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Ju
Rigolettas Flussfahrt
28.06.2024 16:42

Manchmal hatte Rigoletta diese Frau neben sich in der weißen, taillierten Bluse mit dem züchtigen, gestärkten Stehkragen beneidet. Ihr würden nie diese Dinge passieren, die ihr immer zustießen. Bei Rigoletta hingegen war ein sich abwärts bewegender Ausschnitt an der Tagesordnung, ihr T-Shirt war vom sorglosen Aufhängen an der Leine auf der einen Seite länger als auf der anderen, so dass sie sogar begonnen hatte, diesen Look zu zelebrieren. Seit letztem Jahr zerrte sie stets an der linken Seite ihrer frisch gewaschenen T-Shirts, so dass diese alle die eine Hüfte bedeckten und auf der Gegenseite neckisch ein Stückchen Bauch freiließen.

Hier stand also ihre ehemalige Kollegin Brunhilde an der Reling des kleinen Schiffes und überquerte mit ihr den breiten Fluss, um auf der anderen Seite den Wildpark zu besichtigen. Dasselbe hatte auch Rigoletta vor, jedoch hatte sie natürlich nicht erwartet, ihre Arbeitskollegin ebenfalls auf dieser Tour anzutreffen. Schon bedauerte sie es, sich für den Ausflug entschieden zu haben. Da es nichts geholfen hatte, so zu tun, als hätte sie die verhasste Person nicht gesehen, ließ sie sich auf ein paar nichtssagende Bemerkungen ein („Machen Sie auch einen Ausfluch?“, hatte die Kollegin sie gefragt, und Rigoletta kringelten sich gleich die Fußnägel, wenn sie diese manierierte Sprechweise schon hörte). Also zog sie demonstrativ ihre Lektüre heraus, um vorgeblich hochkonzentriert in dieser zu blättern. Beinahe hätte sie den Fehler begangen, das Buch falsch herum zu halten.

Die Kollegin begab sich ans andere Ende des Schiffes, und ganz unvermeidlich näherte sich Rigoletta einer der Männer, die offensichtlich auf dem Boot arbeiteten. „Haben Sie die Münze zur Hand?“ sprach er sie an. „Was, welche Münze?“ erschrak Rigoletta. „Na, Sie wissen schon. Ohne die Münze kommen Sie nicht weit. Man kann sie ja sogar auf dem Augenlid oder unter der Zunge mitbringen“, sagte er rätselhaft. Dabei blickte er sie lüstern an, dass es ihr durch Mark und Bein fuhr. Sie starrte ihn an und verstand überhaupt nicht, wovon er sprach. Außerdem sah er aus wie ein Ziegenbock mit entsetzlich funkelnden Augen.

Schließlich zückte sie ihren Geldbeutel und wühlte darin. „Was kostet es denn?“ fragte sie leicht genervt, und er hielt die Hand auf und sagte: „Was Sie meinen!“ Wollte er sie anbetteln? Sie hatte doch bereits ein Ticket für die Fähre gelöst! Was wollte er denn eigentlich von ihr? Sie legte ihm ein Zwei-Euro-Stück auf die Handfläche, die sich sofort darum schloss, und schon sagte er: „Top, die Wette gilt. Deal ist Deal!“ Dann wandte er sich wieder ab und ging grußlos an ihrer Kollegin, die das ganze beobachtet hatte, vorbei, ohne sie anzusprechen.

„Na klar, hatte ich mir doch gedacht.“ Rigoletta schüttelte seufzend den Kopf. „Von mir wollen die Leute immer was, von so einer wie ihr halten sie sich fern.“

“Don’t pay the ferryman, don’t even fix a price, don’t pay the ferryman until he gets you to the other side“, sülzte Chris de Burgh passenderweise in diesem Moment aus dem Lautsprecher. Brunhilde lachte exaltiert. Ein bisschen zu laut. Oder eher drei bisschen. Offenbar hatte sie sich in den letzten fünf Jahren nicht sonderlich geändert.

Bald erreichten sie das andere Ufer, und alles machte sich zum Ausstieg bereit. Der Kollegin ließ sie sehr gerne den Vortritt. Sie würde sie ein gutes Stück vorausgehen lassen, dann brauchte sie sich nicht den schönen Tag von ihr verderben zu lassen.

