In einer neuen Situation hatte Celia immer das Gefühl, sich nicht so ganz sicher und wohl zu fühlen, so als säße sie rittlings auf einer Mauer an einem Aussichtspunkt: das linke Bein über dem festen Marmorboden baumelnd - das rechte über dem Abgrund. Dabei habe sie Pumps an, die leicht von den Füßen rutschen könnten. Es wäre zwar kein großer Verlust, einen der Schuhe an den Abgrund zu verlieren, denn sie sind bereits alt und ausgetreten, aber die Vorstellung, dann das Bein wieder zurückzuschwingen und mit nur einem Schuh weitergehen zu müssen, wäre doch sehr unangenehm. Insgesamt hätte sie schon allein durch die Möglichkeit, den Schuh zu verlieren, das Gefühl eines möglichen Ungleichgewichts, das sich in einem extremen Unwohlsein äußert. Sie versuchte, ihr Gewicht auf der Seite, die sicher ist, zu behalten und es nicht über die Mauer hinüberzuverlagern.
In so einem zwiespältig-unausgewogenen Zustand war Celia heute aufgewacht. Nachdem sie die Medizin gegen ihren Sommerhusten genommen hatte, war sie sehr müde gewesen und auf dem Bett in einen tranceähnlichen Zustand verfallen. Es war ein Gefühl, als sei sie halb tot. Stunden später erst stand sie mühsam wieder auf, ganz benommen. Sie konnte sich in der Wohnung gar nicht richtig orientieren und im Halbschlaf tappte sie zurück ins Bett und schlief noch mal eine knappe Stunde, träumte dabei von seltsamen Ritterburgen mit Wassergräben, von holprigen Wandelgängen und schmerzenden Füßen. Beim Aufwachen war sie immer noch vollkommen unkonzentriert und stand gefühlt einen Meter neben sich. Sie hatte den Eindruck, sich von der Realität wegbewegt zu haben. Vielleicht hatte sie auch etwas im Essen nicht vertragen, aber eigentlich war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch lebte.
Vielleicht war sie in der Welt ihrer Einschlafmeditation steckengeblieben? Sie hatte sich in einen Tempel in ihrem Inneren begeben, den sie immer sehr schön vor sich sah. Er war ganz aus hellem und terracottafarbenem Marmor, sehr weitläufig und ohne Dach, hatte wunderschöne blau-weiß-schwarze Mosaikböden, und Mönche sangen irgendwo eine sakrale Melodie ohne Worte. Das Ganze befand sich in der Gegend von Albuquerque, die sie aus der Serie Breaking Bad kannte, und wo alles Wüste war, nichts Grünes, nur sengende Hitze. Aber in dem dachlosen Heiligtum war es angenehm kühl, und ganz gewiss gab es dort weder Skorpione, noch Taranteln. Es war ein völlig geschützter Raum. Das Zirpen der Grillen von draußen mischte sich in die tiefe Mehrstimmigkeit der Mönchsstimmen und beruhigte ihren Herzschlag auf eine fast irreal niedrige Frequenz.
Vielleicht war sie aus der Meditation auf der falschen Seite wieder herausgekommen und befand sich jetzt in einer Welt, die nur so aussah wie die ihre. Oder eine ihrer unendlich vielen Facetten, die in unterschiedlichen parallel existierenden Universen lebten und ganz unterschiedliche Dinge taten, hatte ihren Platz eingenommen und kannte sich an dem Ende, wo sie rausgekommen war, halt einfach nicht aus und wusste daher nicht, was sie hier tun sollte. Oder Aliens hatten sie während der Meditation entführt und ausgetauscht. Oder ein Software-Update vorgenommen, ein paar Bug Fixes…
Es fühlte sich eher wie ein komplettes Upgrade an. Eine neue Version, und als sei sie die erste Beta-Userin, die die ganzen Macken abbekam und darüber berichten müsste. Hoffentlich fand sie bald den Support-Button für die Hotline! Bei ihrem Glück war der aber sicherlich ohne Funktion. Sie fühlte sich heute wie ein Exotenhardwaremodell. Prächtig verpackt in ihrem hübschen Sommerkleid, in dem sie die ganze Zeit im Bett gelegen hatte.
