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If you can dream it
25.09.2023 21:35

Keine Rechenschaft mehr schuldig! Niemandem! Aus! Vorbei! Endlich frei! Ich werde nur noch tun, was ich selber will, keiner darf mehr über mich bestimmen! Ich bin ich! Ich habe es richtig gemacht. Ich habe es endlich hinter mich gebracht! Ich hab es getan!

Ihr schwarzer Mantel wehte ihren schwarzen halbhohen eckigen, ziemlich aus der Mode geratenen Hacken hinterher und kam schier nicht mit. Wie eine Getriebene setzte sie einen Fuß vor den anderen in einer Geschwindigkeit, die auch ihr Herz in hämmernde Aktivität versetzte. Der Atem tönte vernehmlich aus ihrem halboffenem Mund, und wer ihr begegnete, wich sicherheitshalber aus, denn es war deutlich zu erkennen, dass sie keinen Zentimeter breit vom Weg abweichen würde, um den Entgegenkommenden nicht frontal zu touchieren oder gar niederzustoßen. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet und sah gar nicht, wer oder was da eigentlich vor ihr auftauchte.

Das Ufer des Flusses mit seinem hellen Mauerwerk glitt in absurder Geschwindigkeit neben ihr vorbei und ihre Stiefel hämmerten im Staccato tocktocktocktock in unvermindertem Tempo ein warnendes Crescendo in die Straße, das von den hohen, dunkel patinierten Häusern widerhallte. Tatsächlich wurde ihr Schritt immer schneller, und plötzlich fing sie an zu laufen.

Seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr gerannt. Sie hatte gedacht, dass sie das gar nicht mehr könne. Woher diese Kraft in ihr nun stammte! Es musste die Wut sein. Das Adrenalin. Sie fühlte sich stark, unendlich stark. Sie fühlte sich groß, unverwundbar. Das lederne Schuhwerk genoss sichtlich die Bewegung. Zu lange hatte es im Schrank still vor sich hingestaubt, zu lange hatte sie die Füße stillhalten müssen.

Aber heute, heute war der Tag X. Heute war er gekommen. Heute hatte sie ihre Stiefel aus dem Schrank geholt.

Im Radio war Musik gelaufen, als sie vorhin Noel seinen Morgenporridge kredenzte. Sie hatte den dicken grauen Brei auf die für ihn genehme Temperatur abkühlen lassen, hatte eine Orange ihm zuliebe gewaschen und abgeschrubbt und mit einem frischen, gebügelten Geschirrtuch mit Obstmotiv abgetrocknet, bevor sie sie für ihn auspresste und sorgfältig am Tellerrand rundherum verteilte.

Sie hatte in der Zwischenzeit einen Kaffee für ihn durchlaufen lassen. Zuvor hatte sie die Kaffeebohnen in der Mühle für ihn gemahlen, Mühle und Kaffeemaschine vor der Benutzung feucht abgewischt und mit einem frischen, gebügelten Geschirrtuch mit Kaffeebohnenmotiv abgetrocknet, damit kein Staubflöckchen den Kaffeegenuss trüben konnte. Den Kaffee hatte sie mit 4 Teelöffeln Zucker und einem sorgfältig bemessenen Schwapps Milch aufgefüllt und umgerührt. Den Teelöffel hatte sie sofort abgewaschen und natürlich mit dem Löffelteil nach oben in den Besteckständer gestellt (Messer gehörten mit der Schneide nach unten, ebenso wie die Gabeln mit den Zinken nach unten zu zeigen hatten). Das Waschbecken hatte sie sofort mit dem Waschbeckentuch abgetrocknet. Dann hatte sie den Teelöffel aus dem Besteckständer genommen und mit einem frisch gebügelten Geschirrtuch mit Topf- und Schüsselmotiv abgetrocknet.

Nun stellte sie den Kaffee, auf den sie mittels des silbernen, blank polierten Kaffeegewürzstreuers einen Hauch Kardamom mit Anis appliziert hatte, vorsichtig vor ihrem Gatten auf den Esstisch. Nur aufpassen, dass ja kein Tropfen daneben schwappte. Und dann kam der Haferbrei dran. Behutsam hatte sie ihn mit einer genau berechneten Dosis Zucker und Zimt bestreut und dabei darauf geachtet, dass alles gleichmäßig bedeckt war. Zwei kleine Zimtknöllchen hatte sie mit einem frischen Teelöffel vom Haferbrei abgehoben und im Mülleimer versenkt. Nach der Berührung des Mülleimers hatte sie sich sofort die Hände gewaschen und dann den Teelöffel. Da stand er ordentlich mit der Löffelseite nach oben zum Abtropfen, während sie das Waschbecken mit dem Waschbeckenlappen trocknete. Dann trocknete sie den Teelöffel mit dem Topf- und Schüssel-Geschirrtuch, das sie zuvor für den anderen Teelöffel verwendet hatte.

Als der Haferbrei auf dem Tisch stand, rügte der Gatte, der ihr Tun die ganze Zeit wortlos mit Argusaugen verfolgt hatte, in scharfem Ton, dass Esslöffel und Serviette noch nicht bereit lägen. Sie kam seinem Wunsch sofort nach, nicht ohne den Esslöffel zuvor noch einmal unter fließendem Wasser abgespült zu haben, denn es durfte keinerlei Fleck darauf zu sehen sein. Nach dem obligatorischen Beckenpoliervorgang trocknete sie den Löffel mit dem Teelöffeltuch, platzierte ihn rechts neben dem Essteller und faltete eine Serviette, die sie ihm zur Linken neben dem Teller auflegte. „Schön dass du da bist“, stand auf der Serviette. Ohne Komma. Jedes Mal, wenn sie das sah, zuckte sie zusammen.

