Zum Abendessen gab es heute mal was Fertiges mit Linsen. Nicht ein pampfiges, dunkelbraun-matschiges, mehliges Gemantsche aus der Dose, sondern eine vom Discounter bzw. seinen Zulieferern tatsächlich direkt liebevoll zusammengestellte Variante unterschiedlicher kulinarischer Kostbarkeiten, bei denen man schon fast verstehen kann, wieso die Geschichte mit dem Erstgeborenenrecht passiert ist, und wie das der Jakob dem eigentlich erstgeborenen Zwilling Esau im Tausch gegen ein leckeres Linsengericht abluchsen konnte. Auch ich habe in den letzten Tagen kleine Kostbarkeiten zusammengesammelt, die sich nun in einen gemeinsamen Rahmen fügen mögen oder auch nicht. Wir werden ja sehen, ob die Mixtur genießbar wird.
Irgendwie ist alles etwas seltsam geworden, seit ich aus dem Nachbarschaftsforum etwas bei einer Dame in meinem Alter abholen wollte. Ich trat im 5. Stock aus dem Lift und blickte dieser hübschen Person in die Augen, und dann konnte ich mich aus dem Blick quasi nicht mehr befreien. Sie hatte recht helle, grünliche Augen, so dass der farbliche Kontrast zur Pupille recht groß war. Und diese Pupille war bei ihr nicht etwa rund, wie bei allen anderen Leuten, sondern es sah aus, als hätte sie 2 Pupillen untereinander, also langgestreckt, nicht ganz gerade, sondern in der Mitte etwas tailliert. Und das auf beiden Augen. Absolut hypnotisch! Mit Mühe riss ich mich los und nahm mit, was ich gekauft hatte, nicht ohne ihr zu sagen, wir faszinierend ich ihre Augen fand. Sie zwinkerte mir beidäugig gelassen zu und sagte nur lächelnd „Ehrlich?“. Dann schloss sie die Tür. Ich hörte sie vernehmlich durch das dicke Holz hindurch schnurren. Mein Blick fiel auf das Klingelschild. „Kaadz“ stand da.
Von da an fing ich an, genauer hinzuschauen, und außerdem auf die Wörter mehr zu achten, die mir über den Weg liefen. Diese Woche hatte ich dazu reichlich Gelegenheit.
In die Gänge gekommen nach all den Jahren, weder zu früh, noch zu spät, hatten mein Partner und ich uns getroffen auf den Gleisen des Lebens, deren Weichen ein pflichtbewusster Gehilfe des Universums für uns so gestellt hat, dass wir vor fast genau zwei Jahren mit niedriger Geschwindigkeit aufeinandertrafen. Und nun fuhren wir gemeinsam zu einer Tagung nach Duisburg. Zu einem Mehrtagesausflug mit einer Ausbeute von Tausenden von Fotos.
Im Zug stellten wir fest: mein schlauer Partner ist durchaus praktischer veranlagt als ich. Er bevorzugt unterwegs „streng belegte“ Brote, während ich auf meine mit Fleischsalat bis zur Unkenntlichkeit bedeckten Finger und weiße Mayonnaise auf meinem blauen Shirt blickte, wo sich die Flecken zum Glück perfekt in das Batikmuster integrierten. (Tja, davon gibt’s „leider“ kein Foto.)
Kaum angekommen wurden wir mit einem knallgelben Lanyard mit Namensschild behängt, das unsere Zugehörigkeit zum 1200-köpfigen Clan bestätigen sollte. Außerdem gab es Armbänder. Blau für: ich hab keine Manschetten vor Berührung. Weiß für: wenn du mich nett vorwarnst, darfst mich ggf. auch mal am Arm antupfen. Gelb für: Halt deine Griffel besser hinter dem Rücken, ich kann Getatsche nicht leiden! Für meinen Partner wäre – passend zu seinem Standardoutfit – schwarz angemessen gewesen für „Wenn du auch nur dran denkst, mir nahezukommen, möge dich der Blitz pulverisieren!!!!11!“ Ich nahm, meinem Naturell entsprechend, das hellblaue als nahbare Menschin. Mich hinzustellen mit einem Schild „Free Hugs“ wäre für mich echt kein Problem. Ich umarme gern und lasse mich auch gern umarmen.
