L stand auf, nahm seinen schwarzen Spazierstock, wischte mit der linken schwarzen Socke den Staub von seinem linken Lackschuh und schlüpfte mühsam hinein, wischte mit der rechten schwarzen Socke den Staub vom rechten Lackschuh und schlüpfte noch mühsamer hinein, ließ kurz einen prüfenden Blick über die terracottafarben getönten Wände und die geschlossenen dunkelgrünen Lamellentüren vor dem bodentiefen Fenster schweifen, durch die schmale Schlitze von Licht wie Schwerter eindrangen, die die Schwärze der auch im Dunkeln noch leicht rötlichen Höhle mit sanfter Gewalt zerschnitten und den Staub der vielen vielen Jahre tanzen ließ, der in der letzten Woche kaum die Muße gehabt hatte, wie gewohnt untätig herumzuliegen. Dann drehte L den abgegriffenen Messingknauf der hellblauen Eingangstür und hatte sofort den Geruch des Metalls in der Nase, ohne die Hand auch nur in Richtung Gesicht führen zu müssen.
Wenn er gedacht hatte, er könne seine Gemächer unbeobachtet verlassen, so hatte er sich natürlich geirrt. Seine beleibte Wirtin Madame Mammou war mit einem großen Turban gedeckelt und mit einem Staubwedel unmittelbar vor seiner Tür zugange und wandte ihm dabei ihr überbordendes Hinterteil zu, das in einem langen Tuchgewand in verschiedenen Grüntönen, wie Madame Mammou meinte, verführerische Wellen schlug.
L grüßte knapp und drückte sich überraschend behände der Wand entlang an ihr vorbei, wobei er seine schwarze Kluft an den Stellen, die dabei mit der Wand in scheuernden Kontakt kamen, unbeabsichtigt mit blättrigem blassgelbem Putz einrieb, der auch auf der Straße weiterhin in seiner Hüftregion und an den Schultern prangte - den ganzen Weg durchs nicht allzu große Vorortgebiet ihn begleitend wie ein treuer, väterlicher Schutzmantel, um ihn vor den Unbilden der gleißenden Sonne und den hier bereits merklichen feinen Sandverwehungen in der Luft zu beschirmen.
Trotz der frühen Nachmittagsstunde, an der im Ort jedermann lieber zu Hause blieb, der es vermeiden konnte, sich der Hitze auszusetzen, denn es war der heißeste Monat im Jahr (und auch in den anderen Monaten, war es ja nicht gerade kühl gewesen) schlenderte L relativ leichtherzig durch die glücklicherweise nahezu schattigen Alleen. Platanen mit ihrer fleckigen Borke standen entlang einer schmalen Wasserrinne, in der neben rostigen Sprungfedern, Dr. Pepper-Dosen und einer blauen zerbrochenen Kinderschaufel etliche an Nüsse anmutende große Samen stillvergnügt des Weges zogen. So stillvergnügt wie L, der zufrieden war, dass er einer lästigen Ansprache durch die Wirtin entkommen war, die ihm wieder mal von ihren Cousinen erzählt hätte, die demnächst heiraten bzw. sich trennen würden, von ihren Cousins, die allesamt ausgemachte Esel seien, und ihren Großcousinen und Großcousins, deren Leben außergewöhnliche Wendungen nähmen. Ihre Familie schien mehrere Hundert Cousinen und Cousins zu umfassen, und das Reservoir an Erzählungen war schier unerschöpflich, sehr zu L’s Leidwesen, der an keiner dieser Geschichten auch nur im Geringsten interessiert war, insbesondere da Madame Mammou im Eifer des Erzählens immer schillernder berichtete und es mit der Wahrheit nicht sehr genau nahm, wie ihm schien. Schließlich überschlug sich ihre Stimme stets im Crescendo ihrer Gefühle, wobei auch die Verständlichkeit des Gesagten letztendlich vollends auf der Strecke blieb.
