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Von Liebe und Schatten. Hauptsächlich Schatten
07.06.2024 15:08

7. Juni 1904 – Vor 120 Jahren erblickt Lidia Stauffer das Licht der Welt. In einem kleinen Kaff in Italien namens Ossolaro. Sie wird groß auf diesem Gutshof bei Eltern, die eigentlich aus der Schweiz stammen. Aus Eggiwil im Emmental im Kanton Bern, da wo alles sagenhaft grün ist und es in jedem Winkel nach Stall riecht. Da wo der Käse gemacht wird.

Lidias Ursprungsfamilie waren allesamt Käser. Das Geheimnis, wie man richtig guten Käse macht, hat die Familie mit nach Italien genommen. Dort haben sich die Brüder Friedrich und Johann in Federico und Giovanni umbenannt und als Fratelli Stauffer italienische Käsesorten hergestellt. Mit dem Wissen der Vorgängergenerationen aus dem Emmental.

Der eine Fratello, Federico, vermacht später alles seinem Sohn Walter, der stinkreich wird, das Geld über Kauf- und Verkauf von Immobilien sagenhaft mehrt und schließlich der Stadt Cremona 100 Millionen in Staatsanleihen für die Gründung einer Geigenbaustiftung vermacht, damit Cremona wie einstens wieder Geigenhauptstadt wird. Die Stiftung gibt es immer noch, und viele junge Menschen lernen dort außerdem wunderbar Geige spielen.

Die Familie von Giovanni, in die Lidia geboren wurde, hat mit der Zeit vier Kinder, es gesellen sich noch 3 Knaben dazu, Alberto, Federico, und Mario, allesamt talentierte Burschen, wie sich später zeigt. Ein fünftes Baby gab es auch, vor Federico, aber leider wurde der kleine Bub im Ehebett eines Nachts im Schlaf aus Versehen erdrückt. Früher passierten scheint’s öfter solche Vorfälle.

Die Knaben hatten eine wilde Kindheit. Federico Junior, der später mal mein Opa wurde, erzählte mir mit Leidenschaft Geschichten aus seiner Frühzeit, z.B. vom Knecht Gedini Uff, der die Knaben schrecklichst schikanierte. Insbesondere hatte er sich darauf spezialisiert, fette Spinnen aus den Spinnennetzen zu picken und vor den Augen der Zuschauer genüsslich zu verzehren. Leider packte er dann stets den nächststehenden, um ihm ebenfalls ein Prachtexemplar in den Rachen zu stopfen.

Dann waren da auch die Fuhrkutscher, die grässlich gotteslästerlich fluchten, sich offenbar hauptsächlich von Peperoni ernährten und auch arme unschuldige Reisende gerne mit diabolischem Grinsen dazu verleiteten, die anscheinend völlig harmlos-milden grünen Säuerlinge zu verzehren, die bei ihren abgehärteten Gaumen keinerlei Effekt mehr hervorriefen, den Reisenden aber Tränen in die Augen steigen ließen, so dass die Ärmsten heulend unter dem Tisch hervorwinselten und sich nicht mehr zu helfen wussten. Mein Opa hatte die Gabe, dies sehr anschaulich zu berichten, so dass man gleichzeitig mitlitt und mitlachte.

Opa selbst war auch in dieser Zeit wohl ein unerquicklicher Jüngling gewesen, denn er hatte sich im Garten eine große Fallgrube mit Falltür gebaut, und lockte wohl alljährlich einen anderen Schulkameraden dorthin, und hielt den dann in diesem Verließ so lange zwischen seinen Beinen eingeklemmt, bis der verzweifelt aufgab und einwilligte, Federico im neuen Schuljahr alle unangenehmen Arbeitsaufträge abzunehmen und für ihn den Kopf hinzuhalten, wenn das nötig war.

Im späteren Leben war mein Opa aber kein schrecklicher Mensch, sondern vielmehr derjenige in meiner Familie, der mir am liebsten war, denn er war brillant, belesen, liebenswert und charismatisch. Ob seine Geschichten eigentlich wahr oder hervorragend erfunden waren, weiß ich nicht zu beurteilen.

