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Ãœbersetzungen und Letteratour

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In jener Nacht
12.03.2024 20:47

Wie ich da so liege und dein vertrautes Profil vor dem Fenster anschaue, das an die Decke hochsieht, zerfällt mir dein Gesicht in tausend und abertausend kleine Scherben, Fragmente, schwarze und weiße, sich schlängelnde Linien, wie in einer Radierung gezeichnete Haare. Die Linien bewegen sich, dein Gesicht löst sich immer mehr auf, wird immer fremder, wird zur Fratze, zu einem Haufen sich bewegender Elemente, zerfließt schließlich zur Gänze.

Aus Nase, Mund und Haaren wird eine weißliche, wirbelnde Fläche, die, während ich noch länger darauf starre, durchlässig, durchsichtig wird. Ich sehe hinter dir den auch im Dunkel noch schwach blauen Vorhangzipfel, der vorher durch deinen Kopf vollständig verdeckt war. Dein Kopf liegt immer noch genau, wo er vorher war, du hast dich überhaupt nicht bewegt.

Ich schließe das untere Auge. Nein, mit dem oberen kann ich den Vorhangzipfel nicht sehen. Ich sehe tatsächlich durch dich hindurch. Du bestehst nur noch aus Energie. Ich sehe nicht dich an, sondern den Vorhang hinter dir. Dadurch beobachte ich dich nicht. Du hast dich dematerialisiert. Nur wenn ich dich beobachte, bist du vorhanden in einer fixen Form.

Wer sagt eigentlich, dass diese fixe Form für jeden gleich aussieht? Wer sagt eigentlich, dass eine Vase für mich und für dich gleich aussieht? Und ändert sich die Wahrnehmung, wenn man ein Foto von einem Gegenstand macht, und auf das zweidimensionale Foto schaut? Sieht dann jeder Betrachter genau dasselbe? Ist das dasselbe, was er in der dreidimensionalen Form sieht?

Schon als Kind lernen wir Formen zu erkennen. Rund, viereckig, rechteckig, dreieckig. Flach, gewölbt. Ecken, Kanten, baumförmig, hundeförmig, hausförmig, menschenförmig. Die Farben sind nicht einfach. Der eine sagt, etwas ist türkis, der andere nennt es hellblau, einer blaugrün, der nächste grün. Was ist wirklich richtig? Eigentlich hat dieses Ding ohnehin keine Farbe. Nur durch die Einstrahlung von Licht, wirkt es farbig. Eigentlich hat dieses Ding auch keine Form. Es besteht aus Energie. 99,9 Prozent eines Dings sind keine feste Materie, sondern Energie. Wir sehen nur eine Form, weil Licht darauf fällt. Wenn wir nicht hinschauen, ist das Ding ohne Form. Wird es nicht gesehen, ist es nur Energie. Gleiches gilt für den Menschen.

Ob wir es glauben oder nicht. Sagt die Quantenphysik. Hat sich da jemand vertan? Ist das wirklich so? Vielleicht hat sich jemand verrechnet. Vielleicht ist das, was allgemein anerkannt ist, eigentlich ein Berechnungsfehler, so wie das Simpson-Paradoxon, in dem eine Statistik, die ein klares Ergebnis zu Gunsten einer gewählten Eigenschaft einer Testgruppe ergibt, wenn man das Ergebnis jedoch nur für die Männer berechnet, ein negatives Ergebnis zeitigt, und wenn man es nur für die Frauen errechnet, kommt ebenfalls ein negatives Ergebnis heraus? Wie bitte? Da keine weiteren Geschlechter vorhanden sind, ist damit für Männer und Frauen, also für alle Testpersonen als Gruppe einzeln das Ergebnis negativ. Aber als die Gesamtheit der Testgruppe berechnet wurde, war doch das Ergebnis positiv! Gleichzeitig ist das Ergebnis positiv und negativ, je nachdem von welchem Aspekt aus man es betrachtet.