Aber als die Reihe an Rigoletta war, auszusteigen, fühlte sie eine schwere Hand auf ihrer Schulter, und der Angestellte von vorhin sah ihr von oben mit hochgezogener Braue streng ins Gesicht. Er schnalzte leise mit der Zunge und hob gleichzeitig reflexartig den Kopf nach oben. Dann hoben sich seine Augenbrauen beide kurz und heftig nach oben, und sie hatte das Gefühl, er hätte ihr mit diesem privaten Tänzchen ein Geheimnis zugeflüstert, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Sie ließ sich aus der Reihe der anderen beiseiteschleusen und wartete, bis alle das Boot verlassen hatten. Dann bedeutete er ihr, sie möge sich auf die Bank neben dem Ausgang setzen. Die Fährleute waren eifrig beschäftigt, die kleine Gangway hochzuklappen. Da saß sie nun als einziger Fahrgast noch auf dem Boot mit der Besatzung. Sie hatte das unklare Gefühl, als sollte sie keine Fragen stellen. Irgendwie hatte sich die Situation verselbständigt. Es ging etwas vor sich, das gut eingespielt war, aber für sie neu. Trotzdem schien es so, als gingen alle stillschweigend davon aus, dass sie genau wüsste, was jetzt käme.

Ihr war irgendwie mulmig. Hoffentlich hatte sie nicht unwissentlich eingewilligt, sich mit diesen Typen einzulassen, oder auch nur mit dem einen. Aber sie wirkten gar nicht zudringlich. Jeder war mit seiner Aufgabe beschäftigt, und das Boot legte ab und fuhr nun flussab. Sie hatte keine Vorstellung, wo man sie hinbringen würde. Hoffentlich nicht so weit, das Boot sah ziemlich nach Seelenverkäufer aus – es wirkte ziemlich morsch und nicht wirklich arg seetüchtig. Alles an ihm war alt. Das Holz aller Teile war dunkel und wirkte so, als sei es nicht nur Jahrzehnte, sondern womöglich Jahrhunderte alt. Eigentlich gab es gar nichts Modernes auf diesem Schiff. Nichts aus Plastik jedenfalls.

Rigoletta hätte gerne ein paar Fotos geschossen, aber wie sehr sie auch in ihrem Beutel nach ihrem Handy kramte, konnte sie es partout nicht finden. So etwas, dabei war sie sich ganz sicher, dass sie es eingesteckt hatte! Hoffentlich hatte es niemand gestohlen! Aber eigentlich war ihr niemand so nahe gekommen. Neulich hatte sie in einer anderen Tasche, als sie sie mal ganz ausleerte, festgestellt, dass diese einen doppelten Boden hatte, unter dem sich alles Mögliche gesammelt hatte, was sie schon länger vermisste. Wahrscheinlich war es hier genauso. In den Wildpark hatte sie ja eigentlich auch hauptsächlich zum Fotografieren fahren wollen. Blöd, wenn man das Handy nicht findet. Da steckt heutzutage ja quasi das ganze Leben drin! Wo auch immer sie jetzt hinfuhren, unterwegs würde sie jedenfalls erstmal keine Aufnahmen machen können. Tiktok und Instagram mussten warten.

In diesem Moment bemerkte sie etwas sehr Seltsames. Einer der Seeleute verlor plötzlich ein Auge. Es kollerte auf den Boden, doch flugs bückte er sich und klaubte es wieder auf. Er wandte sich von ihr ab und hantierte ein bisschen, und als er wieder zurückkam, war alles in seinem Gesicht an seinem Platz. Flink und unauffällig war dies vonstatten gegangen, so dass Rigoletta sich gar nicht sicher war, ob sie dieses Geschehnis tatsächlich beobachtet hatte oder ob ihre Augen ihr einen Streich gespielt hatten.

Dann wankte der Steuermann im Seemannsgang an ihr vorbei. Der sollte doch eigentlich am Steuer stehen! Stattdessen hielt er ein Glas mit einer grünen Flüssigkeit und klirrenden Eiswürfeln in der Hand. „Du weißt doch, dass ich Eiswürfel nicht abkann!“, schnauzte er den Smutje an. Indigniert fischte er die drei Würfel mit den Fingern heraus, und schleuderte sie mit Schmackes durch die Gegend. Genau in Richtung von Rigoletta. Sie spürte einen kalten Windhauch in ihrem Oberkörper, und direkt hinter sich hörte sie die Würfel auf den Schiffsboden klackern und zerbersten.

Sogar der Boden ist aus Holz, fiel ihr auf, und dann erst: „Hat der das Eis durch mich durchgeworfen?“ Was war das denn? Das konnte doch gar nicht sein! Aber sie fühlte immer noch an drei Stellen ihrer Brust eine kühlere Stelle. Sie hatte keine Wassertropfen im Ausschnitt und auch das T-Shirt war nirgendwo feucht. Sie bekam einen kleinen Nieselanfall. Anders konnte man es nicht nennen, wenn ihre Nase explodierte, denn das hörte sich eher an, wie wenn ein Mäuschen nieste. Hütschü! Hütschü! Hütschü!