Außen hui… innen völlig fremdartig. Ihr Kopfkino kam in Gang. Wahrscheinlich hätte man den Werbetext besser lesen sollen… Schon der Aufdruck auf der Box, so stellte sie sich vor, war wunderlich: „Hergestellt in Truthahn“. Und genauso interpretationswürdig empfand sie ihre Fortbewegung durch die Wohnung. Als seien Rollen unter ihren Füßen angebracht, glitt sie dahin, wusste aber nicht mehr, warum sie sich überhaupt bewegte und wohin sie wollte.
Über eine Drittsprache erschlösse sich vermutlich, dass die Satzstruktur der Programmierer genau umgekehrt herum verliefe wie bei ihr. Besteht Hoffnung, sich in der Mitte zu treffen? Da gäbe es ja vielleicht eine kleine Marge, in der ein vollständiges Übereinstimmen möglich sein könnte. Je kürzer das Auszudrückende, desto eher wäre klar, wo die sichere Mitte läge. Aber auch da könnte es Schwierigkeiten geben. Sagte Celia zum Beispiel „Ich bin ein Berliner“ und der Softwaremensch in seiner Programmierwelt dächte „Berliner ein ich bin“, kaprizierte sich Celia dann auf die Essenz, die da wäre „Berliner“. Und daraus schlösse der Softwarefuzzi womöglich „Hunger!“
Celia stöhnte laut bei dieser Vorstellung, dann bekam sie einen Lachanfall über ihre eigenen abstrusen Ideen. Sie kam heute mit sich überhaupt nicht mehr klar. Dieses neue Modell von sich selbst bestand offenbar aus nicht zusammenpassenden Sequenzen im blitzblank-glänzenden Rahmen, aber die Hauptsache funktionierte nicht. Wäre sie tatsächlich ein nagelneues Hardwaremodell, hätte sie sich jetzt weiterverkauft oder versteigert und die alte Version behalten. Die Interessenten hätten sich bestimmt schnell überboten, und der Verkaufspreis wäre um Größenordnungen höher als der Einkaufspreis. Aber wie es war, konnte sie sich selbst grade gar nicht aushalten. Die Alternative wäre, sich mit Wucht auf den Boden fallen zu lassen und die Bruchstücke wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen. Dabei vorlorengehende Teile hätte sie durch Muscheln, Blattgold, Tannenzapfen und Hosenknöpfe ersetzt.
Sie schlurfte erstaunt über ihre eigenen Gedanken in die Küche und stöberte missmutig in der Schublade, um eine Tütensuppe herauszuziehen. Hühnersuppe ging immer. Das wusste sie sogar in ihrer Schattenwelt.
Mit Mühe erinnerte sie sich, dass man einen Topf und einen Kochlöffel brauchte, irgendwie Wasser dazu tat, eine Weile wartete und ein paarmal rührte.
Ihr fiel sogar ein, wo sich eine Schüssel befand und ein Esslöffel. Sie setzte sich über die Suppe, die ihr ins Gesicht dampfte und fing an, vorsichtig Löffel für Löffel zu schlürfen. Allmählich wurde ihr Geist wieder klarer.
Als die Schüssel leer war, war sie plötzlich wieder zurückgetauscht. In der Hühnersuppe war wohl ein Portal. Ein Wurmloch. Celia, das Original, war wieder da! Das Halsweh von gestern begleitete sie aber noch.
Als sie voller wiedergewonnener Energie löffelbewaffnet ins Bad stürmte, um noch einmal diese pflanzlichen Tropfen zu nehmen, die der Arzt ihr gestern verordnet hatte, warf sie einen Blick auf die Packung. Was? „Psycho Chicken Magic Mushroom Drops“ stand darauf. Irgendwie war da wohl ein Fehler passiert! Dann bemerkte sie, dass das gar nicht ihre Rachentropfen waren, die waren wohl noch in der Handtasche. Das war irgendwas von ihrem Sohn! Er hatte es bei seinem letzten Aufenthalt auf der Durchreise zu diesem Musikfestival hier wohl auf dem Badezimmerschränkchen vergessen.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.