Am nächsten Tag ging mein persönlicher Marathonlauf durch Duisburg richtig los. Ich ließ mich auf das neue Erlebnis nicht nur halbwegs ein, sondern, wie bei Günther Jauch so nett vorgeschlagen: Ganzpfads. Das gibt mehr Trittsicherheit, als wenn man so zum Aus-der-Bahn-Torkeln neigt, wenn der Halbweg sich in die Kurve legt. So wie das Duisburger Tiger-and-Turtle-Wahrzeichen – eine alte Achterbahn, die man begehen kann. Außer im Looping kann man dort überall herumstrawanzen. Natürlich in Duisburg nicht nur auf der Achterbahn. Ich bewegte in dieser Woche meine zimperliche Körperin täglich an die 10 km, was für mich mit einem Pensum von ansonsten nur etwa 1500 Schritten pro Tag mehr als eine reife Leistung ist.
Ich bin dort einerseits den ausgetretenen, rollschuh-tauglichen Pfaden von Abermillionen von Touristen gefolgt, auf denen die Ungnade der Sohle jede aufstrebende Blume im Keim erstickt hat. Andererseits habe ich aber auch Industriekultur besichtigt in einem überbordenden Park, der grob irreführend „Landschaftspark“ heißt, aber in Wirklichkeit eine altes Hüttenwerk (andersrum gesehen eine Kohleverarbeitungsanlage) mit sämtlichen dazugehörigen Gebäuden birgt, die begehbar ist, von der Natur zusehends wieder eingenommen und überwuchert wird, bis eines Tages vielleicht nur noch ein paar merkwürdig geformte grüne Etwasse da stehen – alle rostigen Riesenzahnräder, Möllerbecken und Essen (jetzt kann ich mir endlich vorstellen, wieso die Stadt daneben, wo wir die Zeche Zollverein besichtigt haben, so heißt) darunter spurlos verschwunden (bis auf Spurenelemente im Wasser, vom korrodierten Metall.) In ferner Zukunft kommt vielleicht wieder mal jemand auf die Idee, mit sowas wie der Lidar-Lasertechnologie den Urwald zu vermessen. Dann werden diese alten Metallberge wiederentdeckt wie die archäologischen Funde aus Maya-Land – die Hinterbliebenschaft einer vergangenen Hochofenkultur.
Nebenbei war ich außerdem auf der Spur geschichteter Geschichte, habe erfahren, dass aus Kohle neben der mir bekannten Margarine z.B. auch Bakelit und Aspririn gewonnen wurde. Ich ließ mich abfüllen mit einer Informationsvielfalt über die Mercatorstadt (nicht mehr Montanstadt) und alles, was mit dem Duisport, dem weltgrößten Containerumschlagplatz im Binnenland unter der Aufsicht eines enormen Poseidonkopfes mit freundlichen Arglosaugen zu tun hat, inhalierte wissbegierig Details und Gereimtheiten, führte tief- und flachschürfende Gespräche, habe mich vielfach gewundert, häufig geschmunzelt und manchmal nur noch hilflos geröchelt und mit den Äuglein gerollt. Ich bin dem Explosionsregen (Platzregen konnte man das nicht mehr nennen) nicht ausgekommen und musste eine rumpelstilzchenfarbene knallige Regenjacke kaufen, sonst wären mir meine Spaziergänge ziemlich vergällt oder vielmehr verwässert worden. Feuerrot passte ja hervorragend zu dem wunderhübschen kanarienfarbenen Lanyard… (Wurde dieses Gelb womöglich wegen des Einsatzes solcher Vögel in Bergwerken extra für das Ruhrgebiet gewählt?)
Ich trug unter der Meute von Gleichgesinnten stolz mein neues Einheitsuniform-Sweatshirt mit dem Klugscheißer-Aufdruck und das andere mit dem Schriftzug „Ja, aber…“. Vor einiger Zeit hat mich zwar jemand darauf hingewiesen, dass das Leben sehr viel einfacher wird, wenn man stattdessen „Ja, und…“ sagt, ABER meine Schmetterlinge im Kopf sind nun mal häufig schwarz und dickleibig und brummsummen vibrierend und mehrstimmig. Ein reiner Hauptton und mehrere kratzige Artefakte. Sie sind in Wirklichkeit wohl eher Wildbienen-Queens. „Die Heilung kommt durch Summen“, erfuhr ich heute in einem Chakrentanzworkshop. Warum durch Summen, aber nicht durch Differenzen? Heilendes Gewitter, krachbummschmetterklirr und es wird gekrischen… und Haare gerauft (die des Gegenübers), Gegenstände fliegen und zersplittern. Dann kommt die große Entkatastrophisierung und alles verwandelt sich wieder in Friedefreudeeierkuchen. – Abgesehen von den großen Rissen, an denen sich künftig stets unverhofft an einem „Schocksalstag“ der Abgrund öffnen könnte, wenn man noch ein einziges Mal fest aufstampft… Nein, dann lieber doch Summen! Lassen wir es dabei!
