. Auch wenn sie wohl alljährlich andere waren. Zum Glück. Denn die Katzen haben da manchmal leider Furchtbares angestellt.
Katzen waren aber für dich ein Quell der Freude. Als ich auszog, hieltest du dir als Ersatz die Katzen. Bis zu 13 Stück bevölkerten Haus und Garten. Aber nicht alle durften aufs Sofa.
Du warst eine künstlerisch sehr talentierte Frau, hattest Modezeichnerin studiert, aber dann als Zahnarzthelferin gearbeitet. Denn du wolltest immer bei deinem Mann sein, Tag und Nacht. Dadurch wurdest du die Frau Doktor, und das war dir sehr recht. Ab und zu hast du auch noch ein bißchen gemalt.
Du warst eine bildschöne Frau, viele hielten dich für eine Schauspielerin, einen Star. Besonders im Urlaub machtest du Furore. Aber eigentlich wärest du nie für die große weite Welt geschaffen gewesen, das lag dir nicht, so viele Leute, die Aufregung. Du hast deinen Kreis zu Haus auf so wenig Menschen wie möglich beschränkt. Ich glaube, darunter hast du keinesfalls gelitten, das war genauso, wie du es haben wolltest: genau eine Freundin hatte drin Platz, so einmal im Monat, und eine Brieffreundin in der Schweiz. Selten rieft ihr einander an. Dann sprachst du Schwyzerdütsch mit ihr, da wurdest du mir ganz fremd.
An mir hattest du ab der Pubertät nicht grundsätzlich so viel Freude, das hast du mir schon sehr oft klar gemacht. Infolge dessen war unser Verhältnis über lange Zeiten sehr angespannt. Aber als du dann allein warst und krank, war ich aber da. Wir haben sehr viel miteinander durchgestanden, und du konntest dich auf mich verlassen. Dadurch hast du erfahren, dass du doch eine vorzeigbare Tochter hast. Ich denke, das hast du dann auch gewusst. Gut, dass ich es wenigstens dann im letzten Jahr deines Lebens auch endlich gewusst habe. Denn da hast du angefangen, mir das zu sagen. Lange hat es gedauert…
Heute ist dein Geburtstag. Sei mir gegrüßt da drüben! Früher hast du da von mir unzählige Geschenke und ein langes Gedicht bekommen. Das Auspacken übernahmen mit Vorliebe die Enkel, vorgelesen habe ich selbst, so hatte jeder seine Freude. Und nun sendest du mir manchmal Botschaften. Ich finde Federn an Orten, wo man keine erwartet. Eine sanfte Brise aus einer anderen Welt weht mir deinen Gruß herein in die meine.
Steuererklärung
Was ich im Laufe des Jahres am meisten hasse, ist die Steuererklärung. Die schiebe ich so lange raus, wie es irgend geht. Da ich einen Steuerberater habe, ist das eh schon ziemlich lange, was ein Problem ist, weil die Krankenkasse zwischendurch immer wissen will, wieviel ich denn jetzt grad verdiene, bzw. wieviel sie mich schröpfen kann. Und da gibt es dann halt keine Daten, denn ich hänge ja zwei Jahre hinterher.
Auf jeden Fall ist die Steuererklärung sehr lange Zeit ein Grund für maßloses Prokrastinieren. Und irgendwann ist sie ein Grund dafür, wieso ich alles andere lieber mache, bloß nicht in den alten Quittungen zu wühlen. Eigentlich habe ich sie ja ganz ordentlich nach Themen abgelegt. Aber die dann alle zu sichten und aufzulisten, oh Mann, es gibt echt Schöneres! Als da wären z.B.: Fensterputzen, Wäscheberg des ganzen Jahres bügeln, mal meine Schallplatten sortieren, ach ja, die Bücher könnte ich mal diesmal nach Farbe ins Regal stellen, im anderen Regal nach Größe. Ups, wieso hab ich so viele Schuhe? Da muss ich dringend mal probieren, welche mir noch passen und welche mir noch gefallen. Und ja, die Gefriertruhe könnte ich abtauen, und nächstes Jahr im Mai hat eine Freundin Geburtstag, für die könnte ich jetzt was basteln, es ist wirklich Zeit dafür. Und das Allertollste ist auch in diesem Fall: ich schreibe einen Schnipsel. Hier ist er! Bitteschön.
Heute brauch ich dann mit dem Ordnerwälzen auch nicht mehr anzufangen, jetzt ist es schon so spät, da tun mir dann bloß die Augen weh, das Licht ist so schummrig. Vielleicht morgen. Oder, ach was, nach dem Urlaub ist auch noch ein Tag! Bin ja nur drei Monate weg.
Herzklopfen – mein Lieblingsgeräusch
Ich hetze die Treppe hoch – soweit ich das noch kann, also einen Fuß hoch, den anderen auf dieselbe Stufe, den ersten Fuß wieder hoch. Affenzahn kann man es nicht nennen, Schneckentempo ist es aber auch nicht. Sieht wahrscheinlich aus wie die Wanderungen des schottischen Wolpertingers namens Haggis. Bei dem ist nämlich angeblich ein Bein kürzer, damit er am Berg seitlich entlanglaufen kann. Das Resultat ist auf jeden Fall: mein Herz schlägt wie wahnsinnig.
Manchmal macht so ein Herzerl allerdings auch Eskapaden. Dann kriegt es einen Schrittmacher, damit es sich wieder benimmt. Hoffentlich brauch ich das nicht auch irgendwann. Meinen Ex hat es gerade ereilt.
Auf flachem Terrain kann ich relativ gut laufen, aber kommt auch nur die geringfügigste Steigung: Herzrasen, rotes Gesicht, Schweißausbrüche. Seit frühester Kindheit. Da liegt ein Fehler vor. Aber Hauptsache, ich hab ein Herz. Ein Herz für viele, ein Herz für Freunde, ein Herz für Dich und mich. Vor allem für mich natürlich, ich Egoist. Von Euch allen brauche ausgerechnet ich mein Herz am meisten, ihr habt ja eure!
Ich wasche das Geschirr, auf einmal sehe ich aus dem Augenwinkel was übers Waschbecken huschen, was Braunes, Undefinierbares. Mein Herz stolpert und fängt an zu rasen! Bis ich feststelle, es war nur die Aufhängschnur meiner Spülbürste und keine grässliche Riesenspinne. Puh. Cool down, kein Grund zur Panik! Auf die Art von Überraschung kann ich jedoch ganz gut verzichten.
Trotzdem: Pumperlgsund bin ich also, denn solange das Herz noch schlägt, ist alles gut!
Wenn du schreibst, ich komm morgen vorbei: Herzklopfen. Die gute Art. Die allerschönste! Vorfreude! Was, wenn es die nicht gäbe. Die hält den ganzen Tag vor, auch wenn das Herz nicht 24 Stunden auf Volltouren mit zum Platzen gefüllten Adern dahinrast, zum Glück. So viel Freude könnte dann doch niemand aushalten.
I got you under my skin
Die Haustür geht auf, leise schleicht er hinein. Ich habe ihn trotzdem gehört. Denn ich habe die ganze Zeit auf ihn gewartet. Freudig komme ich ihm entgegen. Mit Taschen in jeder Hand versucht er sich an mir vorbeizudrücken, aber er entkommt mir nicht. Geht doch gar nicht! Erst mal muss er fest gedrückt werden! Die Fahrt ist vorbei, der Stress darf jetzt langsam abfallen. Trotzdem, er muss alles reintragen, so will es das Protokoll. Und dann erstmal Kaffee. Ich schaue ihn an. Was hab ich erwartet, natürlich trägt er schwarz! Natürlich schaut er grade etwas gehetzt aus. Aber das wird vergehen.
Und das vergeht, so wie die Zeit mit ihm. Wir sitzen und reden. Und reden und reden. Und wir werden immer alberner dabei. Und wir lachen immer lauter. Und mein Herz hüpft immer glücklicher, denn so wie mit ihm kann ich mit niemandem sonst reden.
Mein Hirnchen mahnt zur Besonnenheit: „schau ihn an und frag dich: Was ist das?“ spricht der Veit in mir. Soll heißen, eigentlich ist „das“ eine eigene Welt. Das. Der. Er… Aber es gibt da eine offene Stelle in dieser Welt, und da schlüpfe ich rein. Und er schlüpft in meine. Und die Welt ist nicht mehr eigen und fremd, sondern unsere. Und die Besonnenheit kann bleiben, wo der Pfeffer wächst! Den streu ich übers Essen und dann ist sie hoffentlich ein für allemal weg. Und wir ein für alle Mal scharf auf unsere Gespräche und unsere Erlebnisse und unsere Entdeckungen und einander. Schon zwei Uhr morgens? Oh Mann. Wir sollten langsam schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.