So war L’s Los seit einer Woche, sobald Madame Mammou seiner ansichtig wurde, ihren Geschichten lauschen zu müssen ohne Hoffnung auf Entkommen. Es gelang ihm ja noch, die seichten Erzählanfänge ganz gut zu verstehen, aber sobald er zustimmend genickt oder, wie von ihm erhofft, sein Entsetzen in kurze Worte gefasst hatte, schloss sich ein weit mäandernder Teil voller Nebenschauplätze unter Miteinbeziehung weiterer Dutzende von Protagonisten und Protagonistinnen an. Dieser gipfelte in einer unverständlichen, jedoch ausufernd weitschweifig bei vollstem Stimmeinsatz und unter Hinzufügung von mindestens 70% von Wörtern aus einem ihm völlig unverständlichen Sprachschatz vorgetragenen Pointe, die von ausladenden Bewegungen, spitzen Schreien, hervorquellenden Augäpfeln und Aufstampfen der viel zu zierlichen Füßchen der keinesfalls zarten Dame begleitet wurde.
Eigentlich, so fand L, hatte die Pensionswirtin mehr Ähnlichkeit mit einem Trampeltier als mit einer Menschin, allerdings konnte sie sich trotz ihrer enormen Fülle doch erstaunlich geziert bewegen. Und wenn sie in höchster Begeisterung von Hochzeitsfeiern berichtete, formte sich ihr Mund zu einem unverhältnismäßig kleinen O, etwa wie ein Hühnerpopo, so schoss es L durch den Kopf, der ihn stets mit Bildern fütterte, ob er das nun gerne wollte oder nicht. Aus dieser winzigen Öffnung gellten schrille, wahnwitzig schnell ausgestoßene Lililililili-Laute, die den Jubel der Hochzeitsgäste wiedergeben sollten und seinen Kopf bis zum Bersten füllten, so dass das Lilililili aus den Ohren troff und sich entlang des Scheitels einen Weg aus der harten Schale seines Schädels ins Freie zu bahnen versuchte.
Somit erschien ihm seine Wirtin also in Form eines trillernden Kamels, das die beiden gewaltigen Höcker schwenkte, wobei jeder in eine andere Richtung gefährlich durch die Kurve schleuderte, und gleichzeitig tremolierte das gewaltige Hinterteil, so dass sich Wogen der Lebenslust auf diesem abzeichneten. In L’s Kopf fand nichts anderes mehr statt als eine rasche Abfolge von unausgereiften Überlegungen zum Thema Flucht, Totstellen oder Totschlag im Affekt. Die einzige, rational zu vertretende Variante war die der Flucht, und an diesem Punkt wurde er deshalb immer sehr unfreundlich, schob das außer Rand und Band geratene Riesentier mit plötzlicher Bärenkraft beiseite und drückte sich gruß- und atemlos aus dem Haus.
Im Gedanken daran, wie unglaubwürdig glimpflich er heute seiner Peinigerin entkommen war, frohlockte L heimlich in seinem Innersten, und dieses Triumphgefühl bemächtigte sich seiner mit einer solchen Gewalt, dass es aus ihm hinausdrängte und sich in einer Art Pfeifen durch die schmale Zahnlücke zwischen Eck- und Backenzahn manifestierte. Ein Geräusch, das er zunächst gar nicht wahrnahm, bis es so laut wurde, dass er sich selbst bewusst machte, dass er schrille Pfeiflaute von sich gab, und zwar sowohl beim Ausatmen, wie auch beim Einatmen, was ihn verwunderte. So begann er also, da ja ohnehin in seiner Umgebung um diese Zeit in der Mittagshitze niemand zu sehen war, sich wie damals als Kind an den aus ihm aufsteigenden Tönen zu erfreuen und zu experimentieren mit dem dünnen, papierschmalen Geräusch, das sich aus ihm in die Höhe wand und dort in alle Winde verwirbelte.