Irgendwie war alles hier extrem merkwürdig. Plötzlich wurde ein Teller vor sie gestellt. Der Mann, dem sie das Geldstück gegeben hatte, servierte ihn ihr. Er trug eine weiße Serviette über dem Arm und reichte ihr mit einer gezierten Gebärde noch eine Gabel. „Messer sind hier nicht mehr erlaubt“, grinste er vielsagend. „Was ist das denn?“ „Die Henkersmahlzeit. Meeresflüchte.“ Das sollte wohl ein Scherz sein. „Galgenhumor, haha“ fügte ihr Kellner nun noch hinzu. Sie überlegte lange, fand seine Bemerkungen aber ausschließlich seltsam und uneindeutig. Unsterblich verlieben würde sie sich in den ganz bestimmt nicht!

Sie begann, mit der Gabel die kleinen Dinger in Panade aufzupieksen, die sich da auf dem Teller vor ihr an der Sonne zu räkeln schienen. Lebendig waren sie zwar nicht, aber durchaus kompliziert aufzusammeln. Es waren wohl eine Art Kichererbsen in Teig, und ihre Leidenschaft schien das von der „Schippe“ zu springen zu sein. Eine mühsame Angelegenheit.

„Schnell jetzt aber, die müssen alle weg!“ drängelte der Mann mit der Serviette. Rigoletta, die immer reichlich ungeduldig war und die Kullerdinger auch nicht wirklich so schmackhaft fand, stellte sich mit dem Teller kurz entschlossen an die Reling, warf eine Kugel nach der anderen ins Wasser und sah zu, wie die Fische sie verschluckten. „Cleveres Mädel, das gefällt mir, das ist noch keiner eingefallen“, sagte der Mann. „Ich heiße übrigens Sharon!“ Komisch, dachte Rigoletta. Das ist doch ein Mädchenname!

Das Boot wurde langsamer und hielt auf eine Insel zu. An dieser Insel schien sich der Fluss in zwei Arme aufzuteilen. Der eine war breit und blau, der andere schmal und wirkte sehr finster und schien erstmal unter einen breiten Brücke zu verlaufen. „Zeit!“, kündigte Sharon an. Er gab Rigoletta durch einen Wink zu verstehen, dass sie mitkommen solle. Er setzte sie in eine Art von Gefährt, das aussah wie das Oberteil eines antiken Kinderwagens. Sie lachte, weil sie meinte, das gehöre zu irgendeinem Spiel oder er werde ihr gleich erklären, was es damit auf sich habe. Er aber sah sie nur todernst an.

Dieses schwarze Ding hatte einen gebogenen Teil, der über ihrem Kopf Schatten spendete und mit einer Art schwarzem Gazematerial abschloss. „Wie ein Trauerflor“, meinte Rigoletta. Das Ganze befand sich auf Schienen. Bevor sie sich versah, hatte Sharon einen Hebel gelöst, wodurch sie in dem Gestell in den dunklen Flussbereich hinunterglitt. Sie war völlig überrascht, hatte aber keine Zeit, sich zu wehren oder sich überhaupt nur zu überlegen, was hier denn vor sich ging.

Sogleich stellte sie fest, dass sie nur durch die Verlagerung ihres Gleichgewichts, also quasi nur mit ihrem Hintern lenken konnte. Leider hatte das kleine Coupé nämlich keinerlei Kufen oder Schwimmstabilisator, so dass das mit dem Lenken nicht wirklich gut funktionierte, und es gab kein Ruder und keine Stakelstange. Eigentlich war sie mehr oder weniger hilflos den Fluten preisgegeben. Der Einbaum im Orinoko-Delta damals, mit dem der Indigene sie gefahren hatte, war ihr in gleicher Weise instabil erschienen.

Oben auf dem Schiff hatte der Kapitän seine Uniform ausgezogen und stolzierte wie eine Gockel mit stolzgeschwelltem Bauch in einer schwarzen Badehose mit roten Applikationen in Ankerform herum. Die anderen Fährleute waren aus dem Blickfeld verschwunden, nur der rätselhafte Sharon winkte ihr etwas wehmütig mit der Serviette in der linken Hand zu.

Rigolettas Bötchen wirbelte ein paarmal im Kreis und fing dann an, in den dunklen, schattigen Kanal hineinzutrudeln. Sie hatte gar keine Angst, war nur etwas überrumpelt. Aber am Ende sah sie ein helles Licht, und plötzlich wurde ihr warm und froh ums Herz. Alles würde gut werden. Ein unbändiges Glücksgefühl durchflutete sie plötzlich, und da in der Ferne wurde sie erwartet.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

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