Bunt sind schon die Wälder…
Goldener Herbst soll angeblich sein. Für die nächste Woche in meiner Stadt zeigt die Wetter-App aber Nebel, Wolken und lausige Temperaturen. Mit so einem Wetter habe ich nichts am Hut! Und ich mag auch nicht gern mit Hut rausgehen, wenn mir der Nebel sonst auf die Haare nieseln würde, auch wenn die Feuchtigkeit vielleicht für meine Gesichtshaut gut wäre. Da habe ich lieber Meeresgischt drauf! Bei sommerlichen Temperaturen, versteht sich.
Aber was soll's, es ist halt hier mal so, ich lebe in einem Land mit vier Jahreszeiten, und davon sind drei nicht so ganz mein Fall. Da muss ich durch! Oder ich sitze halt zu Hause und beschäftige mich so, dass ich nicht mal merke, was draußen vor dem Fenster vor sich geht.
Wunderbare Methoden gibt es da zu Hauf! Am Laptop rumhocken allen voran, gefolgt von im Bett liegen und aufs Handy glotzen. Wenn der innere Schweinehund aber genug vom Faule-Socke-Spiel hat, schickt er mich gern in die Küche, kreativ sein mit dem, was grad im Kühlschrank noch grenzwertig essbar ist. Oder ins Nebenzimmer, wo meine Mosaiksteine schon länger hoffnungsfroh meiner harren. „Ob sie mal wieder vorbeikommt? Wir wären doch sooo schön auf diesem Treibholzstück vom letzten Urlaub!“
Im Wohnzimmer hätte ich reichlich DVDs, die alle noch nicht angesehen wurden, und dann hab ich ja auch noch eine Bibliothek. Und im Gang lauert mein Klavier: „Halt – hiergeblieben! Nicht einfach rumsummen, die Melodie kannst du doch auch auf mir probieren! Hopp, streng dich mal ein bisschen an, du wirst sehen, nach ein paar Minuten spielst du die schon mit Begleitung!“ Wenn ich dem nicht nachkomme, wird es wütend und knallt mir beim nächsten Mal, wenn ich improvisieren will, bestimmt unverhofft den Deckel auf die Finger.
Und draußen vor dem Haus liegen trostlos die bunten Blätter. Sie recken ihre Bäuche nach oben in der Hoffnung, ich käme mal hinaus. Wie gerne wären sie begutachtet, aufgehoben, hineingebracht und zu einem Dekogebilde vereint, so lange sie so schön farbig sind, oder wenigstens zusammengekehrt, damit niemand auf ihnen ausglitscht.
Aber das Haus hat mich fest im Griff und hält mich an der kurzen Leine. 160 Schritte am Tag sind doch genug! Außerdem hab ich eine Fitness-App. Altersgerechte Seniorengymnastik im Sitzen auf dem Stuhl. Die vermisst mich allerdings auch.
Ein Gluckern im Baum (15 Minuten Schreibzeit)
Manon ging bedächtig durch den Garten. Sie bemühte sich, keine nassen Schuhe zu bekommen, die waren aus Wildleder. Außerdem rot. Wenn irgendetwas daran nass wurde, sah das ganz schwarz aus. Und nachher fuhren sie ja zu den Großeltern. Da sollte sie doch schön aussehen. Sie hatte den rotkarierten Schottenrock mit der großen Sicherheitsnadel an, die ihn seitlich zusammenhielt, eine weiße Bluse mit dämlichem steifen Kragen und oben ein rotes Gilet mit Knöpfen aus ebenfalls roten Marienkäfern. Alles hatte ihre Mutter entworfen und ihre Oma für sie genäht. Sie passte ziemlich haarscharf hinein, bewegen war kaum mehr drin.
Da hörte sie aus einem der Bäume ein seltsames Geräusch. Es klang, als schüttle jemand ganz langsam immer wieder eine Flasche, die nicht ganz voll war. Es gluckste, als stiegen große Blasen auf. Manon konnte sich keinen Reim darauf machen, was da wohl in diesem Baum los war. Er war nicht allzu hoch, hatte unten ein paar Äste schon bald in Bodennähe. Da konnte man ja mal kurz drauf steigen und nachschauen. Das musste jetzt sein. So etwas hatte sie ja noch nie gehört!
Von den untersten beiden Ästen aus konnte sie allerdings auch nicht erkennen, was weiter oben vor sich ging. Das Geräusch war immer noch da. Sie hielt sich an den nächsten Ästen fest und schwang sich auf den darüber liegenden Ast. Ein Klimmzug war nötig, und dann musste sie sich mit den weiß bestrumpfhosten Beinen am Baum anklammern und ein bisschen hochrobben, denn zwischen diesen Ästen und den nächsten war der Abstand leider ein bisschen zu groß. Endlich hatte sie die Krone erreicht.
Sie spähte in den Baum hinein und sah, dass er innen hohl war und mit Wasser gefüllt, bis ganz oben hin. Der Himmel spiegelte sich wunderschön blau in diesem Wasserloch, und von Zeit zu Zeit stieg eine große Blase an die Oberfläche und verursachte das Geräusch. Manon war ganz hingerissen von dem musikalischen Baum, denn die Blasen klangen nie ganz gleich. Manche sandten einen tiefen Ton aus, manche einen hohen.
„Manon, wo bist du? Wir fahren jetzt!“, erklang die Stimme ihrer Mutter ungeduldig über den Garten zu ihr hin. Oh je, das hatte sie ja ganz vergessen! Traurig rutschte Manon vom Baum hinab, was ihr leider einen Riss unter der Achsel ihrer Bluse einbrachte. Außerdem hatte sie rote Kratzspuren, die durch die Strumpfhose hindurchsickerten. Die Sicherheitsnadel war aufgegangen und der Rock hatte sich vollständig verschoben, so dass ihr Bauch in der Stumpfhose zu sehen war. Der Rock wurde nur noch notdürftig durch das schwarze Lackgürtelchen an ihr gehalten. Als sie noch einen Blick zurück in den Baumwipfel warf, sah sie dort oben ihre weiße Haarschleife im Wind flattern. Oh je! Und ihre Hände waren auch ganz schwarz von der Borke des Baums.
Irgendwie hatte sie das ungute Gefühl, dass es gleich Ärger geben würde. Aber das war es wert gewesen! Sie hatte einen singenden Baum entdeckt. Wenn sie von den Großeltern zurückkam, wollte sie gleich wieder zu ihm gehen und ihm zuhören. Der Baum sollte nun ihr bester Freund sein. Sie lief schnell noch einmal zurück zu ihm und umarmte ihn. „Bis später, mein einziger Freund!“, flüsterte sie ihm zu. „Ich muss jetzt weg! Warte hier auf mich bitte!“
Als sie ihr Donnerwetter abgeholt hatte, und im Auto, frisch eingekleidet mit einem anderen ungeliebten Sonntagsgewand (einem orangefarbenem sehr kurzen Kleid mit einer Brillantbrosche in Schleifenform) und nun angetan mit einer schwarzen Strumpfhose, damit nicht etwa auch auf dieser Blutflecken zu sehen wären, musste sie erzählen, was der Grund für den schrecklichen Zustand ihrer Kleidung gewesen war. Die Fahrt dauerte eine Stunde. Sie konnte nicht auskommen.
Der Vater war entsetzt von dem, was sie berichtete. Der Baum war also innen faul. In der folgenden Woche fällte er den Baum, und aus der besten Freundschaft aller Zeiten wurde somit nichts. Manon hasste ihn jahrelang für seine Freveltat.
So nah ist sein Mund ihr beim Sprechen, dass er sie mit den Worten berührt.
(Zitat aus: Jenny Erpenbeck, Kairos)
Gelegentlich, wenn er ein bisschen verschmitzt antwortet oder die Erregung ihn übermannt, offenbart seine schöne, etwas raue Stimme einen leichten Kiekser. Wie damals bei meinem ersten Freund, als ich 16 war, denkt sie sich und erschauert ein bisschen angefühls der wunderbarer Erinnerungen.
Er kommt ihr noch ein bisschen näher und flüstert direkt an ihrer linken Wange, so, dass sie seinen Atem warm und feucht spürt, dass er sich sehr viel Hoffnung gemacht habe diese Woche, sie heute wieder zu sehen, aber sich nicht sicher gewesen sei, dass sie auch kommen würde.
Doch, sie war aber zum Treffpunkt gekommen. Auch sie hatte die ganze Woche gewartet. Eigentlich sehnsüchtig.
Darf man so etwas bei einem zweiten Date denn sagen? Sicherheitshalber behält sie es für sich, es fällt ihr aber schwer. Er könnte sie tief verletzen, wenn irgendetwas vorbeigelänge, wenn sie das Gefühl hätte, sie mache sich vielleicht klein und lächerlich.
