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Ap
Unrasiert und fern der Heimat
19.04.2024 01:33

Oben über den Dächern zogen Raben ihre Kreise. Es war also vielleicht doch noch ein bisschen Winter. Obwohl der Himmel, der auf die Bergkette gegenüber zu stürzen schien, schon fast schwarzblau wirkte. Obwohl sich da drüben irgendwas zusammenbraute. Aber trotzdem stoben die hellsichtigen Raben durch die Lüfte und krächzten rau. „Bringt gute Nachrichten, liebe Raben!“ rief ich ihnen vorsichtshalber frohgemut zu.

Wie war das eigentlich mit Raben? Von Schwalben wussten wir, dass sie eigentlich bei bald eintreffendem Regen nur in tieferen Regionen nach Mücken suchten. Es war aber windig, und Mücken gab es daher nicht. Oder vielleicht auch zu dieser Zeit noch nicht einmal. Und wie Raben zu fliegen hatten, wussten wir nicht wirklich. Wahrscheinlich fraßen sie auch gar keine Mücken.

Wir waren erst gestern Nacht angekommen und wussten noch nicht, was uns hier erwartete. Mit einer gewitterwilden Sturmorgel auf dem Dach hatten wir jedenfalls nicht gerechnet, aber anscheinend war sie im Preis inbegriffen. Sie hatte gestern gebrüllt und in der Nacht in einem fort geklappert. Nun hatte sie sich beruhigt und raschelte nur noch ab und zu einmal.

Das mit den Vögeln war seltsam. Sie sollten gar nicht da sein. Aber wir waren in einem fremden Land, und da könnte ja alles anders sein, als wir es gewohnt sind.

Tatsache war, dass wir unten am Frühstückstisch mit einer knoblauchlastigen gelben Suppe begrüßt wurden. Die hatten wir auch nicht eingeplant. Dazu gab es ein weißes joghurtartiges Getränk, in dem sich Salz, Rosenblüten und Pfefferminz zu Wort meldeten, wahrscheinlich waren die grünlichen Faserstücke darin außerdem Sellerieteilchen. Sowas gehörte nicht zu unserem normalen Frühstück und wir augenwinkelten uns überrascht und etwas amüsiert zu.

Wir hatten vor der Reise beschlossen, alles gutzuheißen, was man uns angedeihen ließ und keine heimatlichen Automatismen aufkommen zu lassen. Wir wollten mal ganz wer anders sein und tun, was wir sonst nie taten, Dinge sehen und wagen, die wir sonst nie wagten, offen für alles sein und Unerhörtes erleben.

Nach dem Frühstück hätten wir uns in jedem anderen Urlaub, in dem wir bislang mit unseren früheren Partnern gewesen waren (er mit Heidrun, ich mit Wolfgang), normalerweise zurückgezogen, um unsere mitgebrachten Schätze auszupacken und zu verstauen, aber so verließen wir stattdessen das große, nicht so ganz blitzsaubere, aber immerhin gemütlich-herrschaftlich-antiquiert wirkende Gebäude, denn wir wollten sofort der Routine entgegenwirken.

Unsere noch schläfrigen Füße trugen uns anfangs etwas unwillig, aber bald freudig entlang der wasserführenden Rinne neben dem stark überhöhten Gehweg. Der Gehweg endete abrupt an einer Mauer, so dass man durch einen aufgegrabenen Bereich mit schütterer Grasnarbe abbiegen musste, um die eingeschlagene Richtung weiter zu verfolgen. Es ging sachte einen Hang hoch, was jedoch aufgrund der schwergeschleppten übervoll gepackten Rucksäcke vom Vortag ungewöhnlich in die muskelverkaterten Beine stieg, so dass wir mehrfach stehenblieben und die rosa Blüten auf den Bäumen entlang der Straße bewunderten. Droben kreisten noch immer die Raben.