Missmutig wegen der Verzögerung begann Noel, seinen Brei zu essen, während Monique sich ihm gegenübersetzte und inständig hoffte, dass alles zu seiner Zufriedenheit sei. Sie selbst hatte lange zuvor bereits gefrühstückt, eine Vorsichtsmaßnahme, die sie sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte, denn dann konnte er nicht bemängeln, dass er durch ihre Essgeräusche beim Denken gestört würde. Er könne es nicht ertragen, wie sie kaute, er höre angeblich bei jedem Bissen ihre Zähne aufeinanderklacken, und noch schlimmer sei es für ihn, wenn sie schluckte. Und je leiser sie versuchte zu schlucken, desto mehr blockierte ihre Kehle, so dass jeder Bissen nur mit Gewalt hinunterging und tatsächlich ein auch für sie hörbares Geräusch dabei entstand. So saß sie also sittsam ohne Teller und Tasse ihm gegenüber und versuchte unbeteiligt und harmlos dreinzusehen, damit er nicht Anstoß an irgendetwas nehmen konnte. Gespräche bei Tisch führten sie schon lange nicht mehr.

Leider hatte sie etwas Entscheidendes vergessen. Beim Auspressen der Orange war ein Kern auf den Haferbrei geraten. Sie entdeckte ihren Fauxpas zum gleichen Zeitpunkt wie er den Kern auf den Löffel hob. Er führte den Löffel auf halbem Weg bis zum Mund, und dann entdeckte er ihn.

„Was soll das! Willst du mich vergiften! Du nichtsnutzige Schlampe! Kannst du nicht ein einziges Mal etwas richtig machen! Schau dir das an!“, brüllte er und drückte ihr den Löffel wutschnaubend fast in die Nase. Er war so vehement vom Stuhl aufgesprungen, dass dieser mit lautem Krachen umfiel, und machte Anstalten, Monique über den Tisch hinweg an die Gurgel zu gehen. In einer plötzlichen Eingebung zog er sich aber zurück und schleuderte den Teller samt Inhalt an Monique vorbei gegen den Kühlschrank, wo der Teller abprallte, eine breite Delle hinterließ und mit Geschepper auf dem Boden in Scherben ging. Alles war voller Haferbrei und Orangensaft. „Diesen Dreck kannst du selber fressen!“, tobte er.

Die Kaffeetasse mit der Aufschrift „Einen fröhlichen guten Morgen“ warf er hinterher, wobei er Monique nur knapp verfehlte, was aber vermutlich Absicht war, denn aus dieser Entfernung wäre es keine Kunst gewesen, sie genau im Gesicht zu erwischen.

Dann verließ er wütend die Küche und knallte die Tür hinter sich derart zu, dass der Kalender, der neben der Tür hing, samt Nagel von der Wand fiel.

In diesem Augenblick wechselte die Musik im Radio und eines von Moniques Lieblingsliedern erklang. Oft hatte sie diesen Song voller Groll in Abwesenheit von Noel mitgesungen und ihre ganze Wut und Enttäuschung hineingelegt. Als sie die ersten, abwärts steigenden Basstöne hörte, wusste sie plötzlich, was zu tun war.

Leise öffnete sie die Tür, schlich sich in den Gang, nahm ihre Stiefel aus dem Schrank, die Zeugen besserer Zeiten, als sie für Noel noch begehrenswert gewesen war und er noch gerne mit ihr ausgegangen war. Sie hatte sich stolz und erhaben gefühlt mit ihm. Er hatte nur Augen für sie gehabt und charmante Reden geschwungen. Sie hatte seinen Esprit und Humor bewundert und hatte ihn verehrt. Nichts hatte sie auf ihren Noel kommen lassen. Er war ihr Ein und Alles gewesen. Lang war das her.

Sie zog die Stiefel an, die ihr glücklicherweise immer noch passten. Dann schlüpfte sie in ihren langen schwarzen Mantel mit den eleganten weiten Rockschößen. Lange hatte er ungenutzt an der Garderobe gehangen. Noel war im Badezimmer. Wie immer hatte er die Tür offengelassen, damit er jederzeit alles mitbekam. Er stand vor der Toilette. Pinkelte natürlich wieder mal im Stehen, später würde sie den Boden wischen müssen.

Oder vielleicht auch nicht.

Sie hob die Hantelstange, die sie seit Monaten in einem der Stiefel versteckt hatte, und ließ sie auf seinen Hinterkopf niedersausen. Noel stürzte auf den Boden. Da lag er wie ein nasser Sack, mit dem Kopf war er Richtung Badewanne gefallen. Der Urin rann weiter unter ihm hervor.

Monique stand einen Moment atemlos bei der Tür und blickte auf ihren Noel herunter. Leuchtendes Rot und zartes Gelb gaben sich ein Stelldichein auf dem so penibel sauberen Kachelboden mit den geometrischen Türkis-Weiß-Mustern. Sie stieg schwarz gestiefelt auf seinen Rücken und wieder herunter. Im Radio sang Nancy immer noch. You keep thinking that you’ll never get burnt! Ha!

…These boots are made for walking, that’s just what they’ll do! One of these days these boots are gonna walk all over you!

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Eine seltene Blume

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