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Eine seltene Blume
27.09.2023 11:51

Enzo hatte sich richtig Mühe gegeben, sich in Schale geworfen. Tatsächlich hatte er ein paar Stunden vor dem Spiegel investiert, alle seine guten Sachen durchprobiert, bis er schließlich überzeugt war, das Richtige gefunden zu haben. Nein, es war nicht zu nerdig und nicht zu überkandidelt. Sein Gesicht hatte er sorgsam gewaschen, mit der Bio-Hautcreme für einen strahlenden Teint gesorgt, freundliche Blicke im Spiegel geübt. Die Haare hatte er penibel in Form gebracht. Und zur Feier des Tages hatte er schwarze Schuhe genommen statt der sonst üblichen Treter. Die Schuhe hatte er sogar mit einem Feuchttuch aus der Box in der Toilette abgewischt, und nun glänzten sie. Nicht übertrieben, aber doch dezent.

Er griff sich die Mappe mit den Unterlagen, die er gestern bis spät in die Nacht noch zigfach überarbeitet hatte, damit auch ja kein Tippfehler das Gesamtbild verderben könnte. Viel zu früh machte er sich auf den Weg.

Als er ankam, schlenderte er langsam zu Fuß zu dem Gebäude, das wenig spektakulär in einer ebenfalls wenig spektakulären Gegend stand, dann aber zu seiner Überraschung seitlich ein kleines Gärtchen mit einem Brücklein über einen romantischen kleinen Bach aufwies. Auf die Bank am Bächlein setzte er sich und wartete, bis es soweit war.

Auf den Glockenschlag genau drückte er auf den Klingelknopf. Das Gespräch lief über die Maßen gut. Bereits auf dem Heimweg bekam er eine SMS: „Wir freuen uns, Sie in unserem Team aufzunehmen. Arbeitsbeginn: Montag um 7:50 Uhr.“

Am Montag war er pünktlich da, lernte alle Mitarbeiter kennen, stellte fest, dass sie in eher weniger offiziell wirkenden Klamotten antraten, zwei von ihnen waren sogar barfuß, und einer hing sehr leger in seinem Bürostuhl, mit einem Fuß auf dem Schreibtisch. Ein Mitarbeiter raunte ihm zu, der könne sich das auch leisten, er sei so ein Crack, dass er sich alles erlauben konnte, er sei unverzichtbar.

Nun, unverzichtbar würde auch er bald sein. Das hatte er sich hoch und heilig selbst versprochen. Er werde so großartig werden, dass nichts ihn aufhalten könne. Alles werde er richtig machen. Richtig gut.

Und so saugte er bereits in der ersten Woche alles auf, was er an Informationen bekommen konnte, und bereits in der zweiten Woche legte er sein erstes Konzept vor, das begeistert aufgenommen wurde. Sein Ansatz war frisch, innovativ, auf verschiedenen Ebenen herausragend intelligent und witzig und seine Grafiken inspiriert und schlichtweg genial.

Auf so einen Mitarbeiter hatte die Firma lange Jahre gewartet. Die Vorgehensweisen dort waren viel zu routiniert, leicht angestaubt, niemand hatte mehr wirklich die Energie, den Hintern mal hochzukriegen und etwas Neues zu wagen. Die Anschreiben an die Kunden waren dröge, die Projekte wurden nach Schema F gehandhabt, Bürokratie hatte ihren Einzug gehalten und war derart ausgeufert, dass alles daran abprallte, was außerhalb der Reihe daherkam. Und keiner hatte mehr Lust, sich mit innovativen Vorschlägen einzubringen. Der Optimismus war in langen Jahren einer mittelmäßigen Alltäglichkeit gewichen und Resignation hatte sich breit gemacht.

Das aber hinderte Enzo nicht daran, wie eine Orchidee im Dunkel des Urwaldes in voller Schönheit zu blühen. Er blühte so auffällig, und der pfeffrige Duft seiner Arbeitswut und die stete Schwingung seines immensen Einsatzes erfüllte so unüberfühlbar die Räume der kleinen Firma, dass keiner davon unbeeindruckt blieb.

Während die Mitarbeiter normalerweise viel Zeit am Kaffeeautomaten verbrachten, wo sie erst jeder für sich den Kaffee in einer separaten Maschine mahlten und dann das Pulver in die Kaffeemaschine einfüllten, um sich eine Tasse herauszulassen, saß er fußwippend an seinem Schreibtisch und arbeitete voller Energie, wobei er kleine Jauchzer der Freude ertönen ließ, die signalisierten, wie hervorragend er vorankam, und dass, was auch immer er anfasste, gelang.

Eine magische Aura umgab seinen Arbeitsplatz. Wer auch immer in die Nähe kam, wurde von dem erhebenden Gefühl erfasst, dass es fantastisch war, hier zu arbeiten, dass es sich lohne, sich einzusetzen, dass das Projekt, das gerade bearbeitet wurde, sagenhaft toll sei und dass das eigene Tun dafür von großer Bedeutung sei.

Dies führte dazu, dass zwei Wochen nach seiner Ankunft endlich mal der Kaffee für alle, die gerade eine Tasse wollten, kollektiv gemahlen wurde. Der Kaffeepulverbehälter in der Maschine war groß genug, um 8 Portionen zu fassen. Und Enzo war tatsächlich der erste, der auch für die anderen gleich mitmahlte. Die Mitarbeiter sahen sich an und wunderten sich über ihre eigene Borniertheit. Fast ärgerten sie sich, dass sie nicht selbst auf diese Idee gekommen waren. Und dankbar nahmen sie ihre Tassen entgegen, die Enzo, eine nach der anderen, aus der Kaffeemaschine befüllte, die, wie sich zeigte, sehr wohl in der Lage war, mehrere Behältnisse zu bedienen. Wie sie das all die Jahre nicht entdeckt hatten, war den Angestellten jetzt ein Rätsel.