Was auch immer sie heute sagen und tun werden, wenn alles gut geht, werden sie es für immer in ihren Herzen behalten. Wenn es schief geht… darüber will sie jetzt gar nicht nachdenken. Glaube nur an das Gute, denkt sie ganz bei sich und sieht ihn fest und hoffnungsvoll an.
Weißt du, sagt er genau da, du siehst für mich einfach aus wie eine, die immer an das Gute glaubt, weil du selber so gut bist. Lass mich dich niemals enttäuschen!
Und in diesem Moment, als ihre Gedanken sich so überlappen, verfallen ihre Herzen in ungestümen Galopp und brennen zusammen durch.
Das tiefe Wurzelwerk
Ich bin verwurzelt in Bewegungen, die durch Musik ausgelöst werden, ich schwinge in ihnen, bin aber untrennbar an den Boden gebunden. Es ist mir nicht mehr möglich zu springen, somit hat mindestens ein Fuß stets Kontakt zum Boden, wenn die Musik mich schweifen und wehen lässt, wenn sie meinen Körper bewegt, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Er biegt sich und schüttelt sich, er wird gehoben und gesenkt, der eine Arm folgt der Gitarre, der andere dem Klavier, der Kopf nickt mit dem Bass, die Füße replizieren den Beat des Schlagzeugs und die Extraschnörkel zwischendrin und der Rumpf bringt zum Ausdruck, welche Stimmung die Melodie mir einflüstert. Ich bin die Musik und ich werde gespielt. Sie durchdringt mich und bindet mich fest im Raum, in dem ich barfüßig den Teppich streichle.
Ich bin verwurzelt in Gerüchen aus der Kindheit. Etwa wie der Regen roch und die Erde im Sommer, wenn es gerade geregnet hatte. Wie ausgerupftes Gras duftet und frisch gemähtes Heu. Wie das Heu dann wunderbar berauschend das Herz vor Wonne zittern lässt, wenn die Sonne es getrocknet hat. Wie Schreibwaren im Geschäft riechen, das Papier, die Radiergummis, die Klebestifte, Filzstifte und Bleistifte mit Melonenduft. Und auch wie verheerend der Tintenkiller stank, der, als man noch einen Stift ablecken musste, der auch genauso ekelhaft schmeckte, wie er roch. Ich mag den Geruch, wenn der Bauer aufs Feld gefahren ist, wenn die Gülle von Ferne, nunmehr etwas dezenter, herüberweht. In meiner Heimatstadt kam ich an einer Brauerei vorbei auf dem Heimweg. Da bekam ich jedesmal Hunger, wenn ich das einatmete, was es da zu erschnüffeln gab. Feuchte Wolle riecht auch nach Kindheit. Und sumpfiger Schlamm am Rande des Weihers. Und Speck. Immer wieder Speck.
Ich bin verwurzelt in den Farben meiner Kleidung, in der Buntheit des Wandbehangs und der leichten Dissonanz in der Harmonie der Mosaikfliesen, die ich zu einer Tischfläche zusammengefügt habe. Ich halte mich fest an dem Aufleuchten und Vergehen der Farbwandellampe und streichle dankend das Petrolgrün des Sofas, das mir den sicheren Halt eines friedlichen Sommertags bietet, ein Tag, an dem alle Farbtöne perfekt und schattenschleierfrei zur Geltung kommen. Sie bedeuten mir, dass mein Leben voller Freude und Schönheit sein darf. Dass ich die Freiheit habe, zu genießen, dass ich dem Herbst in mir trotzen darf, mich nicht langweilig anpassen muss, um nicht aufzufallen und irgendwie dazuzugehören. Eine gefühlte Lichtergirlande verbindet sich mit meinem Herzen und meiner Seele.
In bin verwurzelt über mein Spiegelbild mit meinen Ahnen. Seh ich in den Spiegel, zeigt sich mir, dass ich stark bin, dass ich jedes Übel überwinden werde, dass ich mich befreien darf aus alten Verstrickungen und von traurigen Geschichten, die den Ahnen zugestoßen sind. Ich darf mein eigenes, völlig anderes Leben führen, ich darf wieder auferstehen, wenn ich niedergeworfen wurde. Ich muss mich nicht durchbeißen, die Zähne zusammenbeißen, bis es bröselt, ich darf weitmündig lachen und strahlen. Ich strahle mich an und sehe doch in meinem Gesicht meine Mutter, meinen Vater, meine Oma, meinen Opa und meine Urgroßmutter mir entgegensehen. Und sie freuen sich mit mir, dass ich für sie frei und glücklich sein darf in einer Weise, in der sie es nicht konnten.
Ich bin verwurzelt in Erinnerungen, die ich festhalten will. In guten und in schlechten. Die schlechten habe ich inzwischen verbessert, es ist mir gelungen, ihnen etwas Gutes abzugewinnen, so dass sie nicht mehr schlecht, sondern stattdessen nützlich geworden sind. Oder sie solange hin- und herzuwälzen, bis sie einen weißlichtrüben Schimmer bekommen haben wie pastelliges Meeresglas, das man am Strand finden kann. Nun sind sie unschädlich, sie schneiden nicht mehr. Und die guten sind meine Anker, an denen ich mich festhalten kann, wenn es im Jetzt gerade knirscht und bremst. Ich darf mich erinnern, wie ich damals glücklich war, wie sich damals der Wind auf meiner Haut angefühlt hat, wie ich damals unbeschwert war. Nein, diese Erinnerungen werfe ich nicht über Bord, verpacke sie auch nicht in Kisten, verstecke sie nicht im hintersten Keller. Ich lege sie in schöne Schalen und stelle sie auf den nunmehr reichgedeckten Gabentisch und freue mich an ihnen.
Sport ist Mord
Ab und zu bekomme ich so merkwürdige Anwandlungen. Da komme ich auf die Idee, dass es doch vielleicht mal gut wäre, ein bisschen mehr Sport zu treiben. Insbesondere für meine Figur. So viel Figur hatte ich früher doch noch nie!
Angefangen hatte ich mit einer Wobbelplatte. Da stellt man sich drauf und sie schwappt einen gründlich durch. Man darf auch ein paar Streckübungen drauf machen, dann vibrieren andere Muskeln. Theoretisch bekäme man davon mehr Muskeln und weniger Fett und das Chi im Körper käme auch in Wallung. Da ich aber jetzt eingebaute Metallteile im Körper habe, die das rauswackeln könnte, darf ich das nicht mehr. Mist. Das hatte mir nämlich Spaß gemacht.
Alternativ sollte ich doch jeden Tag eine halbe Stunde spazieren gehen. Den Vorsatz habe ich jetzt schon mehrfach gefasst. Er hält dann erfahrungsgemäß von Januar bis Anfang März.
Oder da ist dieser pinkfarbene Hoolahoop-Reifen, an dem ein Gewicht befestigt ist. Der kann nicht runterrutschen und sitzt ein bisschen locker um die Hüften. Man kracht und scheppert damit durch die Gegend, ein Geräusch, das über eine halbe Stunde ziemlich nervenaufreibend ist, denn die angehängte Kugel fährt über eine Art Eisenbahnschwellentrasse. Ich habe dazu Episoden von Sex and the City angeschaut - mit Untertiteln, denn verstehen kann man ob des Lärms dann gar nichts mehr. Keine Ahnung wieso mir Mr. Big irgendwann zu viel wurde. Das Chi wallte da irgendwie doch nicht so richtig, jedenfalls liegt der Reifen unbeachtet wie ein rosa Wurm in der Ecke und weint leise vor sich hin.
Ebenfalls im Wohnzimmer kauert, bereit zur Attacke, eine Art Steinbock. Es handelt sich, wie der 2. Blick zu erkennen gibt, um ein riesiges Ergometer. Es wäre gern bestiegen und würde sich freuen, endlich wieder davonzupreschen, oder wenigstens gemäßigten Schrittes unter mir vor sich hinzugleiten, obwohl es ja Power wie ein Panzer hätte. Aber ich halt nicht. Ich habe es ausgesteckt und nutze es bei meinen gelegentlichen Sensitive-Dance-Abenden, um mich daran festzuhalten und zu schwingen, während ich tanze. Es ist nämlich schwer genug dafür, das passende Gegengewicht zu bieten, quasi wie ein Tanzpartner.
Als ich neulich beschlossen habe, mal wieder Rad zu fahren, hat es mich ja fatal auf die Straße gelegt. Das Rad darf sich davon sicher erstmal mehrere Saisons im Schuppen erholen.
