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Schutzengel
29.10.2024 00:14

Im Dunkel der Nacht sind wir auf dem Heimweg nach München. Im Auto läuft eine Pumuckl-Cassette, die Kinder auf dem Rücksitz haben hörbar Spaß mit ihrem Lieblingsklabauter. Alle haben wir beste Laune nach dem Besuch bei den Großeltern. Ich fahre seit längerer Zeit schon so etwa 140 Stundenkilometer, denn die Strecke ist schön frei. Am Samstagabend sind kaum Autos unterwegs.

Auf einmal schiebt sich ein LKW von rechts auf meine Fahrbahn, genau neben mir. Ich hatte den LKW vorher nicht einmal gesehen! Die Fahrbahn wird mir immer enger. Ich kann nicht schnell genug abbremsen, um ausreichend zurückzufallen, ich kann nicht genug beschleunigen, und ich weiß im Moment gar nicht, ob ich gerade jetzt auf die linke Spur ausweichen kann oder ob da was ist.

Der LKW ist einer von denen, die ungeheuer lang sind. Er wirkt im Dunkeln dunkelgrau und sehr schmutzig, die graue Eminenz aus dem Nichts, eine finstere tödliche Bedrohung. Es geht so schnell, dass ich mich gar nicht mal traue, in einen der Spiegel zu schauen. Er wird unser Auto im nächsten Moment an der Seite aufreißen, und er ist riesig und stärker als wir! Ich kann nur eines tun: nach links ausweichen. Und das tue ich, in Panik! Ich schreie noch: „Festhalten!“, und die Kinder denken, ich mache Spaß.

Ich ziehe stark nach links, irgendwie zu steil. Ich weiche der Leitplanke gerade noch aus. Ohne, dass ich es verhindern kann, und obwohl ich mich voll ins Lenkrad hänge, fängt das Auto an, haltlos zu schlingern, es tanzt mehrfach über die linke Spur. Der Volvo fängt an zu kreiseln, dreht sich dreimal um sich selbst, Lichter sausen vorbei, die Zentrifugalkraft macht sich voll bemerkbar. Unser Wagen fährt irgendwie einseitig schräg in der Luft und landet wieder auf allen vieren und fährt irgendwann wieder geradeaus. Voller Entsetzen sehe ich, wir fahren nicht mehr Richtung München, sondern zurück, denn Lichter kommen uns entgegen. Ich schaffe es, auf der äußersten Spur anzuhalten. Es gibt hier gar keinen Seitenstreifen und außerhalb dieser Spur ist offenbar Wiese. Es gibt keine andere Möglichkeit, die Wiese liegt nämlich tiefer.

Ich schreie die Kinder an: Sofort links aussteigen und ins Gras rein! Die Kinder haben zum Glück kein Problem, links und rechts zu unterscheiden. Ich selbst bin auch gerade am Aussteigen in die Wiese da unten, als ein Auto mir entgegenkommt und gerade noch haarscharf vor meinem Auto zum Stehen kommt. Es fehlen nur noch Zentimeter.

Die Kinder sind in Ordnung. Ich habe meine Handtasche in der Hand, was aus dem Auto wird, kann man nicht wissen. Wenigstens sind wir draußen. Ich zittere am ganzen Körper, mein Herz schlägt wie wahnsinnig!

Die Frau im entgegenkommenden Auto hat die Warnblinker gesetzt, Gottseidank. In Todesangst hole ich das Warndreieck aus dem Auto und schaffe es, das zusammengefaltete Ding irgendwie mit flatternden Händen notdürftig zusammenzusetzen und in wenig vorschriftsmäßigem Abstand  hinter dem anderen Auto aufzustellen, wobei ich wirklich Panik habe, überfahren zu werden. Direkt hinter dem anderen Auto beginnt nämlich die Leitplanke, die da, wo wir stehen, nicht vorhanden ist. Ich müsste da direkt auf der Straße laufen, das will ich nicht ausprobieren.

