Fredie hatte so eine Art Zwangsstörung, sie nannte sie Übergriffigkeitsstörung. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie - wie so viele andere - gerne ungefragten Rat gab oder sich in Dinge einmischte, die das Gegenüber sehr wohl selber verstand oder lösen konnte, sondern sie fühlte immer wieder das dringende Bedürfnis, die Personen, mit denen sie sich unterhielt, am Arm anzufassen oder am Bein, manchmal sie einfach in den Arm zu nehmen, und stets langte sie hin, ohne zu fragen. Es fiel ihr zwar ein, dass sie das hätte tun sollen, aber immer erst, nachdem sie es getan hatte.
In den allermeisten Fällen ging das sehr gut, und niemand beschwerte sich. Im Gegenteil sagte schon mal jemand zu ihr: Du solltest dir auch so ein Schild malen, auf dem „Free Hugs“ steht. Da kommen bestimmt viele zu dir. Von so einer attraktiven Frau wird man doch gerne umarmt und getröstet!
Das klang schon besser als der Kommentar, den sie heute morgen erntete, als sie ein Selfie von sich auf dem Kopfkissen auf Instagram postete und jemand schrieb ihr sofort: Medusa lässt grüßen! Schade, dass der ihr unbekannte Schreiber nicht bei ihrem Anblick sofort zu Stein erstarrt war, wie das bei der echten Medusa erfolgt wäre, da hätte ihr Tag besser begonnen.
Versteinern wäre eigentlich ein interessanter Tod überlegte Fredie jetzt laut am Frühstückstisch. Lots Frau war das auch widerfahren. Die war ja so neugierig und drehte sich um, um zu sehen, wie Sodom und Gomorra abfackelt und alles zerfällt. Als Salzsäule endete sie dann. Mit L. Fredie würde dann in ein Museum gestellt und lustlose Schulklassen müssten beim Ausflug mit ihren Lehrern an ihr vorbeiziehen und hoffen, dass sie bald ihre Brotzeit vertilgen könnten. Ambitionierte Kunststudentinnen mit ernsthaftem Geschau würden sich vor ihr niederlassen und sie in relativ unkenntlichen Skizzen festhalten. Lüsterne Tattergreise würden ihre Hand nicht bei sich behalten können, obwohl direkt einen halben Meter entfernt ein Schild stünde „Do not touch“. Alle heilige Zeit käme eine bekopftuchte Putzfrau mit einem Staubwedel und würde oberflächlich über sie hinüberwedeln. Hihihi, das kitzelt! Dann wieder Warten auf den nächsten Tattergreis, damit das Jucken wieder aufhört.
Salzsäure mit R wäre auch nicht uninteressant als Todesart, fantasierte Fredie weiter. Jedoch selber eine zu werden. Nicht in ihr aufgelöst worden zu sein, was bei Breaking Bad so wunderschön schief ging, wo die ganze Badewanne voller Säure sich ins Untergeschoss begab, da zu sauer. Was für eine Sauerei!
Aber selber auflösende Wirkung zu haben, das wäre doch nett! Alles zerstören, was man lebens aufgebaut hatte. Durch die Wohnung fließen und alles anfressen, anätzen, in Flut und Matsche legen. Die Bücherregale - wie sie langsam einknicken, die Bücher verstreuend, in Streuseln und großen Rutschen, gewaltigen Lawinen, und die Bücher in der schäumenden Flüssigkeit versinkend, zerfleddernd, sich in Pappmaché auflösend und schließlich in haferschleimartigen Glibber. Der dann die Treppe hinunterrinnt und den Garten zerfräst und alle Blumen, Gräser, Bäume in grünstinkigen Seim verwandelt, der wiederum die Betonmauer zu Fall bringt. Zackige Mauerreste knirschen heulend um ihr Leben, die Armierung flehend zum Himmel erhoben, aber fruchtlos. Auch sie gehen den Weg alles Sterblichen und fließen über den Gully in die städtische Kanalisation und von dort, die Rohre verätzend ins Grundwasser zum Nachbarn in den Wasserhahn, der daran röchelnd erstickt.
Unter den Rohrleitungen weiter ab ins Erdreich bis zum Erdkern und hinüber bis nach Australien, wo ein Geysir grün-grauer Frediebrühe plötzlich fröhlich aus dem Boden schießt. Man kann die Uhr danach stellen, wie er alle 7 Minuten von neuem hoch hinauf explodiert! Man sollte sich nicht zu nah daneben stellen, denn bereits der Nebel der Dunstschwaden verätzt die Kleidung. und wenn man Pech hat, frisst sich die Säure durch Haut, Fleisch und Knochen und führt zur Zombiisierung. Yeah! Wirklich ein schöner Tod, diese Salzsäuerung.
Schon irgendwie spektakulärer als die gängige Variante! Dann hat man womöglich eine Mulchunverträglichkeit und muss todenslang da unten leiden, oder jedenfalls bis die Würmer ihre Arbeit fleissigerweise getan haben und die Ameisen die Gebeine verschleppt haben. Oder irgendein Nachfahre von Heinrich Schliemann.
Fredie schwärmte von dieser neuen Sterblichkeitsvariante beim Frühstück wortschwallend und morbide verklärt ihrem Lebensgefährten vor, und der sah sie dabei merkwürdig aus seinen dunklen Augengläsern mit Brillenstärke 25 oder so an, wodurch seine Augen das Auffallendste an ihm waren. Er schnitt dabei ein großes Stück Butter ab, das er in etliche winzige Würfel zerlegte. „Ich mags, wenn das Messer so durchgleitet“, sagte er trocken über seine Tätigkeit. Fredie sah ihn an und wunderte sich einmal mehr über ihn. Er hatte denselben Humor wie sie, aber zu anderen Zeiten. Eigentlich führten sie derzeit nurmehr eine Bezie-g-ung, und das war schon ziemlich geschönt.
Draußen vor der offenen Terrassentür raspelte eine Nagegestalt offenbar an einem vom letzten Jahr wiedergefundenen Relikt einer Nuss. Der Teufel ist ein Eichhörnchen, dachte Fredie sich, die diese Tiere gerne hatte, denn der Lebenspartner hatte gesagt, das sei sein Krafttier. Was auch immer das für ihn bedeutete. Als er den rötlichen schwanzbüscheligen Genossen entdeckte, schlich sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht, das er nicht verkneifen konnte, obwohl er sich bemühte.
Er hatte die ganze Nacht den Gedanken nicht loswerden können, wie Fredie gestern dem Paketboten übers Haar gestreichelt hatte, natürlich mal wieder, ohne ihn zu fragen, und rausposaunte, was er für wunderbare Locken habe. Dann hatte sie ihm vor Schreck über das, was sie da Verfängliches getan hatte, einen 5-Euro-Schein in die Hand gedrückt. Inzwischen waren solche Zwischenfälle für den Mann an Fredies Seite in den Bereich des Fassbaren gerückt. Anfangs war das doch etwas befremdlich. Aber heute wusste er plötzlich, wie er damit umgehen würde. Und dann würde er besonders geschützte Pflanzen drauf pflanzen, damit niemand dort graben dürfte.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.