Judith erwachte mit dem unbestimmten Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Als sie es schließlich schaffte, die Augen zu öffnen und sich aufrichten wollte, um aus dem Bett zu springen, war sie sehr überrascht. In ihrem Bett lag eine Pflanze. Eine schöne große. Sie bestand aus mehreren langen gewundenen Stängeln mit frischen grünen, großen, herzförmigen Blättern.
Als sie die Füße auf den Boden setzen wollte, glitten zwei der Stängel auf den Boden, und Judith wurde sich dessen bewusst, dass diese Bewegung von ihr ausging. Sie hatte sie willentlich gesteuert. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, um diese Stängel zu berühren, zu sehen, ob sie echt waren oder chinesische „Kunstwerke“, da bemerkte sie, dass sie ihre Hand nicht ausstrecken konnte, sich dafür eine weitere dieser Ranken zu dem linken Blättergewurle hinbewegt hatte und dieses als echt identifizierte.
Wie konnte ihr Hirn wissen, dass die Ranke echt ist, und wo war ihre Hand? Überhaupt, wo waren denn ihre Beine? Und wo war denn eigentlich… ihr alles? Judith war nicht mehr da. Judith war nicht mehr Judith. Die Pflanze hatte den kompletten Platz eingenommen, den Judith innenhatte, und in ihrem Hirn dachte die Pflanze. War das Hirn noch in ihrem Kopf oder wo? Sie befühlte mit der rechten oberen Ranke ihren Kopf und stellte fest, dass ihr Kopf mit den langen rötlichblonden Haaren auch nicht mehr an Ort und Stelle war. Stattdessen waren da weitere Blätter.
Sie schwang sich aus dem Bett und bewegte sich Richtung Spiegel. Das war nicht ein Gehen mit einem Schritt vor dem anderen, sondern ein tänzelndes Schwingen, ein sich räkelndes Vorangleiten. Dabei raschelten die Blätter schön, und wie sie glaubte zu erkennen, freudig und lustvoll. Es war ein angenehmes Vorankommen, vor allem lag keinerlei Mühsal darin und aller Schmerz und jedwedes Unwohlsein, das sie sonst immer in sich trug, waren verschwunden.
Mit sattem, saftstrotzendem Blätterwedeln baute sie sich langsam und sich ein wenig windend, aber stabil vor dem Spiegel auf und blickte sich in die Blüten. Wunderschöne riesige, vielblättrige rote Blüten sahen ihr entgegen. Die Außenränder der Blütenblätter waren weiß und die Staubgefäße schwarz mit orangeroten Staubbüscheln, die ein bisschen vor sich hinrieselten. Sie wischte sich den Blütenstaub von einem Blatt, wie sie sich gestern noch die Wimperntuschekrümel vom Lidrand gewischt hatte.
Gleichzeitig entsetzt, aber auch euphorisch-beglückt strahlte sie sich an und die Blütenkelche öffneten sich weit. Eine durchsichtige Flüssigkeit rann aus ihnen, die süß nach Ambrosia duftete. Wie schön sie war! Und ein bisschen weiter unterhalb waren ganz viele noch grüne Knospen in unterschiedlichen Reifungsstadien. Bald würden sie nachkommen und ebenfalls aufblühen. Was für eine fantastische Pracht sich dann jedem Betrachter bieten würde!
Judith fing an zu singen. Ganz leise erst, und dann immer lauter. Es klang nach Kolibri, zwitschrig, gefühlt zwei bis drei Oktaven höher als sie sonst gesungen hatte, und die Melodie roch schon fast nach Urwald und fettem schlingendem Laub in wundervollem Chlorophyllzustand. Ein Lied von Überfluss und wallender Pracht. Von Gesundheit und Sorglosigkeit. Von Überschwang und Alles-umschlingen-Wollen. Wollust und Ekstase. All dies kam in einem kleinen Lied zum Ausdruck, das anschwoll und in sich selbst vielstimmig wurde. Es waren nicht Obertöne, die hinzukamen, sondern Begleitstimmen. Und die kamen alle aus den Blütenkelchen.
Judith hatte nie geahnt, dass Blüten singen können, noch dazu so schön, und nun konnte sie es selbst. Sie wedelte sich ins Bad, verlor dabei unterwegs zu ihrem Leidwesen ein angewelktes Blatt, bemerkte aber, dass an dessen Stelle bereits eine neue Blattknospe unter der nächsten Achsel schlummerte. Im Bad wollte sie, wie sonst immer, die Toilette benutzen, bemerkte aber, dass dies gar nicht ging. Dafür tropfte immer mal wieder, ganz leise, kaum hörbar, ein kleiner – pling! – hört ihr, da war es! – Tropfen von einem der unteren Blätter und platzte – kalatsch! – vollmundig auf dem Boden auf. Als sie hinter sich sah, hatte sie eine feuchte Tropfspur auf dem Boden hinterlassen. Naja, das war nur Wasser, das würde trocknen.
Sie wollte sich die Zähne putzen, aber dann überlegte sie, wo denn eigentlich jetzt ihre Zähne seien. Da waren ja keine! Also grinste sie sich selber noch einmal fröhlich in die Blüten und war begeistert über die Beweglichkeit dieser wundervollen fettfleischigen roten Blätter. Leider konnte sie sich nicht selber riechen. Nicht weil sie sich nicht mochte, sondern weil es ihr an einem Riechorgan mangelte.