Dann rufe ich die Polizei an. Sie verlangen von mir, dass ich ihnen durchgebe, wo genau ich bin. Ich habe gar keine Ahnung. Ich soll zur nächsten Notrufsäule gehen, da steht es dran. Die ist in der anderen Richtung. Ziemlich weit weg, unter einer Brücke. Ich gebe die Daten durch, die ich dort finde und renne zurück zu den Kindern, während ich weiter telefoniere. Die Kinder sind verängstigt und still und stehen, wo ich ihnen befohlen hatte, zu bleiben. Die Frau steht abseits irgendwo in der Wiese.

Als ich näherkomme, sehe ich ein Auto, das die Leitplanke durchbrochen hat, nicht weit von meinem Auto entfernt. Da ist eine Art Erdwall, dort hinauf bis zur halben Höhe ist das Auto gefahren, irgendwie so, dass es nicht ausschaut, als könne es da auch wieder von selber herunterkommen. Vier junge Männer stehen da, kommen dann zu mir. Es geht allen gut, keiner ist verletzt. Ein schwarzes Auto sei plötzlich vor ihnen auf der Fahrbahn aufgetaucht, sie hätten gar nicht mitbekommen wieso, und dann hätten sie zu stark gebremst, und wären durch das Bremsen ins Schleudern gekommen. Dreimal hätte es sie um sich selbst geschleudert, dann seien sie hier gelandet.

Das schwarze Auto, das waren wir. Den LKW hatten sie nicht gesehen. Wie durch ein Wunder ist niemandem von uns etwas passiert. Das andere Fahrzeug hat, wie sich später herausstellt, Totalschaden. Der LKW wurde von niemandem beobachtet außer von meinen Kindern und mir. Mein Jüngster zeichnet auf, was angeblich auf diesem gestanden haben soll: nives schreibt der Zweitklässler. Nivea rät der Gymnasiast, der die Schrift aber nicht gesehen hat, ebenso wenig wie ich. Geblinkt hatte der LKW eindeutig nicht. Ob er überhaupt Licht angehabt hatte, haben wir auch nicht gesehen.

Die Frau, die vor meinem Auto so knapp noch angehalten hatte, war verschwunden. In den Augen der Versicherung war also ich schuld, da es keinen Hinweis auf den LKW gab. Es hat sich niemals geklärt, ob der LKW-Fahrer uns überhaupt bemerkt hatte. Ob er kurz eingeschlafen war? Wo er so plötzlich herkam?

Die Polizei rangierte mein Auto zurück in Normalposition und schickte uns nach Hause. Der brave Volvo fuhr noch problemlos. Ich nicht. Ich weiß bis heute nicht, wie wir überhaupt nach Hause gekommen sind. Ich stand unter Schock. Die Kinder waren so leise wie sonst nie und der Pumuckl war uns vergangen. Der Arzt stellte anderntags ein leichtes Schleudertrauma fest, sonst nichts.

Als ich mich Wochen später wieder traute, mit 80 Stundenkilometern an dieser Stelle vorbeizufahren (ich konnte jahrelang nicht mehr unbefangen Autofahren, hatte immer Angst, wenn ich einen LKW überholen musste), war es nicht einfach, herauszufinden, wo wir diesen Unfall hatten. Aber an die wallartige Böschung und das Autobahntelefon neben einer kleinen Holzhütte unter der Brücke konnten wir uns erinnern. Noch sehr lange waren die schwarzen, sich über eine weite Strecke kringelnden Bremsspuren der beiden Autos zu sehen und auch die Leitplanke, durch die die jungen Männer durchgebrochen waren, wurde erst sehr spät ausgetauscht.

Nach mehreren Tatortuntersuchungen auf dem Rückweg von meinen Eltern stellten wir endlich fest, dass an dieser Stelle eine Einfahrt in die Autobahn mündete, und da war sie kurz fünfspurig. Ich hatte mich auf der 2. Spur von links befunden. Der LKW musste wohl hier auf die Autobahn aufgefahren sein und direkt in diese Spur hinübergetrudelt sein. Nach zirka einem Jahr war hier irgendetwas umgebaut worden, die Stelle war nicht mehr auffindbar. Der Wall war weg, die Hütte auch.

Das war am 27.10.2007. Ein Tag, an dem sieben Menschen das Leben nochmals geschenkt worden war. Vielleicht acht. Oder neun.

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

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