Des Dienstags bin ich in einem Wohlfühl-Salsarhythmen-Kurs eingeschrieben, der allerdings öfter mal ausfällt. Wenn er aber stattfindet, was mir Freude bereitet, schikaniert mich jedoch mein Schuhwerk bzw. der blöde Zehennagel so dermaßen, dass ich kaum was zustande bringe und dazu kommt dann, dass mein Rückgrat es nicht leiden kann, wenn ich längere Zeit im Stehen keine oder nur kleine Bewegungen mache. Hinterher bin ich jedenfalls gerädert, futtere frustriert den nächstbesten Süßkram in mich hinein (schließlich habe ich ja auch 68 kcal abgenommen!) und lege mich maulend ins Bett.
Im Sommer bin ich eine Zeitlang gerne geschwommen. Wenn ich mich mal überwinde, dann bin ich auch ganz schön weit unterwegs und hinterher sehr froh, dass ich das getan habe. Aber wenn man einen Pool hat, fährt man nicht mehr wirklich oft an den See. Und in der blauen Pfütze kann ich drei Meter vor und drei zurück schwimmen. Nach kurzem ist das langweilig. Die Muskeln stählt es jedenfalls nicht.
Aktuell habe ich eine App heruntergeladen, mit der ich jeden Tag nur so zehn Minuten rumfuchteln soll. Im Sitzen auf dem Stuhl, denn dann muss ich mich nicht so anstrengen. Als ich herausfand, dass es in diesem Kurs ganz egal ist, wenn ich auch mal ein paar Tage aussetze, und mir trotzdem noch frohgemut entgegengeschmettert wird: „Willkommen bei Tag 18!“ ohne irgendwelche Punktabzüge oder Ermahnungen, da war mein Enthusiasmus irreparabel gebrochen. Ruhe in Frieden, liebe App. Willkommen, niedlicher Bauchspeck. Wie schön, dass du da bist! Naja, man muss immer zufrieden sein mit dem, was man hat!
Das Drama der unleserlichen Handschrift
Sie nahm das Buch über Kalligrafie im Iran aus dem Regal, in dem sie vor langer Zeit steckengeblieben war. Heute wollte sie mal endlich weiterlesen. Hoffentlich konnte sie sich noch halbwegs an den ersten Teil erinnern! Da fiel ihr zum Glück ein Zettel in die Hand, den sie als Lesezeichen verwendet hatte. Das ist doch schon ein Anfang! Bis hier bin ich jedenfalls gekommen.
Gedankenverloren sah sie auf den Zettel. Den hatte sie selbst geschrieben. Aber in was für einer krakeligen Schrift! Sie erinnerte sich, dass sie damals ja mal einen Gips an der Hand hatte, beim Tanzen hatte sie sich den Finger gebrochen. Dann musste sie mit der anderen Hand schreiben. Es war offensichtlich etwas Wichtiges, denn es war aufhebenswert. Aber was auch immer auf diesem Zettel stand, sie konnte nur einen Teil davon entziffern:
Wann auch immer du das …. Deiner eigenen … bemerkst, solltest du sofort die Reißleine ziehen.
Aber was dazwischen stand, war einfach nicht herauszufinden. Komm schon, du schreibst doch mit der linken Hand genau dieselben Buchstaben wie mit der rechten? Hätte sie jedenfalls gedacht. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie ging zu ihrem Sohn ins Zimmer und fragte ihn. Der konnte es aber auch nicht lesen.
Im Gang hörte sie die Nachbarin sprechen. Mit einer anderen Nachbarin. Sie lachten beide laut. Ja, dann kann ich vielleicht schon stören. Sie ging hinaus. Darf ich auch mitlachen, fragte sie frech, bat dann aber gleich um Unterstützung bei der Dechiffrierung der eigenen Hieroglyphen. Leider konnten auch die Nachbarinnen überhaupt nicht helfen, sie konnten nicht einmal den Rest des Zettels lesen.
So blieb die wundersame Sentenz ein Geheimnis, und als sie mit der Lektüre des gesamten Buchs längst fertig war, hatte sich immer noch keinen Schlüssel gefunden, warum der Zettel ausgerechnet in diesem Band läge.
Monate später holte sie ein Medikament aus der Apotheke. Da fiel ihr der Zettel in ihrem Portemonnaie ein. Apothekerinnen lesen bekanntlich Doktorenschrift ohne weiteres. So stellte sie einfach mal die Frau hinter dem Tresen auf die Probe. Kein Problem, sagte diese. Da steht: Wann auch immer du das Geschmier deiner eigenen Klaue bemerkst, solltest du sofort die Reißleine ziehen.
Das ergab Sinn.
Apfelmus
Mein Freund steht in der Küche und kämpfte einen unfairen Kampf gegen die Quitten, die nach dem Entsaften, wo leider fast nix dabei herauskam, nun durch die flotte Lotte gejagt werden müssen. Dank der blausäurehaltigen Kerne kann man die Überreste nicht einfach schreddern und so vermusen.
Das Ganze erinnert mich an meine Kindheit. Da hängte mein Vater oft gekochte Äpfel (oder auch Ebereschen) in einem Küchentuch zum Abtropfen über einen Topf und später dann stand ich mit diesem Siebgerät mit der Holzkurbel am Waschbecken und rührte und rührte. Die Ausbeute war meist nicht wahnsinnig ergiebig, aber ich hatte schon das Gefühl, dass ich im Schweiße meines Angesichts einen ganz erheblichen Beitrag zum Wohlbefinden und Überleben der Familie beigetragen habe.
Für die Wintermonate hatten wir stets genug Apfelmus (oder Vogelbeergrütze, da kam noch Sago hinein). Unsere Mägen waren damals wohl aus Kruppstahl, denn die Säure konnte ihnen nichts anhaben. Vor Zucker hielt mein Vater, der Zahnarzt, nicht sonderlich viel. Wenn ich heute von so etwas nur probiere, werde ich schon bestraft, gleich fängt mein Magen an zu brennen und schmerzen als hätte mich einer mit einem Schwert entzweigeschnitten.
Dann halte ich es lieber wie der frustrierte Lover der Bio-mio-Maid Ute (von Kopf bis Fuß in Jute) von EAV und geh zum Metzgermeister und sch… auf diesen Apfelkleister.
Abenteuer Sockenschublade
Ich suche mal wieder meine Lieblingssocken, die mit dem Silikonrand hinten, damit sie nicht von der Ferse rutschen. Dafür sind sie so winzig, dass sie auch nirgends über den Schuh hinausschauen, so dass es eher aussieht, als hätte ich gar keine an. Leider sind in dem Regälchen neben dem Bett, auf dem ich meine häufigst benutzten Socken bunkere, nur noch weiße, lilane und schwarze vorhanden. Mir steht der Sinn aber ausgerechnet nach den grünen, denn ich will die grüne Cordhose anziehen.
Wann habe ich die Socken denn das letzte Mal getragen? Im Wäschekorb sind sie auch nicht. Ich öffne die große Schublade unter dem Bett. In die könnte ich sie ja in einem Anfall geistiger Umnachtung getan haben, denn immerhin sind in der die gestrickten Wollsocken unterschiedlicher Provenienzen. Und gleich zu gleich gesellt sich ja bekanntlich gern. Natürlich geht die Schublade aber nicht richtig auf, ich kriege gerade mal die flache Hand hinein. Das Regälchen steht nämlich daneben.
Also fummle ich meine Hand mit Müh und Not wieder aus der Schublade heraus. Ich hatte ein Knäuel Socken gegriffen, aber mit diesem gemeinsam wollte die Hand nicht mehr heraus. Zu dick. Ich musste die Socken loslassen, und strumpflos den Rückzug antreten, denn sonst wäre ich für immer in der Schublade gefangen geblieben. Ohnehin sehe ich aus dem Augenwinkel, dass das besagte Knäuel nicht grün sein kann. Eher grau. Sieht man schlecht ohne Licht.
Also das Regälchen wegräumen. Schublade weiter aufziehen, ha, jetzt kommt Licht ins Dunkel! Jedenfalls im vorderen Bereich. Zwischen neckischen kunterbunten Kniestulpen, durchsichtigen Söckchen mit gestickten Blumen drauf, die allerdings völlig untauglich sind, da man zwar rein, aber nie wieder ohne brachiale Gewalt rauskommt (ich hebe sie auf für den Fall, dass ich mal geblümte Säckchen für das Verschenken von Schmuck bräuchte oder was auch immer mal besonders exklusiv verpackt werden müsste) und Strumpfhosen in knallrot aus meiner Pubertät (da passe ich garantiert auch nur noch zu 30 Prozent hinein, könnte ich vielleicht mal entsorgen), finde ich ganze Stapel einzelner, aus der Waschmaschine geretteter Socken in verschiedensten Farben, die allerdings alle nicht zusammen passen, und zwei Plastiktüten voller unsortierter Seidenstrumpfsocken.