Darüber klärte uns auch seine Schwester nicht auf. Tante Lidia (eigentlich ja meine Großtante, aber wir sprachen immer von ihr als einfache Tante) war eher weniger erzählbeflissen. Ihr Medium waren jedoch Papier und Tinte. Sie schrieb Zeit ihres Lebens Briefe en masse. Ich habe ganze Berge davon in den Schränken meiner Mutter gefunden und auch gelesen. Sie schrieb meist auf italienisch. Zwischendrin auch gespickt mit cremonesischen Phrasen, Wörtern oder Gedichten, die mein Opa Federico sich einfallen ließ. Er liebte es, mit Sprache zu jonglieren. Tante Lidia war wohl auch sehr polyglott, jedenfalls konnte sie schon mal cremonesisch, italienisch, deutsch und französisch. Wie weit es mit ihrem Englisch her war, kann ich nicht beurteilen. Allzu oft bin ich ihr nicht begegnet.

Die Knaben waren alle hervorragende Klavierspieler bis ins hohe Alter. Der eine Bruder liebte es, mit Zauberkunststücken zu verblüffen. Er hatte auch das Hypnotisieren erlernt und konnte Menschen willenlos machen und Dinge vollführen lassen, die ihnen sonst im Traum nicht eingefallen wären.

Seltsamerweise waren auf dieser Seite der Familie im Gegensatz zu den Geschäften des Multimillionärs Walter die Finanzen ein Thema, das niemanden mit Freude erfüllte. Keiner hier war ein guter Geschäftsmann, jeder kam gerade mal so durch, und innerhalb der Familie wurde dann einander Geld zugeschustert von dem, der grade mal was hatte, indem irgendwelche Sachen rein theoretisch hin und her verkauft wurden. Z.B. habe ich ein Bild, das eigentlich meine Oma gemalt hat (ihre typischen Sonnenblumen), signiert von meinem Onkel, damit mein Opa Federico es dem Bruder abkaufen konnte. Mein Opa, der mit einem kleinen Motorengeschäft ein bisschen was verdiente, aber immer nur so dahinkrebste, führte ein Buch, in dem die Schulden seiner Brüder bei ihm sich immer mehr summierten.

Von was Lidia lebte, war vermutlich das Erbe ihrer Eltern, ich glaube, sie hat nie irgendetwas erlernt oder gearbeitet. Von den Kindern der Familie schien sie am begütertsten zu sein, vermutlich sogar reich. Ich kannte sie allerdings nur alt, griesgrämig in einem wegen der steten Migräne völlig verdunkeltem Haus sitzend und klagend. Sie hatte viele Zipperlein und noch mehr Operationen durchgemacht.

Früher war sie eine außerordentliche Schönheit gewesen mit Glutaugen, schwarzen Haaren und einem Lockenringel, der über den stark geschminkten Augen in die Stirn fiel, sehr chic gekleidet (selbst genäht natürlich) aber da die Mutter früh an Tuberkulose in einem Sanatorium in der Schweiz starb (wo auch die drei Knaben damals dahindarbten, denn die hatten es auch bekommen), oblag es ihr, sich danach um die jungen Männer zu kümmern. Sie hatte also die Mutterrolle inne und keine Zeit, ein eigenes Leben zu führen. Gelegentlich malte sie, wunderschön wie alle Stauffers, denn auch sie hatte dieses Talent geerbt. Eigentlich also eine sehr künstlerisch begabte Familie, in die dann noch meine Oma aufgenommen wurde, die auch ihr Geld mit Gemälden (und Hunde- und Vogelzucht) verdiente.

Sie ging darin auf für Vater und Brüder zu kochen, zu putzen und zu waschen. Zwischendurch verliebte sie sich in den Pfarrer, hatte aber angeblich niemals Gelegenheit, irgendeinem Mann tatsächlich näher zu kommen. Trotz ihrer faszinierenden Augen und ihres hinreißenden Aussehens blieb sie also nach eigener Aussage Jungfer bis zu ihrem Tode. Stetig war die äußerst kreative und talentierte Lidia am Handarbeiten, sie füllte mehrere Truhen mit wunderschön bunt bestickter Aussteuer mit Lochsaum (Bettwäsche, Tischtücher) und aß Unmengen von Thunfisch, um aus den Schraubgläsern liebevollst beklebte und verzierte Kleinode zu machen. Kistenweise gab sie mir diese zum Verkauf mit, damit ich ein bisschen Zuschuss bekam, aber damals wollte kein Käufer anbeißen, weil Handgemachtes in den 80ern noch eher geringen Stellenwert hatte, so dass ich letztendlich ihre tausendstündige Bastelarbeit mit schlechtem Gewissen dem Kirchenbazar spendete.