Nachdem wir gebührlich gerastet und schließlich den Ortskern erreicht hatten, in dem der Verkehr zur Morgenstunde bereits tobte und lärmte, versuchten wir einen günstigen Augenblick abzupassen, in dem wir die Straße wehenden Gewandes (wir hatten uns ein bisschen dekorativ in Schale geworfen) überqueren konnten. Es war uns jedoch nicht vergönnt, eine Lücke im dreifach nebeneinander und durcheinander wuselnden Vielklang der Hupen zu erlauschen. Uns versagte schlicht der Mut angesichts der unverminderten Geschwindigkeit der Heranbrausenden und wir überlegten, ob ein Queren der unbeampelten Straße eigentlich wirklich erforderlich sei, als ein älterer Herr mit einem Krückstock sich unserer erbarmte und herrisch mit gesenkter, flatternder Hand gegen den Verkehrsstrom winkte, wodurch sich dieser wundersamerweise von der jeweiligen Fahrbahn fernhielt, über die der Alte mit einem langen Rauschebart uns wie Moses durchs Meer führte, bis wir sicher am anderen Ufer anlangten.

Wir dankten ihm wortkarg aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, aber mit herzlichem Nicken und einem liebevollen Lächeln bzw. zwei ebensolchen. Er nickte ernst und mit mittig sich berührenden Augenbrauen zurück und verschwand im Getümmel des sich auftuenden Gewürzbazars, der uns sogleich mit einem herrlichen Gemisch von Wohlgerüchen zu überwältigen versuchte. Gelbschattierungen aller Art dominierten die bräunlichen Farbnuancen, aber boshafte kleine rote Farbinseln winkten frech mit ihren Chilisaatenfingern, die sehr genau wussten, dass sie klein, aber oho waren. Gewürzschoten aller Formen und Couleur ließen uns nur mutmaßen, welcher Pflanze sie entstammten und wozu sie gut sein könnten. Es sammelten sich Pulver, Zweiglein, Blättlein und Wurzeln, haarige Etwasse und flockige Seltsamkeiten, die vermutlich als Tee gegen allerlei Beschwerden wunderheilsam wirksam wären, wenn man denn wüsste, wogegen genau.

Berge von Tierkrallen, augenartige Gallertkugeln, getrocknete Saugnäpfe, spinnenfingrig-gliedmaßenartige dünne schwarze Gebilde türmten sich hier neben grasgrünen, kleingeschnittenen, in irgendeiner Flüssigkeit eingelegten algenartigen Unwägbarkeiten. Diese alle zu benennen wäre vermutlich eine Wissenschaft für sich. Kaum denkbar, dass eine ortsansässige Hausfrau hier wüsste, was sie ihren Kindern gegen Bauchweh und ihrem Mann gegen seine übermäßige Potenz angedeihen lassen könne.

Hörbi bannte das Ganze auf den Schwarzweißfilm seiner Kamera und lamentierte ein bisschen, dass er sich nicht doch für Farbe entschieden hatte, wo doch heute ein solches Übermaß geboten war. Aber wir wollten uns ja nicht beklagen, und so pilgerten wir voller Optimismus, dass auch diese Entscheidung sich als gut erweisen würde, weiter. Am Ende der Bazargasse schloss sich winkelig eine Standreihe an, in der Turnschuhe aller Art angeboten wurden, bergeweise nichts als übelriechende Turnschuhe, womöglich nicht wirklich neu. Danach folgten in einer schräg verlaufenden Reihe praktische Haushaltshelfer aus Plastik, die bestimmt mindestens zwei Arbeitsdurchgänge aushalten würden.

Im nächsten Abschnitt des Bazars hinter der Kurve biederten sich schreiend bunte Spielzeuge an, insbesondere martialischer Natur und in militärischen Camouflagefarben lackierte Gefährte für das kriegslüsterne Kind.  Eine merkwürdige Auswahl, jedoch wohl normal für ein Land, an dessen Grenzen jederzeit ein kleines Scharmützel ausarten und blutige Gegenreaktionen großen Ausmaßes zur Folge haben könnte. Man war hier heißblütig, stolz und erbarmungslos, und von Null auf Hundertachzig in zweieinhalb Sekunden, das hatten wir zwischen den Zeilen des Reiseführers gelesen.

Wir drehten uns um neunzig Grad und entdeckten eine Gasse, in der es unglaublich laut zuging. Hier wurden riesenhafte Gefäße aus wunderschönem rosaglänzenden Metall hergestellt, offenbar vor Ort. Das war ein Hämmern und Dröhnen, aber nicht unisono, sondern in einer undurchschaubaren, schlecht orchestrierten Symphonie ohne Dirigenten. Es war faszinierend, diese enormen Behältnisse zu bestaunen, in denen später Speisen für Hunderte von Leuten gekocht werden konnten, aber der Lärm war schier unerträglich, so dass wir froh waren, am Ende dieser Gasse abbiegen zu können in einen Bereich, in dem es viel ruhiger war und wo offenbar Geld keine Rolle mehr spielte oder auch die Hauptrolle: den Goldbazar – scheinbar eine Insel der Seligen.

