Es lag ganz viel Schnee, und ich war neun. Ich hatte endlich eine Freundin gefunden. Gemeinsam fuhren wir auf den Erdaushüben der neuen Häuser mit unseren Schlitten bergab, Dutzende von Malen. Mein Arosa-Holzschlitten war alt, aber immer der schnellste, denn ich hatte ihn fachgerecht nach Anleitung meines Vaters bearbeitet – der geräucherte, würzig duftende Speck schmeckte nicht nur mir, sondern auch den Schlittenkufen und ließ sie wunderbar gleiten.
Die Handschuhe waren schon klatschnass und mit Schneebröckchen gespickt. Sie rochen nach Wolle und Schaf, und der aufgewühlte Schnee mit den erdigen Spuren hatte einen eigenen Geruch nach dumpfer, guter Erde. In der Luft konnte man erschnüffeln, dass bald die nächste Fuhre Schnee kommen würde – dieser kühle Duft von Weite und scharfer Klarheit vor dem großen Schneegestöber war bereits da.
Schnell wurde es dunkel und ich durfte zu meiner Freundin in die Wohnung im obersten Stock mitkommen. Auf den Treppen versuchte ich sie zu überholen, aber sie war als erste oben. Schon draußen im Flur, in den sonst graue Schwaden von Blumenkohl fremder in anderen Stockwerken hineinzogen, roch es leicht nach Tannenzweigen und Äpfeln. Dieses Apfelaroma war immer vorhanden. Jetzt, als Erwachsene denke ich mir, wahrscheinlich lagerte ein größerer Apfelvorrat irgendwo.
Es war wie immer ziemlich kalt in der Wohnung. Die Familie hatte einfach eine andere Wohlfühltemperatur als wir in unserem Haus. Damit es wärmer wirkte, hat meine Freundin eine Kerze im Glas angezündet, die wundersam duftete, eine Mischung vielleicht aus Rose und Traube. Die Kerze hielt ewig. Sie roch wie sie aussah, pink-violett - wunderschön war sie. In meinem Zimmer hätte ich bestimmt keine Kerze anzünden dürfen, da hätte meine Mutter zu viel Angst gehabt, dass ich damit etwas in Brand stecke. Aber Fritzi hatte die Kerze sogar von ihren Eltern bekommen. Wenn sie sie ausmachen wollte, legte sie einfach den Deckel drauf und die Kerze ging von selbst aus.
Aus Fritzis Fenster vor dem Balkon sah ich den Bauernhof und mein Haus und die nun schneebedeckten Erdberge, in denen wir im Sommer unsere Hütte aus bitter ausdünstender Dachpappe und salzig-phosphorig duftenden Brettern gebaut hatten, abgedeckt mit Asbestplatten. Natürlich wussten wir nicht, dass die giftig waren. Ich hatte schneeweiße Steckdosen mit nach Hause gebracht, die kiloweise auf dem Schutthaufen lagen. Sie waren neu. Ich fand sie befremdend interessant, wusste aber nichts damit anzufangen, die Verwendungsmöglichkeiten für mich als Kind waren begrenzt. Mein Vater steckte sie in seine Werkzeugvorräte.
Fritzi ging in die Küche und kam zurück mit von ihrer Mutter selbstgebackenem Körnerbrot und geschnittenem Apfel. Ich freute mich, denn heute gab es Kartoffelkäse auf dem Brot. Die Herstellung blieb ein Geheimnis, es war eine relativ neutrale Masse, mit nur einem Hauch von Geschmack, genau so viel, dass man davon süchtig werden konnte. Das funktionierte wie bei Chips: man konnte nicht aufhören, insbesondere mit dem Wohlgeschmack der Körner drunter, die beim Kauen so süß wurden. Da ich da aber nicht Zuhause war, musste ich mich zusammenreißen, denn nach mehr zu fragen schickte sich nicht.
Rechtzeitig zum Abendessen war ich dann daheim, ohne zu erwähnen, dass ich bereits etwas gegessen hatte. Das war vorteilhaft, denn Papa hatte Bratäpfel im Ofen gemacht. Die Luft war geschwängert von dem Wohlgeruch der Boskopäpfel mit ihrer köstlichen, süßen Füllung aus Rosinen und Zimt. Eine seltene Köstlichkeit, zumal es bei uns zu Hause keinen Zucker gab, mein Vater war ja Zahnarzt. Die Bratäpfel kamen in der Bratrain dampfend aus dem Ofen. Man verbrannte sich grundsätzlich beim ersten Bissen, aber keiner von uns konnte warten. Ein Glas Wasser half, den abblätternden Gaumen wieder zu besänftigen.
Wenn es Bratapfel gab, hieß das: Die Eisenbahn wurde bald wieder herausgeholt, denn es weihnachtete sehr! Auch Fritzi hatte eine. Bei ihr war die Nutzung auf wenige Tage eingeschränkt, meine Eisenbahn war aber den ganzen Winter im Keller für mich da. Die Loks rochen irgendwie nach Bakelit, wie ich heute weiß. Das war leicht unangenehm, aber da ich es liebte, die Schienen aufzubauen und die beiden Lokomotiven nach Durchrattern der Kurven auf der Brücke kollidieren zu lassen, so dass sie in die aufgestellten drei Tannenbäume stürzten und hilflos und lautstark mit den Rädern in der Luft fuhrwerkten, war auch dieser Geruch einer, der pure Freude initiierte.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.