Sie beobachteten auch, wie Enzo an jeweils mehreren Projekten in verschiedenen Tabs gleichzeitig arbeitete. Wie er beim Telefonieren mit einem Kunden das Gespräch auf Warteschleife stellte, während er flott etwas recherchierte, um ihm sofort seine Antwort kredenzen zu können. Überhaupt war Enzo Mister Google in Person. Mit verschiedenen Tricks kam er so schnell auf eine Lösung wie kein anderer. Während ein anderer Mitarbeiter noch über eine Frage nachdachte, hatte er bereits verschiedenste Online-Antworten verglichen und im Kopf ausgewertet.

Bald war Enzo das Lieblingskind seines Chefs und hatte bereits nach nur zwei Monaten die Zusicherung erhalten, die 6-monatige Probezeit bestanden zu haben. Sein Einstiegsgehalt wurde erhöht, und er war der einzige Mitarbeiter, dem nach kaum 8 Monaten Arbeitszeit ein weiterer Urlaubstag über dem gesetzlichen Mindestanspruch genehmigt wurde. Der Chef war sogar so begeistert von ihm, dass er ihm eines Morgens eine Zimtschnecke aus der Bäckerei (noch in der Papiertüte) auf den Tisch legte. Einfach so. So eine Liebeserklärung hatte es in diesem Büro noch niemals gegeben. Man war zwar einmal im Jahr zum obligatorischen Weihnachtsessen eingeladen worden, und da hatte der Chef sich auch nicht lumpen lassen, aber während des Jahres waren Sympathiebezeugungen eher Mangelware mit Tendenz gegen Null.

Enzo hatte sich so aus dem grauen Einerlei der firmeninternen Routinen erhoben, dass sein Licht und sein Enthusiasmus alle weiteren Projekte überstrahlte, und die Mitarbeiter begonnen hatten, sich tatsächlich am Sonntag sogar darauf zu freuen, dass sie montags wieder an ihrem PC sitzen würden. Sie trödelten nicht mehr so lange herum, dass sie erst in letzter Minute ankamen, sondern kamen immer öfter mal ein paar Minuten zu früh. Am Abend warteten sie nicht schon seit geraumer Zeit gequält, dass endlich Feierabend würde, indem sie quasi jede Minute auf ihre Uhr schauten. Sie knieten vielmehr in ihrer Arbeit und waren überrascht, dass es schon Zeit war zum Heimgehen. Manche blieben dennoch, denn sie waren gerade so schön im Flow.

Kurzum, seine Anwesenheit hatte irgendwie bewirkt, dass alles schneller lief, dass die Kollegen motiviert waren, dass der Umgangston freundlicher geworden war, dass neue schöne Projekte eintrudelten und sogar, dass das von der Firma verkaufte Design einen internationalen Preis verliehen bekam.

Wie Enzo das machte war ein Geheimnis. Man fühlte sich in seiner Anwesenheit einfach so dynamisch, so kraftvoll. Man glaubte endlich an sich, wusste, was man wert war. Und der Chef wusste es endlich auch. Sein Gesichtsausdruck war offen und ehrlich geworden, seine Gesichtszüge hatten sich von den besorgt hängenden Mundwinkeln und der fahlen Haut zu einem freudigen Strahlen entwickelt. Sein Gruß an die Mitarbeiter, der sie gegen neun Uhr morgens immer fast aus dem Schlaf gerissen hatte, erklang nun munter und ausgeruht mit einem jugendlichen Tremolo in der Stimme um halb neun und baute sie auf, mit freudigem Elan ihr Werk zu tun.

Leider wurde jedoch Enzos Großmutter schwer krank und Enzo fuhr zu ihr nach Berlin. Er hatte ein paar Tage Urlaub genommen. Schweren Herzens hatte der Chef ihn gehen lassen, denn Enzo war wirklich zum Dreh- und Angelpunkt der Firma geworden, und ein paar neue Projekte standen gerade an, für deren Durchführung der Chef Enzo besonders angepriesen hatte - sein Faktotum mit den unerschöpflichen kreativen Ideen, mit einem Kopf voller schräg-schrulliger Fantasie, die aber mit wissenschaftlich fundierten Fakten in so herrlichem Einklang stand, dass daraus nur bahnbrechende neue Konzepte entstehen konnten. Nichts, was Enzo in die Hand nahm, war unmöglich.

Nach ein paar Tagen in Berlin schickte Enzo eine Mail, dass er leider länger bleiben müsse. Danach war er nicht mehr zu erreichen. Weder telefonisch, noch per WhatsApp, SMS oder Mail. Ein Einschreiben an seine Adresse konnte nicht zugestellt werden – unbekannt verzogen. Das Gehalt des letzten Monats wurde überraschend von der Bank zurücküberwiesen. Das Konto war gelöscht worden, teilte die Bank auf Anfrage mit. Sein LinkedIn-Eintrag existierte nicht mehr. Weder auf Facebook, Twitter, das sich jetzt X nannte, noch auf Instagram, ja nicht mal auf Tiktok gab es jemanden mit Enzos Namen. Recherche im Internet ergab einfach nichts, keine besonderen Vorkommnisse in Berlin, auch keine aktuelle Todesanzeige mit diesem Familiennamen. Man hörte nie wieder von ihm.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour)  – Ich. Einfach unver-besserlich.

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