So führte Tante Lidia ein Leben im Schatten der Brüder, sich aufopfernd, im Kreise von Männern, aber unbemannt. Diese Männer begingen im Laufe der Zeit allesamt Verrat an ihr, denn einer nach dem anderen heiratete irgendwann - wenn auch außerordentlich spät erst - aus dem Kreise heraus und ließ sie im Stich. Und dann war sie zu alt für eine eigene Familie. Sie blieb also ein „Fräulein“ und verhärmte zusehends, wurde schrullig und hatte sehr dezidierte Meinungen.

Bei unseren Besuchen brachte meine Mutter ihr immer liebevoll ausgewählte Gaben mit, um ihr eine Freude zu machen und erntete dafür dann Sprüche wie: „So etwas kann ich gerade noch brauchen. Ich werde es dem Heim für arme Leute bringen, vielleicht freut sich da ja noch ein armer Schlucker drüber.“ Alljährlich fuhren wir an die Adria mit einem Abstecher zu Tante Lidia, und meiner Mutter graute stets bereits lange vor der Reise vor dieser überaus freundlichen Reaktion. Ich an ihrer Stelle hätte dann halt einfach gar nichts mehr mitgebracht. Bewirtet wurde man dann mit einem Tee, von dem Tante Lidia stolz berichtete, dass sie ihn bereits seit 60 Jahren habe.

Tante Lidia war in Ernährungsdingen sehr kategorisch. Im Restaurant bestellte sie was auch immer mit dem Zusatz „senza prezzemolo!“ - ohne Petersilie! Einmal auch in unserer Anwesenheit, wo es sich um Kuchen handelte, was zwar den Verdacht erregte, es könne sich um Humor handeln, doch tatsächlich war es nur alte Gewohnheit, die diesen Satz erklingen ließ. Tante Lidia hatte eher keinen Humor mehr. (Falls sie jemals einen hatte.) Bei der Kaffeebestellung musste stets angefügt werden „Ma bollente!“ - aber kochend heiß! Später schoss sie sich auf eine spezielle Diät ein, mit der sie die letzten zwei Lebensjahrzehnte recht gut fuhr: sie aß Gorgonzola mit Brot. Ausschließlich.

Im Gegensatz zu meinem Opa, der wohl von der Käserei so die Nase voll hatte, dass in seinem Haus Käse ein schlimmes Tabu war. Wenn Opa mal kurz nach Liechtenstein fuhr, um neue Briefmarken zu kaufen, hatte meine Oma nichts Besseres zu tun, als stantepede einen Camembert zu kaufen und zu vertilgen, bevor er wieder zurückkam. Wahrscheinlich freute sie sich schon jedes Mal wahnsinnig auf seine Abreise, während er, der sie über alles liebte (aber wohl auch ein Kontrollfreak war) sie bereits eine Stunde nach Abreise und danach in kurzen Abständen wie er sagte „telefonierte“, um ihr mitzuteilen, wie sehr er sein Liebeliliebs, Schatzi-Caro, Liebestraum von Liszt, die Vermüttung, „Es, das Lil“ (sie hieß aber Irene Iris) vermisse.

Zwischen den Briefen von Tante Lidia findet sich auch ein Umschlag mit der Aufschrift auf Italienisch „Seltsame Tatsachen, die mir zugestoßen sind“, und diese sind nachgerade sehr merkwürdig. Tante Lidia war nämlich von Poltergeistern und Gespenstern aller Art geplagt. Sie war ohnehin extrem abergläubisch und hatte zwar reihenweise Spiegel im Haus, die jedoch alle verhängt waren, damit einem nicht die Seele gestohlen würde. Natürlich durfte niemals ein Hut aufs Bett gelegt werden, um kein Unglück heraufzubeschwören, schwarze und auch andersfarbige Katzen waren ihr ein Gräuel, ebenso wie Vögel (an diesen war nur die Ausscheidung glücksbringend, nämlich dann, wenn sie einen von oben traf, dann war man auserwählt für eine glückliche Episode, weswegen mein Onkel Mario, der auch nicht normaler tickte, vor geschäftlichen Terminen sich stets unter einen vogeldurchschwirrten Baum stellte), unter Leitern durfte man nicht durchgehen, Nägel und Haare mussten verbrannt werden, damit einen niemand mit ihrer Hilfe verhexen konnte, und auf Fotos zeigt sie stets sicherheitshalber die abgespreizten Finger neben der Faust (gehörnte Hand – mano cornuta), damit der viel erwähnte böse Blick des Betrachters ihr nichts anhaben könne. Vor diesem war sie jederzeit auf der Hut, und in Anbetracht ihres enorm langen Lebens - trotz oder womöglich wegen der seltsamen Ernährungsgewohnheiten - hatte sie dessen Abwehr wohl perfekt im Griff.