Hier also nicht, vielleicht weiter hinten. Die Schublade ist sehr tief. Ich begebe mich auf den Boden und leuchte mit der Taschenlampe des Handys in die Untiefen meiner Frühzeit. Wieso sollte das Lieblingspaar Socken eigentlich genau da sein? Egal, jetzt bin ich dabei, ich will mal erkunden, was sich da noch alles findet. Ich räume also mit baggerartigen Energie etliche Dinge beiseite, nach denen ich schon länger gesucht hatte. Verschiedene Wärmekissen, ein elektrisches Fußbad, einen Gymnastikball, auf dem man sitzen kann. Den hat mein Sohn mal zum Geburtstag geschenkt bekommen.
Aha, hier ein Nackenmassagegerät, drei hölzerne Schuhspanner noch von meinem Vater (wo der vierte ist, bleibt für immer ein Geheimnis), ein Paket voller Laptopaufkleber, eine Kühltasche, die ich mal gewonnen habe. Was ist das hier? Die Kuscheltiere von meinen Kindern, zum Beispiel ein riesiges Kamel namens Djebrejil und eine Katze namens Molly. Die illustre Gesellschaft wird vervollständigt durch meinen alten abgeliebten und fast haarlosen Hund namens Jan und den ebenso recht kahlen Rübi, den Hasen. Hach! Ich muss einfach hinkriechen und ihn mal wieder fest drücken.
Da spüre ich eine heftige Bewegung, die gesamte Schublade verschiebt sich plötzlich, die Bretter unter dem Lattenrost schaben ganz knapp an meinen Haaren vorbei. Es wird stockdunkel, nur mein Handy leuchtet noch milde vor sich hin.
„Heyyyyy!“, schrei ich nach hinten. Aber zu spät. So oft hab ich meinem Freund schon gesagt, lass keine Schubladen offen, mach die Schranktür auch wieder zu, wenn du sie aufmachst. Heute durfte ich das wohl büßen. Jetzt bin ich hier drin und komme nicht mehr raus.
Die Socken, fällt mir ein, habe ich neulich spätabends mit der grünen Cordhose zusammen ausgezogen. Bestimmt hängen sie noch in den Hosenbeinen fest. Naja, ob ich heute noch ausgehen werde, steht jetzt eh in den Sternen des Bettbodenhimmels.
Vernissage
Ich setze mich auf den letzten freien Platz und lausche den einleitenden Worten. Dann beginnt die Musik, die zu dem passt, was in Farben um mich herumschwirrt. Die Musik umwallt mich in orange, purpurrot, durchsetzt mit korallenfarben, schwarz mischt sich mit ozeanblau und tannengrün, zwischendurch tanzt ein gelbes Flimmern hindurch. Es bildet sich ein Farbteppich, und wenn mein Blick zur Seite schweift, erkenne ich in den Bildern grobflächige Farbpalettenaufträge jedweder Couleur. Die meisten Bilder sind ungegenständlich, das kommt der Musik entgegen und verschwimmt in ihr und in meinem Kopf. Im Hintergrund setzt Gemurmel ein, da man der Musik offenbar, im Gegensatz zu der vorhergehenden Rede, keine Aufmerksamkeit schuldet. Das Gemurmel beginnt, sich mit Gelächter zu durchsetzen, es werden einzelne Frauenstimmen erkennbar, Wörter sind zu verstehen, ganze Sätze.
Nun sollte man wieder zuhören, denn vorne werden lustige Geschichten geboten. Es sind jeweils mit Müh und Not die ersten Zeilen zu verstehen, die Pointe geht im Stimmengedröhn der Hintermänner und -frauen unter. Die Freude an den Texten verstrickt sich mit dem Wunsch der Gäste, einander zu begrüßen oder erst noch kennenzulernen. Die Kunstliebhaber sind anscheinend hauptsächlich hier, um Menschen aufzusaugen, sich einzuverleiben. Direkt neben mir an der Wand ein Bild einer fleischfressenden Pflanze, die sich meines Erachtens gerade unsere Sonne einverleibt. Das passt ja gut. Sehen und gefressen werden. Strahlen und absorbiert werden. Die Farben und die Menschen, die Geschichten und die Musik werden alle eins. Ein Klangteppich in zerfließenden Farben. Und das mitten in einer Ausstellung von Wüste und Nachtischen, die ebenfalls verschmelzen zu einer Einheit unter dem selbstverflochtenen Titel Des(s)ert. Ich verlasse den Ort mit seinen nun miteinander verkochten Ingredienzen, als hätten man das ineinandergeschlungene Gewebe ausgepresst, und nur ich bin diejenige, die einsam in die Nacht hinaustropft, mit einem Kopf voller frischer Farben, die noch nach Krapplack, Karmesin und Zinnober riechen.
Tanz mal drüber nach
Bedrückt verließ er das Haus. Das Leben bereitete ihm gerade keine große Freude. Eigentlich war alles so mistig wie schon lange nicht mehr. Zur Ablenkung hatte er sich überlegt, er werde endlich mal einen Tanzkurs besuchen. Heute sollte es losgehen, aber nun hatte er schon stundenlang mit sich gerungen, ob er überhaupt hingehen solle. Tanzpartnerin hatte er keine. Man hatte ihm gesagt, er könne es probieren, einfach so vorbeizukommen. Unlustig hatte er sich überwunden, die gewünschte Sportkleidung angezogen, und nun fuhr er hin.
Als er ankam, waren drei Damen zu viel da. Eine ältere namens Olivia warf sich ihm gleich mit bestimmender Attitüde an den Hals. Er war einigermaßen froh, als sie nach einer Stunde zu müde war, um weiterzumachen. Die anderen beiden Damen waren inzwischen frustriert nach Hause gegangen. Nun stand er da mit leerem Arm und wusste nicht, was er tun sollte. Da forderte ihn die Tanzlehrerin auf. Erfreut begab er sich in ihre Obhut.
Aber was war das! Die Musik, die bisher eine dominante Rolle gespielt hatte, die Zählerei, die bisher den Takt vorgab, in dem die Paare sich wie ferngesteuert über das Parkett bewegten wie Marionetten mit überdimensional großen Schuhen, die stakelig ihre Pflicht taten, hatten sich auf einmal verwandelt in eine geschmeidige warme Hintergrundsymphonie, und im Vordergrund bewegte er sich wie eine einzige Energiewolke zusammen mit der Tanzpartnerin.
Es gab keine Fragen mehr und keine Antworten. Es gab nichts mehr zu reden und keine Anhaltspunkte mehr im Außen. Seine Körper war gefühlt mit dem ihren verschmolzen, nur die ersten paar Schritte hatte sie ihn geführt, und nun gelang alles wie von selbst. Sie schwebten gemeinsam über den Tanzboden, schweiften in großen Kreisen wie im Traum durch den Saal. Ob die anderen überhaupt noch anwesend waren, konnte er gar nicht mehr erkennen, denn es interessierte ihn nicht mehr, die Vorgänge im Außen zu beobachten. Sein Innen war zum Außen geworden, seine Körperlichkeit und ihre starke sexuelle Ausstrahlung, die untrennbar von der Musik von ihm Besitz ergriffen hatte, hatten sich vereint, und die nächste Viertelstunde hätte er nicht mal mehr sagen können, ob er noch Mann oder bereits Frau sei, und es war auch nichts mehr relevant außer der fließenden ekstatischen Bewegung.
Als sie ihn sanft beiseitestellte, den Abend für beendet erklärte und sich bei allen für ihr Kommen bedankte, schwirrte ihm immer noch der Kopf. Er konnte nicht fassen, was da eben passiert war. Die Tanzlehrerin lächelte ihm zu und zwinkerte einmal bedeutungsvoll, so dass es niemand außer ihm sehen konnte, dann war sie in einer Tür am Ende des Saals verschwunden. Er hörte, wie sich dort von innen der Schlüssel drehte.
Wie würde er nun eine Woche aushalten können? Und was wäre, wenn nächstes Mal Olivia wieder da wäre? Hoffentlich kommt sie nie wieder! Wie in Trance fuhr er nach Hause und sehnte sich danach, in seinen Träumen heute Nacht noch weiter tanzen zu dürfen.
Flegeljahre
Als die Jungs klein waren, bemühte ich mich vergeblich, ihnen beizubringen, wie man anständig und schimpfwortfrei über die Runden kommt. Es war absolut verlorene Liebesmüh, was auch immer ich ausprobierte. Es gab zum Beispiel Punktebäume mit Äpfeln. Die Bäume hatte ich liebevoll gezeichnet und fröhliche, bunte Apfelsticker gekauft für jeden Tag, an dem Dinge gut liefen. Es dauerte schon eine ganze Weile, bis mal ein Baum voll behangen war und das gemeinsame Erlebnis, das dann als Gratifikation wartete, musste immer und immer wieder verschoben werden.