Es blitzte und glänzte, alles in reinstem Gelbgold mit einer unwahrscheinlichen Leuchtkraft. Sämtliche Varianten von Schmuck waren hier erhältlich, und die Kundschaft unterschied sich stark von den stämmigen, einfachen, fast gefährlich wirkenden Männern, die in dem vorher besuchten Teil dieses Marktes deutlich in der Überzahl waren. Hier sah man, dass die Männer, die hier vorbeischlenderten, jedes dieser Schmuckstücke ohne Feilschen sofort kaufen könnten. Allerdings würden sie dies niemals tun. Vielmehr ließen sie sich sicher auf mehrere Gläser Tee einladen und würden dabei den stark überhöhten Preis gnadenlos auf ein grenzwertiges Minimum drücken, das dem Verkäufer die Tränen in die Augen schießen ließ.

Wir hatten beschlossen, so zu agieren, wie wir es sonst nie tun würden. Wir sahen uns kurz an, betraten einen der Verkaufsräume, Hörbi deutete spontan auf zwei Ringe mit großen Diamanten und kaufte sie, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne auch nur ein Glas Tee anzunehmen. Einen Ring zog er sich mit einem breiten Grinsen an, und den anderen steckte er mir voller Andacht an den Finger. Ich musste Hörbi einfach küssen, und so drückte ich meinen Mund liebevoll auf seinen und der Händler sah betreten, ja entsetzt zu Boden. Allerdings konnte er ja nichts einwenden, denn er hatte gerade ein unglaublich gutes Geschäft gemacht.

Nachdem wir die Ringe in plötzlicher Erkenntnis dessen, was sich in uns beiden schon seit Monaten angebahnt hatte, so vertraut und hitzköpfig erstanden hatten, versuchten wir den Bazar so schnell wie möglich zu verlassen, um unsere Entscheidung in seinem großen Bett zu feiern. (Ich hatte ein Zimmer nebenan genommen).

In welcher Richtung der Eingang des Bazars lag hatten wir nicht mehr so richtig in Erinnerung. Wir vermuteten jedoch, dass wir früher oder später auf jeden Fall auf ihn stoßen würden, wenn wir einfach weiter gingen. Hand in Hand liefen wir nun, ohne noch nach den Waren zu schauen, durch die Gassen des Bazars und zogen offenbar viele dunkle Blicke auf uns. Kühn sahen wir in die schwarzbärtigen Gesichter und hielten ihren Blicken stand. Wir wussten, wir hatten alles richtig gemacht.

Wir bogen um die Ecke in einen Bereich, der nicht mehr überdacht war, und in dem ziemlich hässliche Herrenunterwäsche zu bestaunen war. Über uns krächzten die Raben. Wir waren also richtig gegangen, gleich wären wir draußen. Eine Gruppe von Männern drängte uns entgegen. Es ging alles so schnell. Einer rempelte uns an, ein anderer schubste uns plötzlich, brüllte uns unverständlich an, und ein wuchtiger Kerl wie ein Bär trat Hörbi in den Bauch. Hörbi ging unvermittelt zu Boden, während ein weiterer Fremder mir von hinten den Mund zuhielt und mir brutal das Knie in den Rücken rammte. Ich sah entsetzt aus dem Augenwinkel, wie sich unter Hörbi rasend schnell eine Blutlache ausbreitete, und dann spürte ich einen hässlichen, grauenvollen Schmerz, unmittelbar gefolgt von einer großen Welle von Wärme. Die Kamera war auf den Boden gefallen. Der Selbstauslöser hatte sich aktiviert und knipste, wie sich unsere beiden Blutgruppen vermischten. „Helmut, mein geliebter Helmut“ waren Hörbis letzte Worte. An meine erinnere ich mich nicht.

 

 

Man ließ die beiden Männer als Mahnmal der Schande liegen, bis die Raben ihre Gerippe zutage gelegt und die Ringe in ihre Nester verschleppt hatten.   *)

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

*)  Der LSVD berichtet: "In 66 Staaten wird Homosexualität noch strafrechtlich verfolgt, in 12 Ländern droht sogar die Todesstrafe für Lesben und Schwule"

 

 

 

 

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