Völlig unlogisch, meint man. Aber alles lässt sich erklären. Es klingt nur total absurd. Es kommt selten vor, aber es gibt diese Fälle. Und das geht über den menschlichen Verstand hinaus. Das Ergebnis kommt letztendlich zustande, weil die Anzahl der getesteten Männer und der getesteten Frauen nicht gleich war. Es liegt an der falschen Auswahl der Stichprobe. Was da passiert, ist auf den ersten Blick nicht zu fassen.

Was die Quantenphysik sagt, ist ebenfalls nicht zu fassen.

Was mir heute Nacht mit Dir passiert, dass ich so einfach durch dich hindurchschaue, ist genauso wenig zu fassen. Und doch… Schon als ich klein war, hatte ich seltsame visuelle Eindrücke bei Nacht. Ich habe Stunden und Stunden damit verbracht, mich zu ängstigen, was mit mir nicht stimmt, ob ich schiele, ob ich verrückt werde. Ich sah auf den Vorhang, der mittels zweier Stangen am Fenster befestigt war. Das Rollo war geschlossen, im oberen Bereich waren Ritzen offen, durch die gestricheltes Licht in parallelen Reihen ins Zimmer fiel, und auf die senkrecht in Falten brav daliegenden Vorhänge, die straff aufgezogen waren und sich nicht bewegen konnten. Sie bewegten sich aber. Sie bewegten sich in einer Achsabweichung, indem sie sich nach rechts und nach links neigten. Sie bewegten sich ununterbrochen. Stundenlang am Stück tanzten sie nach rechts und nach links. Ich konnte nicht aufhören hinzusehen, und ich hatte Schmerzen hinter meinen Augen, ich war müde, aber ich hatte zu sehr Angst einzuschlafen, weil dieses Geschehen so unheimlich war.

Gleichzeitig waren die Zähne in meinem Mund vollständig konturenlos. Als wäre der Außenbereich der glatten, vor dem Schlafengehen tadellos geputzten Beißerchen durch Säure aufgelöst und ein Aufeinanderbeißen ließe die Zähne ineinander eindringen, als wären sie kein festes Material, sondern eher ein fester Brei. Die Zähne im Mund auf Abstand zu halten, um sie nicht zu schädigen, war anstrengend, aber auch auf Abstand war die Anwesenheit der anderen Zahnreihe deutlich zu spüren, so als strahle sie wie ein Magnet aus, und das Nebeneinanderhalten der beiden Reihen stieß beide Reihen ab, und zog sie auch gleichzeitig an. Der Zwischenraum war eine energiegeladener wulstiger warmer Bereich, der schon fleischähnliche Konsistenz entwickelte im Laufe der Stunden, in denen ich wach lag, aber der sich nie wirklich in ein weiteres Organ oder ähnliches verwandelte. Die Zunge hielt ich derweil fest gegen den oberen Gaumenbereich gedrückt. Es war keine Täuschung. Es war Fakt.

Im Versuch, den Vorhang vom Tanzen wieder in einen Normalzustand zurückzubringen und mich aus dieser Trance zu befreien, stand ich oft auf und ging im Zimmer hin und her, stellte mich vor den Spiegel und versuchte aus dem Spiegel heraus auf den Vorhang zu sehen, jedoch auch dies brachte keine Linderung. Der Boden bot bei meinen Befreiungsversuchen keinen richtigen Widerstand. Er war nicht mehr ein Boden aus Linoleum und Teppich, sondern eher ein Boden aus Fleisch und Blut.

Seine Oberfläche war weich geworden, so wie meine Zähne. Die oberste Schicht, war ganz leicht beweglich, ich sank ein, spürte, dass es irgendwo viel tiefer unten ganz fest war, aber die Oberfläche war nicht hart. Heutzutage kenne ich als Vergleich z.B. den Zustand von einem Päckchen Hackfleisch, das man gefroren in der Pfanne anbrät. Es bildet sich an der unten liegenden Seite eine Schicht, die auftaut und gebraten wird. Dreht man nun den Hackfleischklotz um, kann man diesen Bereich mit dem Pfannenwender von dem gefrorenen Klotz herunterschieben. So wie dieser bereits gebratene Bereich fühlte sich der Boden an.