Dann versuchte ich es natürlich auch mit Verbessern. Ich korrigiere ja ohnehin ständig andere Leute, was denen meist nicht gerade viel Freude bereitet. Konsequenzen waren ebenso erfolglos wie Strafen. Eine drakonische Strafe war zum Beispiel für jedes Schimpfwort ein Geldstück in die „Klopapierkasse“ zu werfen. Schmutzige Wörter in die Toilette, sauber nachwischen. Wir hätten damals eigentlich Coronazeiten gebraucht, denn diese bunt beklebte Box war stets zum Bersten gefüllt.
Schimpfwörter durften nur im Badezimmer straflos verwendet werden, Anordnung von oben! Da gingen die Jungs dann hinein, sperrten die Tür zu und von außen hörte ich, wie sie sich eine Viertelstunde lang die absurdesten Wortkreationen an den Kopf warfen neben den altbekanntem unerfreulichen Kindergartenmitbringseln. Und sie lachten sich fast tot dabei. Manchmal musste ich auch schmunzeln, muss ich schon zugeben.
Jedenfalls hat keine der Maßnahmen jemals gewirkt. Genauso wenig wie die Verbote, außerhalb des Badezimmers minutenlang ekelhaft zu rülpsen oder donnernd einen fahren zu lassen. Es wurden sogar Wettbewerbe mit Freunden abgehalten, so dass man das Wohnzimmer wegen Geruchsbelästigung kaum mehr betreten konnte.
Irgendwie haben die Jungs es trotzdem geschafft, zu anständigen Menschen heranzuwachsen. Und wenn ich heute in Anwesenheit meines Sohnes etwa sowas sage wie „Ich finde das echt zum K*tzen!“ zuckt er heftig zusammen und stöhnt indigniert mit hochgezogenen Augenbrauen: „Mammmmmaaaa!!!“
Die schlechten Wächter
Morgen soll ich meine Werke für die Ausstellung „Kater“ in München anliefern. Da kann man ja zum Beispiel Katzen zeigen, oder jemanden, der sich noch vom Rausch des Vorabends erholt. Man könnte auch Doha in Katar zeigen, das klingt ja relativ ähnlich. Oder halt wie in meinem Fall: ein selbst zusammengestelltes Triptychon, bestehend aus einer flankierenden linken Wächterkatze und einer rechten Wächterkatze. In der Mitte, von ihnen mit Argusaugen bewacht und geschützt: Die Frauenkirche. Sehr stolz bin ich auf meine gute Idee, hier noch den Bezug zur ausstellenden Stadt herstellen zu können und hoffe außerdem, dass mein Lieblingswerk diesmal einen Käufer findet. Einen BMW-Abteilungsleiter vielleicht oder jemanden vom FC Bayern, oder noch besser: mein Werk wird Eingang ins Rathaus finden!
Das Bild dieser Münchner Sehenswürdigkeit habe ich schon vor längerer Zeit gemalt. Es ist eines meiner allerbesten Gemälde, und hat daher auch natürlich seinen Preis. Es war schon oft Gegenstand von Verkaufsgesprächen, aber immer hat sich die Sache dann recht schnell zerschlagen, wenn ich den Preis nannte. In Ausstellungen wurde es häufiger als alle anderen Bilder von mir fotografiert. Vielleicht ist es irgendwo bereits als Postkarte gedruckt unterwegs, und ich weiß nichts davon.
Heute jedenfalls habe ich meinen Lagerraum durchstöbert, in dem die im Atelier gemalten, schon länger trockenen Bilder in einem Regal schlummern bis sie zur nächsten Ausstellung wandern dürfen. Ich suche also auf dem ersten Regalbrett, dann auf dem zweiten, auf dem dritten und dann in jeder Ecke. Sicherheitshalber suche ich auch das ganze Atelier durch. Ich überlege verzweifelt, wo ich zuletzt ausgestellt habe, und rufe immer nervöser bei acht verschiedenen Galerien und Lokalen an, wo meine Werke gezeigt worden waren. Leider weiß ich nicht mehr so genau, was ich wo als Leihgabe zur Verfügung gestellt hatte. Das stellt sich jetzt als schwerwiegender Fehler heraus.
Das Bild ist einfach nicht auffindbar. Ich bin mir auch absolut sicher, dass ich es nicht verkauft habe. Verschenkt sowieso nicht, dafür ist es viel zu gut gelungen. Es könnte ja schließlich DAS Kunstwerk sein, das posthum mit meinem Namen in Schulbüchern abgedruckt wird! Aber nein, nur die Katzen sind da, stehen dekorativ im Gang gegen die grüne Wand gelehnt. Zwischen ihnen klafft eine große Lücke für die Türme. Die Katzen hatte ich ironischerweise ausgerechnet „die Wächter“ genannt. Nächstes Mal sollte ich vielleicht Dobermänner malen! Die haben mehr Biss.
Nun werde ich auf die Schnelle vielleicht doch noch ein Bild von leeren Flaschen auf dem Tisch und Fußboden malen müssen. Liegt nicht die wahre Kunst in der Auslassung?
Ich arbeite also die ganze Nacht durch, übertreffe mich selbst. Das nasse Bild auf den beiden Katzengemälden vorsichtig balancierend, um meinen schicken Vorstellpulli nicht zu verkleckern, komme ich am Auto an. Was blockiert denn hier den ganzen Kofferraum? Ein Bild liegt da quer, so dass nichts mehr hineinpasst. Ihr ahnt es schon… Genau. Die Münchner Türme.
Wie man sich selbst ein Bein stellt
Das kleine Gör hatte ein Faible dafür, ein bisschen Theater zu spielen. Es hatte vor allem Vollkommenheit erlangt in der Kunst, geschickt hinzufallen, so dass ein jeder dachte, es hätte eine Ohnmacht erlitten oder wäre schrecklich gestürzt. Wenn man dann hineilte, um dem Mädel zu helfen, wurde einem hexlich ins Gesicht gekichert, denn alles war nur eine Show. Sie hatte jeweils gut abgecheckt, dass sich zu ihrer linken Seite nichts befand, und dann fiel sie im passenden Augenblick theatralisch hin. Nach rechts und direkt nach hinten oder vorne gelang das nicht so gut, aber auf diese Seite war die Darbietung jedes Mal der volle Erfolg.
Im späteren Leben hörte das inzwischen große Mädchen auf, Stunts zu vollführen, denn da war der Abstand zum Boden deutlich größer geworden und die Schlagkraft hatte ebenfalls zugenommen. Stürze wurden in späteren Jahren mit hässlichen großflächigen blauen oder schwarzen Flecken bestraft, und so machte das ganze keinen Spaß mehr. Sie hatte außerdem gelernt, mit dem Mund mitzuteilen, wenn ihr langweilig wurde oder wenn ein Wechsel des Themas angebracht wäre, und musste nicht mehr auf diese Art und Weise die Unterhaltung der anderen Anwesenden unterbrechen.
Leider hatte sie auch ihr Geschick fürs fehlerfrei Hinfallen inzwischen verloren. Spektakuläre Szenarien eröffneten sich den Mitmenschen mit ihr des Öfteren, jedoch waren diese nun nie mehr mutwillig herbeigeführt. Ihr linkes Bein war ihr einfach ab und zu im Weg, vielleicht trauerte es ja den alten Zeiten nach, wo es sich gekonnt im rechten Bein verhedderte und einen fantastischen Effekt erzielt hatte.
Manchmal führten auch andere Unwägbarkeiten zu Unfällen mit unabsehbaren Folgen. Nur die kleinen Kinder haben keine Angst vor dem Hinfallen, denn ohne Hinfallen hätten sie ja niemals Laufen gelernt. Aber wenn man schon laufen kann, muss man halt wohl lernen, wie man nie mehr hinfällt. Oder sehr flexibel bleiben.
Vorhänge
Früher, ganz früher fand ich Vorhänge etwas Tolles. Man konnte sich nämlich dahinter gut verstecken. Außerdem änderten sie die Atmosphäre eines Zimmers, dann war der Raum plötzlich viel angenehmer beleuchtet, wenn der Vorhang geschlossen war und morgens das Licht in den Raum eindrang. Da konnte ein hellblaues Licht einen Touch von Frieden und Sicherheit geben, rot machte kuschelig, wohlig warm und gelblich-braune Töne erinnerten daran, dass man in eine Familie eingebunden war. Das waren die Farben der Vorhänge, die wir hatten. Es gab auch noch einen blickdichten, aber da kam halt keine Farbe ins Zimmer. Man sperrte das Draußen aus und war ganz auf sich gestellt.