Nach einiger Zeit kam er an eine Stelle, wo die Rinne, die am Straßenrand verlief, ebenso wie der Straßenrand plötzlich über mehrere Meter abfiel. Als Fußgänger konnte man an dieser Stelle ein paar Stufen nehmen, jedoch das Wasser stürzte sich hier Hals über Kopf einen kleinen Überhang hinunter, wodurch ein winziger Wasserfall entstand, in dem von Zeit zu Zeit die Mitschleppsel des Gewässers hinunterklirrten, auf einen kleinen Haufen bereits dort liegenden Unrats hinauf, der vielleicht einmal zu einem modernen Kunstwerk werden könnte, denn offenbar hatten die Einwohner eine Vorliebe dafür, metallische Gegenstände in diesem Bächlein zu entsorgen.
Hinter einem Gewirr von Radfelgen und Regenschirmspeichen, einem Autoseitenspiegel und grobgliedrigen Metallketten, die alle das offenbar unvermutet kräftige Bächlein bereits hierher befördert hatte, vielleicht in einer Zeit, wo es tatsächlich auch einmal regnete (was aktuell kaum vorstellbar war), bildete sich ein Neer. Das war das Wort, das L in den Kopf schoss, als er diesen Trichter sah, der hier dräuend kreiselte. Er fragte sich sofort, ob sich tatsächlich auf der anderen Seite der Welt das Wasser genau in der Gegenrichtung drehen würde, angenommen dort gäbe es ein ebensolches Bächlein mit einem ebensolchen Effekt. Die Antwort konnte er sich nicht geben, aber er beobachtete einfach und mit Befremden weiter, was hier geschah.
Dieser Strudel war mal an den Rändern schaumig, mal wild und ungestüm, mal verwandelte er sich in einen stillen, scheinbar bodenlosen Wirbel, dessen Tiefe nicht zu bemessen war. Das Becken, in dem dieser Wirbel sich zeigte, war zu dunkel, man konnte keinen Grund sehen, und ob es 20 cm oder vielmehr 50 Meter tief war, war nicht zu erkennen. L fühlte sich beim Anblick jedenfalls seltsam erschüttert und unwohl. Er hatte den Eindruck, hier einem Phänomen ins Auge zu sehen, das er so noch nirgendwo auf der Welt gesehen habe, und das einzigartig sei und gefährlich. Je länger er hinsah, desto mehr wurde er in den Bann des schwarzen Kreiselns gezogen. Wie hypnotisiert haftete sein Blick auf dem Wirbel, der nicht weit von ihm entfernt seine stete Runde zog, jedoch, wie bereits erwähnt, mal rauschend und mal tückisch friedlich.
Es schien ihm, als lebte das Innere dieses Strudels. Ganz unabhängig von der Zuspeisung, die eine relativ kontinuierliche Gesamtfördermenge Wasser hinzufügte, schien das Innere des Strudels zu pulsieren. Der Neer lebte. Je länger er hinsah, desto mehr faszinierte ihn die diesem finsteren Trichter innewohnende Kraft auf eine morbide Art und Weise, die die Härchen auf seinen Unterarmen und in seinem Nacken sich aufstellen ließ. Er konnte nicht mehr wegsehen, es gelang ihm nicht mehr, seiner sonst so sehr berechnenden Gedanken Herr zu werden. L fragte sich, was passieren würde, wenn er versuchsweise ein paar Gegenstände in den Neer würfe.
Ihm wurde plötzlich so wild ums Herz. Ein animalisches untergründiges Zweitwesen in seiner Haut kam an die Oberfläche, in dem Maße wie er nun kleine Weinkorken, Blätter, dürre Zweiglein, Dr.-Pepper-Dosen und Taschentücher hineinwarf, die erst am Rande des Strudels vergnügt Karussell fuhren und sich dann mit plötzlicher Vehemenz ins Innere saugen ließen, so dass man einen langgezogenen lauten Schlürfton zu vernehmen meinte.
Kaum war ein solcher Gegenstand ins Innere des Strudels gesogen worden, zog dieses sich zusammen, verengte sich auf ein Minimum, nur um kurz darauf groß und weit mit schaumigen Rändern aufzugehen, an deren Eingang kleine Wellen aufbrandeten, verschäumten und sich auflösten. Die Welt implodierte, zerstob, verging, und das vor seinen Augen.