Blickte ich in den Spiegel, sah ich außer dem gestrichelten Fenster mit seinen tanzenden Vorhängen auch mich mit meinen dunklen Augen im dunklen Gesicht. In meinen Augen versteckte sich, wenn ich lange genug hinsah, um festzustellen, ob ich schielte, ob meine Augen sich irgendwie in einer Kontorsionsbewegung verhakt hätten und deswegen den Vorhang zum Tanzen bringen könnten, ein namenloser Schrecken. Dahinter wohnte ein böser Dämon, der einlud, zu ihm zu kommen, und der Schreckliches im Schilde führte. Ich durfte mir nicht zu lange in die Augen sehen, denn dann offenbarte er sich. Das war das Böse schlechthin. Es wollte die Oberhand gewinnen. Ich musste seinem Blick ausweichen, damit es mir nichts antun konnte.

Ich hatte Angst verrückt zu werden. Immer hatte ich das Gefühl, dass hinter einer gewissen Grenze eine andere Welt auf mich wartete, die gerne wollte, dass ich da hinüberkäme. Wie eine durchsichtige, flexible Wand, eher eine Grenzfläche zwischen zwei Flüssigkeiten mit unterschiedlicher Dichte. Eine wabernde Oberfläche. Steckte ich einen Fuß auf die andere Seite, könnte ich hindurchgehen. Ginge ich hindurch, könnte ich nie mehr zurückkehren. Dann wäre ich hellsichtig, wäre ich verrückt geworden. Meine Mutter war hellsichtig. Ich wollte das nicht sein. Solange ich klein war, passierte es mir oft, dass dieses Phänomen auch bei mir auftrat. Ich habe mich dagegen geschützt und es unterbunden.

Vor dem Spiegel konnte ich mich vom Boden erheben, oberhalb des Bodens schweben. Durch Schwingbewegungen der Unterschenkel konnte ich mich wie im Wasser oben halten. Sehr hoch kam ich nicht. Aber auf dem Boden bleiben musste ich auch nicht. Ich tat das oft. Es war etwas, was niemand anderer konnte. Es war mein Geheimnis. Das konnte ich in jenen Nächten, in denen die Vorhänge sich bewegten.

Gestern war wieder so eine Nacht. Du hast dich aufgelöst. Ich habe erkannt, es handelt sich um genau dasselbe Phänomen. Nur, dass es mir jetzt keine Angst macht. Es bedeutet, dass ich im Quantenfeld bin, die Fähigkeit habe, die Zukunft zu verbiegen, so wie ich sie mir wünsche. Damals wusste ich nicht, was ich in dieser Situation anfangen kann, dass sie mir zunutze sein kann. Ich hatte nur schreckliche Angst.

Meine Eltern hatten meine Erzählungen abgetan. Nur ein Alptraum sei das. Es war kein Traum! Ich war wach. Ich war tagsüber in der Schule todmüde. Ich hatte fast gar nicht geschlafen. Und das oft phasenweise viele Nächte nacheinander. Meine Schatten unter den Augen wurden immer tiefer. Meine Eltern glaubten mir nicht. Sie kamen auch nie in der Nacht nach mir schauen, ob ich vielleicht wieder litt. Ich litt immer alleine.

Hätte ich gewusst, dass ich in dieser Zeit Einfluss auf mein Geschick hatte, hätte ich vieles richten können. Ich hätte vielleicht meine Eltern richten können. Ich hätte vielleicht meine Oma gesund machen können. Ich hätte vielleicht meine schrecklichen Bauchkrampfanfälle kurieren können. Hätte hätte Fahrradkette.

Heute Nacht habe ich diese Chance neu entdeckt. Nun werde ich meine Möglichkeiten nutzen. Möglichkeiten, die bisher nur ich kenne. Ich schaue auf die Decke, ich sehe durch die Decke hindurch. Weit oben wirbeln Wolkenfetzen im Kreis. Vielleicht erschließen sich die Möglichkeiten, die ich gerade wiedergefunden habe, auch dir. Vielleicht schaust du schon heute Nacht durch etwas hindurch. Dann hab keine Angst.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

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