Seit der damaligen Zeit hat sich mein Freiheitsbedarf recht geändert. Ich kann es nicht leiden, wenn irgendwo kein Licht hineinkommt. Zum Beispiel fühlte ich mich bei meinen langen Aufenthalten im Iran stets unterdrückt, weil die Vorhänge geschlossen gehalten wurden, damit kein böser Fremder einen Blick auf evtl. in der Wohnung auf- und abgehende Frauen erhaschen könne. Insbesondere westliche mit verwerflichem Gebaren, nämlich ohne Kopftuch und Mantel. Hermetisch abgeschlossen war man da, in einer Art von selbstgeschaffener Gefängniszelle privater Natur.
In meinen Räumen gibt es deshalb möglichst wenig Stoff am Fenster. Ich möchte einen Ausblick und das Gefühl haben, ich kann jederzeit da hinaus, bin niemandem Rechenschaft schuldig und habe stets den Überblick. In Wohnungen in einem oberen Stockwerk hatte ich am liebsten gar keine Vorhänge. Nur ich und der Himmel. Und unten bin es halt nur ich und die Bäume. Grün tut der Seele so gut. Es vitalisiert und beruhigt zugleich. Wenn man stressige Dinge erlebt und auf Grün schauen kann, ist man gleich wieder geerdet. Also: Vorhänge raus! Ihr habt hier kein Bleiberecht. Außer ihr seid durchsichtig und uneinengend.
Regen
Für mich bedeutet Regen einerseits etwas Grauenvolles, denn ich kann es überhaupt nicht ausstehen, wenn ich nass werde. Wenn ich draußen bin, kräuseln sich meine Haare, es juckt mich der Kopf, als sei ich komplett verlaust, und ich sehe aus wie eine alte Hexe. Meine Kleidung wird feucht und riecht muffig und unangenehm nach alter Wolle. Ich kann also wohl den Regen nicht leiden, weil ich danach mich selber nicht mehr mag.
Außerdem wird mir sehr leicht kalt, und dann würde ich womöglich krank. Ich bin kein Allwetterkind.
Andererseits ist Regen etwas Wunderbares, wenn er im Sommer fällt. Ich erinnere mich daran, wie wunderbar Regen im Garten riechen kann, wenn die Erde nass ist. Dann kommt dieser spezielle Geruch, der sich auch Petrichor nennt, hervor und überwältigt mich mit Erinnerungen an die Kindheit und an schöne Zeiten, wo ich mich noch der Natur verbunden fühlte.
Ich entsinne mich auch, wie ich im warmen Sommerregen als Teenie mit meiner ersten Liebe, die allerdings für die sagenhafte Anzahl von 24 Tagen mit meiner besten Freundin -nicht mit mir - liiert war, spazieren ging. Es war eher eine Art von „Singing and Dancing in the Rain“. Wir flogen zu dritt die Straße entlang und freuten uns darüber, dass dieser warme Regen fiel. Es schuf gewiss in uns allen Erinnerungen, die auch heute immer wieder mal hochsteigen und uns das Gefühl geben, das sei der beste Sommer aller Zeiten gewesen.
Frühstück
Es ist schwierig zu sagen, wann für mich eigentlich Frühstückszeit ist oder was ich eigentlich als Start in den Tag bevorzuge, denn das ist jeden Morgen anders. An manchen Tagen gibt es auch überhaupt nichts zum Frühstück, und es kommt direkt das Mittagessen dran.
An anderen Tagen frühstücke ich nachmittags um zwei, denn ich bin Spätschläferin und deshalb auch Spätaufsteherin. Im Laufe des Abends gibt es trotzdem noch ein Mittagessen und womöglich auch noch ein Abendessen.
An anderen Tagen gibt es in Fällen von höherer Gewalt (dazu gehören z.B. Handwerkertermine, Arztbesuche oder Hotelfrühstückszeiten) ein Frühstück morgens um acht. Das sind aber Tage, die mir im Allgemeinen wenig Freude bereiten, und wo ich dem Frühstücksei mit wenig guter Laune in sein einzelnes Auge starre. Außerdem kann man mich mit weichen Eiern jagen.
Sollte sich ein Gegenüber zu dieser nachtschlafenden Zeit an Ort und Stelle befinden, wird es meine Muffligkeit sicher bestätigen können. Manuela am Morgen verbreitet Kummer und Sorgen!
Mein Frühstück besteht in vielen Fällen einfach aus einem Joghurt oder ein paar Esslöffeln Müsli, manchmal aber auch einem riesigen ganzen Mango. Es gibt Tage, an denen ich mir einen Shake mache, in dem sich sehr viele gesunde Zutaten tummeln, z. B. (neben Wasser) frischer Ingwer, frischer Curcuma, frische Peperoni, Zimt, Olivenöl und vor allem Chlorella-Algen. Das Ganze wird im Smoothie-Maker klein gehäckselt und hat dann eine wunderschöne grüne Farbe.
Wenn ich in Hotels bin, greife ich am Frühstücksbuffet kräftig zu und probiere alles aus, was da geboten wird – außer Marmelade. Die hat bei mir nichts zu suchen, höchstens, dass ich mal einen Teelöffel voll davon in mein Müsli klatsche. Aber meistens esse ich dann Omelett mit Speck oder Spiegeleier mit Speck oder Rosenkohl mit Speck oder Datteln mit Speck. You get it – ich liebe Speck und Bacon in allen Variationen, und kann davon nicht genug kriegen.
Auf Früchte zum Frühstück freue ich mich immer. Im Achtsamkeitsseminar in Málaga gab es die verschiedensten herrlichen Fruchtsorten, die dort auf der Finca wuchsen: zum Beispiel Mango, Pfirsiche, Orangen, Bananen, Papayas, Ananas und andere Früchte. Die waren bereits wunderschön und appetitlich gestückelt. Mindestens zwei Portionen landeten dort in meiner Schüssel. Und zu Hause begann ich dann ebenfalls, Obst zum Frühstück zu genießen. Damit wird sogar eine Morgenmanu genießbar!
Ein altes Foto
Auf meinem Handy habe ich einen Ordner mit alten Fotografien aus meiner Kindheit. Diese habe ich aus verschiedenen Fotoalben meiner Eltern abfotografiert, da ich leider nie eigene Abzüge bekommen hatte. Inzwischen habe ich sämtliche Fotoalben geerbt, aber es sind so überwältigend viele, dass ich gar keine Lust mehr habe, sie anzusehen. Von meiner Kindheit gibt es nämlich nicht viel zu sehen, dafür aber von Urgroßverwandten, Ahnen, die ich allesamt nicht zuordnen kann, alten Möbeln und alten Autos.
Jedoch meinen Handyordner betrachte ich manchmal ganz gern, insbesondere wenn ein Jahrestag ansteht, z. B. der Geburtstag einer Tante oder meines Opas, oder wenn ich an meinen lieben alten Kameraden, das duldsame Meerschweinchen, denke oder jemandem zeigen möchte, was ich doch für eine großartige kleine Hexe war.
Auf den Bildern finde ich mich mit langen Haaren und langen Beinen und leider fast überall in Kleidern. Ich wurde immer dann fotografiert, wenn ich „ungemütlich“ angezogen war, denn, wenn ich süß aussah, gefiel das halt meinen Eltern, und auf jeden Fall musste ich immer an den Sonntagen, an denen wir zu den Großeltern fuhren, süß aussehen. Der Opa konnte Frauen in Hosen nicht akzeptieren, sie sollten in einem von ihm so benannten „Lalio“ auftreten (attraktiven Kleid) und eigentlich waren meine Eltern auch nicht viel anders eingestellt, aber für mich waren Hosen meine zweite Natur. Fotos wurden natürlich hauptsächlich dann geknipst, wenn Familienvereinigungen anstanden, und da die Familie sehr klein war, hieß das bei den Treffen mit den Großeltern. Ein Wochenende fuhren wir hin, und ein Wochenende fuhren die Großeltern zu uns. So wechselten wir uns immer ab. Und die kleine Manu musste stets ein Kleid anhaben.
Wie ich auch suche, Fotos von mir in Hosen scheinen nicht zu existieren. So als wären sechs Siebtel meines Lebens einfach ausgelöscht!
Meine amerikanische Freundin
Als ich noch ein spartanisches Bohème-Leben in der Mansardenwohnung führte, trat plötzlich ein Mädel in mein Leben, nachdem ich etwa zehn Jahre überhaupt keine wirklich gute Freundin mehr gehabt hatte.
Es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich meine direkte Nachbarin war und erst seit kurzem da wohnte. Sie sprach Deutsch, kam aber aus Amerika. Ich hatte Glück, eine der ersten zu sein, die sie traf. Da war grad auch eine Lücke in ihrem Leben, und so wurden wir beste Freundinnen.
