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Der gnadenvolle Moment
29.10.2024 15:09

Wie eine Spinne hat es die Hand umwickelt mit ganz vielen dünnen Fäden. Diese Fäden sind einzeln nicht so stark und unangenehm anzufassen, aber alle miteinander schnüren die Hand sehr fest ein und üben einen starken Druck aus. Es wird kräftig daran gezogen, besonders, wenn sich in einem der Fäden etwas ereignet: etwas läuft darüber, etwas bleibt daran kleben, etwas hat sich darin verheddert und verlangt Aufmerksamkeit. Das kleine Tier versucht, dessen Herr zu werden. Gleichzeitig muss es die anderen Fäden ganz gut festhalten, dass keiner verrutscht.

Was befindet sich am Ende dieser Fäden? Ein jeder davon führt in die Zukunft, das sind die Fäden, die sich vor dem Tier befinden. Es muss auf alle gut aufpassen, dass sie sich nicht verkreuzen. Es sind alles kleine Bedrohungen. Was wäre, wenn, und wohin würde das führen, wenn? Wie könnte ich verhindern, dass? Wenn der Weg aber uneben wird? Was könnte hinter diesem Stein dort lauern? Da ist ein Loch im Boden, ob da irgendwas Schlimmes darin lauert? Womöglich könnte es mich fressen. Womöglich ist es auch ein ganz tiefes Loch und ich könnte hineinfallen. Das sind die Zukunftsängste. Eine schlimmer als die andere. Das Tier kann sich sehr sehr gut vorstellen, wie das alles grässlich verlaufen könnte, und deswegen, muss es die Fäden so straff gespannt halten und ja keinen davon loslassen, sonst verliert es die Kontrolle.

Hinter dem Tier sind auch Fäden. Die hält es mit der anderen Hand. Das sind Fäden, die aus der Vergangenheit kommen. Das sind Dinge, die alle schon mal schief gegangen sind. Schlechte Erinnerungen. Situationen hängen da dran, in denen ein ganz schlimmes Gefühl an die Oberfläche gekommen war. Angst, Wut, Trauer, Panik, Scham, und am schlimmsten: Ohnmacht. Totaler Kontrollverlust. Das darf nicht sein! Das darf es niemals mehr geben.

Drum hält es mit aller Kraft die Fäden zusammen, aber die Fäden schnüren die beiden Hände so ein, dass sie schon klauenförmig verkrümmt und völlig überbeansprucht sind. Sie sind schon fast taub, eingeschlafen. Eigentlich können sie nicht mehr halten. Es ist alles zu viel. Und doch, das Tier hat die Aufgabe aufzupassen. Es muss auf mich aufpassen, dass mir nichts mehr passiert. Dass ich keinen Schaden nehme. Dass ich unbehelligt bleibe. Dass alle Eventualitäten bedacht sind und alle Pläne gemacht sind. Wasserdicht. Lückenlos.

Manche Fäden führen direkt von der Vergangenheit in die Zukunft. Da ist der eine unscharfe Fleck am Horizont verknüpft mit dem sehr klar zu sehenden metallischen Schrotthaufen in der Vergangenheit. Wo diese furchtbare Geschichte passiert ist. Ein anderer Faden führt zu einem sich bewegenden Schatten, menschengleich, der da vorne ist, und hinten führt er zu einem Grabkreuz. Es ist so gut, dass das Tier alles zusammenhält. Das gibt Gewissheit, dass der Mensch da vorne nicht auch unter so einem Grabkreuz landet. Er wird an der Zugleine vorbeigeführt an Fallgruben und Ackerfurchen, über die er stolpern könnte. Es ist gut, dass es diese Spinnweben, Bindfäden, Schnüre, Leinen, Lassos und Taue gibt. Ja, manche sind richtig dicke Taue. Vor allem die in die Vergangenheit führen.

Aber das Tierchen ist müde. Schon viel zu lange hält es all diese Ängste. Vergangenheitsängste, Zukunftsrisiken, Pläne, die unbedingt genauso ablaufen müssen, um Unheil zu vermeiden. Die Hände sind chitinisiert, graubraun geworden wie das ganze Tier. Ähneln Klammern aus altersgedunkeltem Kunststoff.

Da plötzlich kommt eine riesige Hand und nimmt dem Tier, das vor Überraschung nicht weiß, wie ihm geschieht, die ganzen Fäden ab, und das Tier hab das Gefühl, die Hand hilft ihm, nimmt ihm die Pflichten ab, um ihm Erholung zu gönnen. Um die Sache in Ordnung zu bringen, die bereits so verfahren ist, dass sie kaum mehr zu richten ist.

Und da entdeckt das Tier erstmals, dass an jeder Leine eine Öse angebracht ist. Die Hand nimmt jeden Faden einzeln heraus und hängt alle ganz ordentlich an eine riesige Leiste mit vielen Haken - wie eine Garderobe sieht sie aus. Alle Knoten werden dabei entwirrt und jeder Faden hängt da nun einzeln. Alles wird sortiert und schön der Reihe nach angebracht. Erst rechts die ganz dünnen, dann in der Mitte die dickeren, dann die ganz dicken und schließlich links die enormen, von denen die schlimmste Angst ausging. Eine Leiste mit Haken ist vorne. Eine gibt es hinten.

Da bemerkt das Tier, dass sich nun zwei Musikinstrumente daraus ergeben haben, die Fäden sind die Saiten. Die ganz dicken sind die tiefen Töne und die dünnen sind die hohen. Der Wind fährt sanft durch die beiden Harfen und lässt sie wundersam erklingen. Die Vergangenheitsharfe klingt dunkel und traurig, die Zukunftsharfe klingt ganz süß und ätherisch, wie ein Glockenspiel.

Und das weiße Tuch, das so zerknittert unter dem Tier lag, wird durch das Entwirren und Aufspannen ganz glatt und faltenfrei. Die Hand streicht noch darüber und entfernt die ganzen Krümel, die darauf lagen. Und das Tier ist zum ersten Mal ganz frei von Angst und Mühsal. Es spürt wie die Spannung in ihm abfällt und sich in Wohlgefallen auflöst. Kennt es dieses Gefühl überhaupt?

Dann kommt die große Hand und streicht ihm wohlwollend über die Haare. Das Tier hat braune Ponys, die aussehen, als wären sie dicke Wollfäden, und das Tier schiebt die Hand voller Genuss und Erleichterung in die liebevolle Hand und möchte noch mehr berührt und gestreichelt sein. Ihm fließen die Tränen aus den Augen, Tränen, die da so lange drin gewartet haben, dass sie ganz rostig sind. Und als es endlich satt ist vom Streicheln und die Tränen versiegen, die inzwischen klar und durchsichtig sind, legt sich das Tier zum allerersten Mal auf den Rücken. Es nimmt das Laken unter sich und deckt sich damit zu bis über die Augen und gleitet wohlverdient hinüber ins Land der Träume.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

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