Summen und lachen liegen auch näher beieinander. Letzteres fällt einem leichter, wenn man vorher frohgemut herumgesummt hat. Oder wenigstens gemut. Bei Platon war Lachen ein mittleres Kapitalverbrechen, Zeichen würdeloser Niedertracht. Im Buch Der Name der Rose von Eco kamen die ganzen Mönche eigentlich zu Tode, weil sie nach Belustigung in dem vergifteten Buch suchten. Wer aber lacht, hat keine Angst vor dem Teufel und kann kein guter Christ sein, denn Gott ist dann ja auch nur noch Nebensache und nicht der Antagonist vom Antagonisten. Anarchie pur! Das war also nach der verqueren Anschauung des Mörders todeswürdig.
Bei Aristoteles hingegen war die Fähigkeit zu lachen eines der Merkmale, das uns vom Tier unterscheidet, und darauf ist man ja schließlich stolz. Auf Englisch heißt Lebewesen „Man and other animals“. Wer lacht, hebt sich vom Tier ab. An einem Wochentag kann man ja Lachfasten halten wie König Ludwig IX, der es damit darauf anlegte, trotzdem in den Himmel zu kommen. Tja, was soll man sonst machen. Sich freuen, wenn‘s regnet, denn wenn man sich nicht freut, regnet es auch. Und am Ende dieses Spectaculum vivendi ist man noch tot. Da dieser König auch „Der Heilige“ genannt wird, ist ihm die Himmelfahrt dann wohl auch gelungen. Hoffen wir es für ihn. Und dass er schwindelfrei war.
Gelacht haben wir in Duisburg des Öfteren. Wenn auch oft über Beobachtungen unserer Mitstreiter, die eigentlich ohne die Absicht, humorig zu wirken, einfach sie selbst waren.
Auf dem Rückweg saßen wir lieber lanyardlos inkognito im Zug und hofften, dass uns keiner von der illustren Schar über den Weg läuft. Wir waren gesättigt bis oben hin mit teils oder auch nicht nützem Wissen, Eindrücken und ungehemmten Redeschwällen, vielchöriger Esstischbeschallung, karnevalustisch trockenen Darbietungen von Zynismus und lachtränchenkristallisierenden Aphorismen um 11:11 Uhr oder auch gnadenlos zu jeder anderen Tages- und Nachtzeit.
Am Abend sahen wir dann bei lauschigen Temperaturen zu, wie sich unsere liebe alte Ingol-Stadt dämmerschläfrig ihren Speckgürtel umlegte, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, und sich selig aufstöhnend ins gemachte Bett plumpsen ließ. Genau wie wir. Eine Wohltat nach den Nächten auf dem stelzenfüßigen doppelmaträtzigen Seziertisch von Bett, dessen Federkernoberkante, wenn man danebenstand, ungefähr oberhalb der Poritze endete, was bei Menschen wie mir, die dank Zipperleins eh schon Schwierigkeiten haben, ins Bett zu steigen oder daraus hervorzukriechen, das Problem deutlich potenzierte, so dass ein Sprungbrett vonnöten gewesen wäre, um mich hochzukatapultieren. Und morgens wurde man bereits um 20 vor 8 dank der Umbauarbeiten mit zweistimmiger Bohrmaschinenmusik liebevoll geweckt (wir haben Audioaufnahmen!!!). Dass das Hotel dabei mit einem Aushang versprach, uns in Zukunft mit einem sehr viel höheren Übernachtungskomfort zu begrüßen, ist uns schnurz. Wir kommen bestimmt nicht wieder.
Dennoch: für mich war die Großveranstaltung per se ein interessantes Erlebnis (das vierte dieser Art) und ich habe heute das entsprechende Event für nächstes Jahr in Bremen gebucht. Hoffentlich hat sich bis dahin der auf den allabendlichen Völlereiveranstaltungen mit vorab ausgestellten Waffelscheinen angefressene Speck wieder abtrainieren lassen. Gewaltmärsche bin ich ja jetzt schon gewohnt. Leider ließ die lukullische Qualität der Speisen in den von uns besuchten Lokalen durchaus zu wünschen übrig (Fajitas und Gnocchi können die dort jedenfalls nicht, ja nicht mal Currywurst!). Da lobe ich mir jedenfalls die Schüssel Linsen von heute. Wenigstens megalecker! Artgerecht. Schnurr… Gut, dass ich keine Geschwister habe.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.