 

In einer großen Truhe fand ich neben den mühevoll gearbeiteten Tischdecken unglaublichen Mengen alter Fotografien auch Briefe des Pfarrers an die Tante. In Umschlägen waren jeweils Postkarten des Ortes, an dem er sich gerade aufhielt, und da stand stets, wie sehr er sie vermisse. Es waren sehr viele Schreiben über viele viele Jahre. Das Päckchen mit der Seidenschleife endete mit seiner Todesanzeige.

Als Tante Lidia zu alt wurde, um ihr Leben noch alleine zu managen, wurde sie von ihrer Enkelin, einer sehr cleveren Frau, für die letzten zwei Jahre in ein fesches Altenheim in Rolle am Genfer See übersiedelt.

Mit unserem kleinen Sohn besuchten wir noch auf Wunsch meiner Mutter die Tante Lidia in diesem Heim. Wir fuhren extra deswegen in die Schweiz, weil meine Mutter, die selbst nicht mehr hinreichend mobil war, monatelang in uns drang, Lidia würde sich so sehr darüber freuen, endlich mal Besuch von der Familie zu bekommen. Trotz ihrer Erlebnisse mit vielen Beispielen ungnädigen Verhaltens ihrer Verwandten, war meine Mutter überzeugt, Tante Lidia würde bestimmt unsere Unterkunft bezahlen, uns zum Essen einladen, und uns eventuell sogar noch etwas für die Finanzierung unseres Urlaubs zustecken.

Wie wir dann vor Ort aber feststellten, hätte Tante Lidia aber lieber einen Teufel getan, als irgendetwas von dem von meiner Mutter Vorhergesagten einzuhalten. Vielmehr bestellte sie sich im Café des Altenheims ein Eis vor unserer Nase und weder für unseren süßen, an diesem Tag sehr artigen kleinen Sohn irgendetwas, noch für uns. Wir mussten unsere Getränke selber holen und zahlen. Sie fragte, wo wir denn wohnten, und äußerte sich abfällig dazu: „Viel zu teuer. Wenn ihr euch sowas leisten könnt. Naja, müsst ihr ja wissen.“ Das Ganze gipfelte darin, dass sie uns bereits nach einer knappen Stunde Besuch anherrschte, ob wir bitte wieder gehen könnten. Sie fände es unerträglich, wie Frauen einfach schwanger würden und ekelhafte Kinder produzieren könnten. Und jetzt müsse sie eines dieser Kinder auch noch bei sich aushalten, das wäre schon ein bisschen sehr viel verlangt. Wir bräuchten bitte nicht wiederzukommen.

Notabene war Tante Lidia bis zu ihrem Tod mit 99 Jahren vollständig klar im Kopf ohne geringste Ausfallerscheinungen. Die Enkelin kümmerte sich um das Haus und alles andere, und steckte das Geld aus dem Hausverkauf in eigene Interessen. Pünktlich zum Ableben war das Konto blitzblank. Geerbt habe ich von ihr ein Service für 24 Personen, von dem ich die Hälfte an meinen Onkel abgegeben habe, und einen mottenlöchrigen rotgrundigen Teppich, den ich sehr lange im Wohnzimmer liegen hatte, von dem die Kinder jedoch Ausschlag bekamen, so dass ich ihn irgendwann versteigert habe.

Meine Mutter hat etliche Dinge aus dem Besitz der Tante im Haus. Und in diesem Haus, das inzwischen mir gehört, klopft und pocht es immer wieder, es fallen Dinge grundlos um, oder es finden sich Sachen an Orten, wo sie keiner hingetan hat. Zum Beispiel fand ich im Sekretär, wo die Liste der seltsamen Fakten beheimatet ist, mal zu meinem Befremden auf dem Umschlag ein Schnapsglas stehen. Ich registriere inzwischen lakonisch die Vorkommnisse, indem ich „Hallo Tante Lidia“ sage. Damit scheint sie ganz zufrieden zu sein. Buon compleanno da drüben! Zeit für einen Kaffee und ein Stückchen Gorgonzola.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

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