L genoss auf eine ihm unbekannte, seltsam sadistische Weise das Geschehen, das er hier einfädelte. Er war die Ursache der Ereignisse. Er setzte den Samen, und aus diesem kam eine Saat, aus einem kleinen Zweig entstand eine große, schmatzende, alles Weitere nach außen überschwemmende Welle. Er warf eine Dose und konnte zusehen, wie diese zerdrückt wurde zu einem flachen Klumpen, wie sie ins Innerste gesogen wurde, und wie dann der gefräßige Neer nach einer alleszermalmenden Kontraktion sich in Wohlgefallen und weiße Schaumwellchen in einer friedlichen wollüstig seufzenden Flut auflöste. Und kurz darauf kreiselte er wieder mit brachialer männlicher Gewalt und zerstörte und fraß und reinigte. Wie ein Fegefeuer, jedoch in Wasserform, so kam es L vor.
Auf einmal kam er auf die Idee, seinen Spazierstock hineinzuwerfen, woher auch immer diese Eingebung kam. Seinen geliebten schwarzen Spazierstock mit dem goldenen Knauf in Fischkopfform, den er so lange begehrt und endlich auf einer seiner Reisen in China gefunden hatte. Er hatte lange mit ihm geliebäugelt und schließlich doch den stark überteuerten Stab herunterhandeln können, so dass der Preis ihm noch gerade so akzeptabel erschien (er hatte nicht viel Geschick im Feilschen, sonst wäre ihm das wölfische Leuchten in den Augen des Händlers, der ihn wohl gründlich übers Ohr gehauen hatte, sicherlich aufgefallen). Und nun – nahm er diesen lieben alten Gegenstand, der ihm täglich beste Dienste leistete, einfach so in die rechte Handfläche, wog ihn einmal noch in dieser und warf ihn waagrecht mit einer flachen Stoßbewegung der Hand nach vorne in den Strudel. Einfach so. Ohne zu überlegen. Ohne an Konsequenzen zu denken.
Nun sah er zu, wie das schwarze, polierte Holz Kreise fuhr. Langsam, gemächlich. Friedvoll. Viele Kreise. Es dauerte lang. In dem Moment, wo ihm klar wurde, dass er von seinem wunderbaren Gefährten so vieler Jahre soeben Abschied genommen hatte, wurde ihm siedend heiß bewusst, dass er nicht in der Lage sein würde, die Stufen in die Oberstadt je wieder hochzukommen. Ohne Stock konnte er kein Gegengewicht für sein Bein schaffen und war nicht in der Lage, sich ausreichend hochzuziehen, um eine Treppe zu bewältigen. Vor Schreck wurde seine Stirn im Nu schweißnass und sein Atem ging plötzlich so schnell, als hätte er sich völlig überanstrengt. Er hörte ein Keuchen aus seinem Munde kommen, das ihm gänzlich unbekannt war.
In diesem Augenblick verschwand der Stock mit dem Fischkopf voran im Wirbel des Wassers. L versuchte mit ausladenden Bewegungen, vom Ufer aus den Stock zu erreichen, um ihn am Verschwinden zu hindern. Er verlor unversehens das Gleichgewicht, stürzte ins Wasser und fühlte sich unmittelbar in die Mitte des Trichters gesaugt. Mit Urgewalt zog dieser ihn an, als hätte er nur auf L gewartet, sein ganzes Leben lang auf L gewartet. Aus seiner Tiefe gischteten Holzsplitter nach oben und der Metallkopf des Stockes wurde ausgespien, landete auf dem Metallhaufen, den L vorhin als angehende moderne Schrottskulptur belächelt hatte. Dies alles sah L in seinen letzten Momenten, bevor er in die Mitte des Neers gezogen wurde und der Wasserdruck seinen Brustkorb zerquetschte. Sein letzter Gedanke war: Hoffentlich rettet wenigstens jemand den Griff von meinem Stock.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.