Als sie all dies festgestellt hatte und voller Verwunderung immer und immer wieder über ihre grünen Blätter strich, beschloss sie, in die Küche zu wandern, wo sie den Kühlschrank mit Mühe öffnete. Was frühstückte man denn so als Pflanze? Was auch immer sie da im kühlen Menschenfutterkasten entdeckte, entlockte ihr keinen Speicheltropfen. Sie hatte nämlich auch keine Zunge und keinen Gaumen und keine Speicheldrüsen. Hmpf. Das war jetzt irgendwie schwierig.
Schließlich beschloss sie, zwei kleine blaue Schüsseln, ihre Lieblingsschüsseln, die mit Wasser gefüllt auf dem Tisch standen, zu nutzen. Dass viele Fliegen drin schwammen, störte sie nicht. Sie zog sich den Stuhl vom Tisch weg, arrangierte sich elegant darauf und ließ ihre Zehen in die Schüsseln tauchen, die sie auf den Boden gestellt hatte. Oh, wie das gut tat! Sie fühlte, wie die Säfte sofort in ihr stiegen und wie sich in den Blüten die süße Flüssigkeit vervielfachte und hervorquoll.
Ein paar Fruchtfliegen waren schon im Anflug, die hatten es sich bislang in ihrer Küche gütlich getan und waren stets sehr lästig gewesen, aber heute empfand sie es als sehr angenehm, als diese in ihre Kelche einschwebten und sich an dem schönen Nektar delektierten. Ja, er wurde gebührend gewürdigt, und dafür war er ja da. Sie beschloss spontan, die Fliegen zu lieben und entschuldigte sich bei ihnen, dass sie bereits so viele von ihren Artgenossen mit Essigfallen ersäuft hatte. Gleich würde sie die Fallen entsorgen. Die würden nicht mehr gebraucht.
Auf dem Tisch stand auch ihr Laptop. Jeden Morgen schrieb sie eine Kolumne für ihre getreuen Freund*innen. Auch heute wollte sie ihnen ein paar Worte zukommen lassen. Aber wie schreibt man als Pflanze? Ihre Blätter huschten über die Tasten und drückten zeitgleich mehrere Tasten. Auf dem Bildschirm erschienen ganze Reihen von Buchstaben, die keinen Sinn ergaben. Die Blätter machten schmatzende Geräusche und eines krackste beim Aufdrücken verdächtig, so als könne es sich gerade einen hässlichen Bruch geholt haben.
Tatsächlich, da hatte es doch einen Riss gekriegt. Wie blöd. Was sollte sie jetzt machen? Heilt so etwas wieder? Oder wird das arme Blatt jetzt gelb und fällt ab? Je genauer sie es betrachtete, desto komischer wurde ihr, und desto wortkarger wurden ihre Gedanken, und als sie hochsah und in den Laptop schaute, war das einzige, das sie noch erkennen konnte, ein gelber Hintergrund und ein blauumrandetes Fenster im Vordergrund. Aber die Worte fielen ihr nicht mehr ein, sie konnte auch keine mehr lesen, und ihr CO2-Vorrat schien nicht mehr wirklich gut genug zu sein für irgendwelche klaren Gedanken.
Ihre Freunde waren ihr plötzlich ganz nebensächlich geworden. Sie legte sich über die Rücklehne und ließ ihre lianenförmigen Ranken rückwärts auf den Boden herabrauschen. Dort blieben sie schlaff liegen und rührten sich erstmal nicht mehr. Irgendwas an dem Wasser in den Schüsseln, die sie neben dem Waschbecken weggenommen hatte, war faul. Nun fiel es ihr auch ein. Gestern hatte sie mit Essigreiniger Kalkränder in diesen beseitigen wollen. Das tat ihr jetzt irgendwie nicht so gut. Sie versuchte, ihre Zehen aus den Schüsseln herauszuziehen, aber dafür hatte sie nicht mehr genug Kraft. Die Gedanken vergingen ihr nun völlig und ihre Gefühle verdunkelten sich. Ein stechender Schmerz raste plötzlich von unten nach oben durch ihre ganzen Triebe und ließ auch das letzte Blatt sich nach unten neigen.
Am Nachmittag kam die Nachbarin, die Judith ein Stück Kuchen vorbeibrachte. Da die Tür offen war, trat sie in die Wohnung ein und fand die arme Pflanze mit so vielen gelben Blättern in der Küche vor. Der ganze Boden lag voller wundervoller roter Blüten, die alle abgefallen waren. Nur eine einzige, ganz oben, war noch verblieben. Sie hatte Mitleid mit dem armen, schlaffen Gewächs und stellte es umgehend in einen großen Eimer voller Frischwasser. Auch nahm sie mehrere der Bambusstangen, die auf dem Balkon lagen, und wickelte die Stängel darum. Sie fand ein Wollknäuel und befestigte die Ranken daran. Dank ihrer Ausatemluft bekamen die Blätter wieder Kraft und richteten sich langsam auf. Daaaaanke... lallte Judith mit sehr schwerem Stempel, aber das verstand die Nachbarin nicht. Sie konnte halt kein pflänzisch. Aber Judith verstand sie, denn die Nachbarin redete der Pflanze ein bisschen begütigend zu, in einem Ton, wie man mit einem lieben kleinen Hündchen redet, und Judith wedelte zum Zeichen des Verständnisses sachte mit den Blättern.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.