Sie war in jeder Hinsicht außergewöhnlich: Sie hatte eine Stimme, die so rostig klang wie eine alte Regenrinne aus den 20er-Jahren, angeblich durch früheren exzessiven Drogenkonsum. Ihre Haare waren kurz und sehr frech geschnitten, während alle anderen Dauerwellen und Vokuhila-artige Frisuren zur Schau trugen. Und sie fuhr mit einem Skateboard in ihre Arbeit bei einem Konzern namens Apple, der mir damals noch überhaupt kein Begriff war. Ein Skateboard war damals etwas völlig Außergewöhnliches, so als sei es in Deutschland noch gar nicht erfunden worden. Und dann noch die Vorstellung, dass nicht ein frecher Bub mit 12, sondern eine junge Dame im Alter von 23 Jahren mit so etwas in die Arbeit führe – das war damals schon merkwürdig in unserer gutbürgerlichen deutschen Welt!
Eine ihrer Vergnügungen bestand darin, sich im vierten Stock auf das Sims des Fensters zu setzen, mit den Beinen draußen auf dem heißen Blechdach, und das Geschehen auf der Straße zu beobachten. Wenn sie Lust hatte, einen Nachbarn auf der anderen Seite des Hauses zu besuchen, balancierte sie einfach furchtlos über das klapprige, altersschwache Dach zu ihm und klopfte an sein Fenster.
Sie hatte viele interessante, völlig andere Ansichten als ich, war ziemlich polyamor, was mich damals beeindruckte und zur Nachahmung anregte. Überhaupt habe ich vieles von ihr gelernt. Zum Beispiel, dass Frauen nicht nur zum Kochen tauglich waren wie meine Mutter oder die beiden Omas. Zum Beispiel schenkte sie mir zum Geburtstag einen kirschroten Klodeckel und montierte ihn auch gleich selbst. Wenn etwas kaputt ging, reparierte sie alles.
Sie war gleichzeitig auch die erste Frau in meinem Leben, die den Haaren auf den Beinen zu Leibe rückte, und wenn sie auf die Toilette ging, fand sie es völlig überflüssig, dabei die Tür zu schließen. Das war eigentlich der Ort, von dem aus sie die tiefschürfendsten Unterhaltungen mit mir führte. American Style halt. Obwohl meine Großmutter Amerikanerin war, ticket sie natürlich völlig anders. Eine neue Welt eröffnete sich mir.
Tomatensalat
Ich sitze in meinen roten Shorts und einem blauen Shirt auf der Hollywoodschaukel. Meine Beine sind so lang geworden. Lang, dünn und dunkelbraun.
Mutti kommt in ihrem fröhlich grün-orange auf weißem Grund bedruckten, kurzen Terrassenkleid aus Frottee. Sie trägt ein Tablett mit den Tellern, einem Korb mit geschnittenem Brot, drei Gläsern mit Sirup und Wasser sowie dem Besteck mit den braunen Holzgriffen.
Nun kommt auch Papa mit seinem blauen Cordoberteil mit den weißen, verzwirbelten Kordeln und seiner weißen Shorts. Seine Beine sind genauso braun wie meine. Mutti ist ein kleines bisschen blasser als wir. Papa bringt eine große, flache Platte, auf der sich geschnittene Tomaten mit kleinen, grünen Frühlingszwiebelringen befinden. Die schwimmen in der guten Salatsoße mit dem superleckeren Essig.
Die Luft ist noch ganz sommerlich warm und die Steine der Terrasse strahlen die Wärme des Tages ab. Wegen des Pools sind jedoch bereits die ersten Mücken unterwegs. Das sind wir gewöhnt. Wenn ich ins Bett gehe, ist das Erste, was ich machen muss, noch vor dem Zähneputzen, erst einmal die Mücken in meinem Zimmer erschlagen. Ich nehme dazu mein gefaltetes Shirt, das ich gekonnt nach oben werfe, sodass die nichts ahnenden Biester ohnmächtig herunterfallen, wo ich sie dann von ihrem Blutdurst für immer erlöse.
Aber noch ist es nicht soweit. Ich bekomme meinen Anteil Tomaten zugeteilt und ein Brot offeriert. Ich nehme mir eine Scheibe. Eigentlich mag ich kein Brot, denn weil mein Vater ein Problem mit dem Magen hat, muss das Brot bei uns immer mindestens drei Tage alt sein. Aber wenn ich die gute Essigsoße schlau einsetze, nämlich indem ich Brotstücke darin baden gehen lasse, kann Brot sogar sehr gut schmecken. Dann schaffe ich sogar eine zweite Scheibe. Deswegen sind die seltenen Tage mit Tomaten-Abendbrot meine allerliebsten Abende. An anderen Abenden muss ich nämlich eine Scheibe altes Brot mit einer Scheibe Wurst drauf hinunterwürgen. Da meine Mutter Milchprodukte ekelhaft findet, gibt es keine in unserem Haus, also auch keine Butter. Drum liebe ich Leberwurst und grobe Mettwurst. Da kann man das Brot besser schlucken.
Aber heute Abend genieße ich einfach Glück pur. Denn es gibt nicht nur Tomaten, sondern sogar Mandarinen-Tritop statt Gänsewein. Es ist ja auch der Hochzeitstag meiner Eltern und sie haben heute beide gute Laune.
Was wäre denn, wenn…
Gerade habe ich eine Nachricht erhalten, die mich völlig aus dem Gleis wirft. Ich habe mehrere Arbeitsschritte mit mehreren Handwerkern nacheinander geplant. Das muss alles ganz genau so klappen, wie es vorgesehen ist, sonst kann der letzte Schritt nicht erfolgen, und das ist der, dass meine Küche eingebaut wird. Und ich im Anschluss in Urlaub bin.
Und jetzt… Erfahre ich, dass der eine Handwerker wahrscheinlich nicht da sein wird. Er hat ein lukratives Geschäftsangebot bekommen und ist dann mal einfach eine Woche nicht da. Bescheid gesagt hat er mir nicht. Die Nachricht darüber habe ich von einem Freund bekommen.
Der Handwerker sagte mir gestern, sein Vater sei krank, drum sei er durcheinander. Ob das wahr ist? Wenn es nun gar nicht stimmte und er würde mir mitteilen, er müsse zu seinem Vater fliegen, natürlich genau zu dem abgemachten Termin?
Mir wird ganz schlecht. Meine Gedanken galoppieren im Kreis, ich kann sie nicht mehr auf die gerade Bahn lenken, so dass sie logisch und sinnvoll verlaufen. Was wäre jetzt, wenn, der nicht kommt? Dann kann ich alles andere, was danach kommt, nicht stattfinden lassen. Kein neuer Boden, keine Elektroinstallationen, keine neue Küche, kein Einräumen, kein Urlaub.
Der Freund sagt, er kontaktiere jetzt eine andere Firma, die mir helfen könne. Ob die genau dann ein Zeitfenster frei hat? Mein Herz schlägt wieder etwas langsamer. Mein Kopf funktioniert wieder etwas besser. Was wäre, wenn… einfach alles gut würde?
Ich mache mich ans Planen. Ich werde das hinkriegen. Und ich vertraue darauf, dass sich eine Lösung finden wird.
Ein paar Stunden später ist es Abend. Ein neuer Handwerker hat sich bei mir vorgestellt. Er hat ein gutes Angebot gemacht und er hat am abgemachten Termin Zeit. Tatsächlich, alles wird gut. Ommmmmm!
Ein besonderer Gast
Ich besuchte meine Mutter im Krankenhaus. Sie hatte eine schwere Gehirnblutung gehabt und keinen Lebenswillen mehr. Am liebsten wollte sie jetzt schnell aus dieser Welt gehen. Soviel ich auch auf sie einredete, lehnte sie ab, noch irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen. Seit drei Tagen aß sie jetzt schon nicht mehr.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ich ihr von dem, was ich heute erlebt hatte. Ich wusste, dass meine Mutter einen Narren gefressen hatte an den Vögeln in unserem Garten. Sie hatte die Amseln Erich und Erika getauft und liebte die herrlich singenden schwarzen Vögel ganz besonders.
Heute hatte ich etwas entdeckt, das musste ich meiner Mutti berichten. Ich hatte das Fenster geöffnet, um das Staubtuch auszuschütteln, und da sah ich, wie Erich aus einem Busch hervorkam. Er schaute mich sehr genau an, legte seinen Kopf auf die eine Seite, dann auf die andere, wie Vögel das tun, und behielt mich stetig im Blick. Dann wendete er sich um, gab ein Zeichen, und aus dem Busch heraus trat, langsam und etwas unsicher, eine andere Amsel, klein, etwas dicklich, da ganz aufgeplustert und heller als der Erich. Voll Besitzerstolz hatte sich Erich mir wieder zugewendet und mir seinen Sohn vorgestellt. Ich dankte ihm für sein Vertrauen zu mir und freute mich sehr.
Als ich die Geschichte von dem Familienzuwachs meiner Mutter erzählte, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Dann sagte sie: Den muss ich sehen! Komm, schieb mir mal das Tablett mit dem Essen rüber.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.