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Letteratour - Manuela Hoffmann-Maleki

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Nicht mehr waagrecht essen
10.12.2024 20:18

Nach den Krankenhausaufenthalten in Indien und Erlangen hatte ich die beste Idee meines Lebens. Ich habe ein Google Doodle erstellt und alle meine Bekannten von Facebook eingeladen, mich zu besuchen. Ich würde wie die Maharani im Bett auf sie warten und während ihres Besuches mich räkeln und strecken. Sie dürften mir und sich ein Stück Kuchen mitbringen und absolute Prime Time mit mir verbringen.

Das war eigentlich ein Hilferuf. Denn nie zuvor in meinem Leben hatte ich um Hilfe gebeten, ich hatte alles allein auf die Reihe bekommen. Ich hatte allein mein Studium finanziert, allein meinen Alltag geregelt, allein einen Freund durchgefüttert, der sieben Jahre nichts auf die Reihe bekommen hat, danach einen Ehemann ertragen, der häufig extrem unerträglich war, bis die Beziehung komplett zerbrach, und danach habe ich allein meine zwei Jungs großgezogen, meinen Vater durch die Demenz begleitet und meine Mutter, die das Haus nicht mehr verlassen konnte, parallel zu meinen Kindern in einer anderen Stadt betreut. Ich habe ihr an vielen vielen Krankenbetten im Klinikum und in Rehabetten beigestanden, abgesehen von der Versorgung bei ihr zu Hause. Für mich selbst war da keine Zeit gewesen. Und mir hat keiner geholfen. In meiner Familie gab es nämlich keine weiteren Verwandten, die da einspringen konnten. Alles ausgestorben.

Und nun lag ich ernsthaft darnieder. So sehr darnieder, dass ich einen Pflegedienst in Anspruch nehmen musste und meine Freunde um Hilfe bitten musste. Das war mir nicht leicht gefallen. Aber so in der Art wie ein Spiel, ein Rollenspiel, konnte ich es für mich selbst durchgehen lassen.  Und ich lernte dabei.

Die Leute kamen mich besuchen, einer nach dem anderen, Männlein, Weiblein. Jeden Tag jemand anderes. Und ich stellte fest, wie es ist, mal am anderen Ende dieser Konstellation zu stehen, oder besser gesagt, zu liegen. Mein Gegenüber konnte ja problemlos stehen. Ich konnte das nicht mehr. Ich hatte mein Rückgrat verloren, das ich die ganze Zeit für andere gezeigt und eingesetzt hatte. Nun brauchte ich die Kraft und Geradlinigkeit der anderen.

Ein jeder hatte eine andere Methode, sich einzubringen und Liebe zu zeigen. Der eine mit großem Kuchenvorrat, die andere mit langem Essenkochen. Ein Freund kaufte für mich ein, als müsste ich noch ein halbes Jahr im Bett bleiben. Mein Partner ließ sich von mir mit Freude als Privatsekretär buchen, der alle meine bürokratischen Abläufe in die Hand nahm, denn mein Hirnchen funktionierte dank der vielen Medikamente und Narkosemittel nicht mehr richtig. Einer kam und mähte mir den Rasen, eine Freundin wusch meine Vorhänge. Jemand trug mir das E-Piano ins Bett. Ein anderer kam und verbrachte 12 Stunden am Stück mit mir und erzählte hauptsächlich über sich selbst. Da war ich als Resonanzraum gut.

Nun, ein jeder war für etwas anders hilfreich, mehr oder weniger. Und ich lernte, wie es ist, geschätzt, verwöhnt und aufmerksam beobachtet zu werden. Ich durfte wieder ich selbst werden, auf die Beine kommen im Schneckentempo. Und es gelang mir. Dank der moralischen Unterstützung der Freunde oder mancher bisher lediglich als Name auf Facebook bekannten Personen fing ich an, täglich am Zaun entlang zu laufen. Erst ein einziges Mal entlang meines Gartens und mit Ach und Krach wieder zurück. Anderntags zweimal. Am dritten Tag drei Mal und nach etwa 18 Mal beschloss ich, beim nächsten Mal mit der anwesenden Person zur Eisdiele zu gehen, die in unmittelbarer Nähe lag. In diesem Moment kam mit das allerdings schon fast unvorstellbar weit entfernt vor. Zumal ich mich am Zaun festhielt, wenn ich ging, und so musste ich mich in Ermangelung einer Reling bis zur Eisdiele auf die Person verlassen, die ich bat, mit mir da den Eisbecher zu bestellen.

Es glückte. Nicht in Perfektion, aber ich durfte ja hier auch mal unperfekt sein. Nachdem ich monatelang waagrecht im Bett ausschließlich im Liegen gegessen hatte, konnte ich erstmals wieder im Sitzen auf einem Stuhl unter freiem Himmel in Anwesenheit der so lange vermissten Mitmenschen mein Eis verzehren, während Jubel in mir aufstieg über meinen ersten zaghaften und extrem zittrigen Phönixflug. Aber die noch kurzen Federn flatterten bereits ein bisschen im Winde. Und wenn ich am heutigen Tag mit meinem Federschmuck auf dem Berg stehe und stolz dem Winde trotze, so kann ich das nur, weil ich nicht nur im Prinzip für alles die Kraft habe, es selbst zu machen, sondern weil ich auch gelernt habe, wie man um Hilfe bittet.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

Eins nach dem anderen
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