Serafina klingelte zweimal kurz und einmal lang an dem Hochhaus, in dem ihre Freundin wohnte. Wie in alten Zeiten. Das war früher immer das Zeichen gewesen, dass sie es war. Heute morgen war ihr ein bemalter Stein im Bücherregal ins Auge gestochen, und siedend heiß war ihr ganz plötzlich eingefallen, dass sie Mavi, von der sie den Stein vor Jahren bekommen hatte, schon so lang nicht mehr besucht hatte und dass das eigentlich eine Schande sei. Gleich hatte sie ihr geschrieben, ob sie demnächst zufällig Zeit hätte. Und ja, sie hatte. Am besten gleich heute. Sie freue sich sehr.
Der Türöffner summte, Serafina ließ sich ein und fuhr mit dem Lift in den fünften Stock. Dort wartete Mavi schon voller Freude auf sie. Sie umarmten sich herzlich und Mavi trat mit einer einladenden Geste einen Schritt zur Seite, um Serafina in ihr Reich eintreten zu lassen.
Wie hatte sich alles verändert! Serafina hatte ja gewusst, dass die Freundin sich so viele Farben gekauft hatte, um mit ihnen zu basteln. Teure Lackfarben, hunderte von Stiften. Sie waren damals ja auch fleißig zusammen am Fluss entlang spazieren gegangen, täglich sogar, um passende Steine mit nach Hause zu bringen. Serafina hatte gewitzelt, dass bald kein Platz zum Sitzen mehr sei, weil auf jedem Tischlein und jedem Stuhl, im Regal und in der Ecke überall Steine darauf warteten, in die Hand genommen und liebevoll auf ihre Eigenheiten untersucht zu werden. Ein Künstler spürt ja, was in einem Gegenstand steckt und holt es dann hervor, so dass auch der Nichtkünstler die Form erkennen kann.
In der Zwischenzeit war Mavi offenbar unglaublich kreativ gewesen. Bereits im Eingangsbereich grüßten Hunderte von freundlichen, lachenden Baby- und Kindergesichtern von den Wänden. Hier waren kleine Vorsprünge der Steine als Nase oder Ohr interpretiert worden, bei einigen war eine Furche zu erkennen, die nun von einem Auge eingenommen wurde, das perfekt die vorgegebene Form ausnutzte. Einige Babys gähnten mit ungeniert offenen Mündern, nur vier oder fünf der Kindergesichtchen waren weinerlich verzogen, und ein paar dicke Tränen aus mit Glitzer versehendem Klarlack tropften plastisch aus ihren Augen mit den tränennassen langen Wimpern. Viele Gesichtchen hatten eine dunkle Hautfarbe. Es gab auch ein paar mongolisch anmutende Charakterchen, darunter ein hinreißendes Mädchengesicht mit schwarzen, frechen Haarschöpfen, die rechts und links in die Höhe gebündelt waren. Auch hierfür war die Form des Steins ausschlaggebend gewesen. Mavi hatte wirklich ein Auge für besondere Steine!
Serafina kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Wohnzimmertür wurde ihr nun geöffnet, und sie betrat einen Raum, der wirkte wie ein begehbares Aquarium. Der gesamte Bereich war nun blau gestrichen, überall waren als Fische bemalte Steine an der Wand angebracht. Sie umkreisten die wenigen Möbel in wellenförmigen Bahnen und schwammen auch oberhalb ihrer Köpfe an Fäden weiter durch den Raum, hingen an Mobilestrukturen und drehten sich träge im leichten Luftzug. Einige hatten silberne oder metallicfarbene Schuppen und fingen die Sonnenstrahlen, die dadurch wie Funken von ihren steinernen Körpern blinkend durchs Zimmer stoben, während sie ihren Tanz im luftig dünnen Wasser des Zimmers vollführten. Im unteren Bereich waren der Wand entlang getrocknete algenartige Materialien angebracht, wassergebleichte Treibholzstücke verbrüderten sich mit Sand und kleinen, unbemalten Kieselsteinen, die am Boden der Wand entlang ausgestreut waren.
Die Couch trug nun einen sandfarbenen Bezug und die Stühle waren sandfarbenen Liegestühlen mit weichen Samtkissen in verschiedenen bräunlichen und gelblichen Tönen gewichen, von denen aus man die Decke betrachten konnte, die übrigens ebenfalls blau war. Es war entlang der Decke eine Folie angebracht worden, die zuvor gekonnt geknittert worden war und somit wirkte wie eine Wasseroberfläche, die ein Taucher von unten betrachtet.
Zwischen den vielen Fischsteinen waren auch ein paar Seesterne zu erkennen, die Mavi offenbar ebenfalls selbst aus Pappmache hergestellt und bemalt hatte. Einige riesige echte Muscheln, die die Freundin aus ihren Urlauben von exotischen Orten mitgebracht hatte, waren an strategischen Punkten so aufgestellt, dass man sich wirklich wie unter Wasser fühlte. Die Fenster waren ebenfalls mit einer durchsichtigen blauen Farbschicht oder einer Folie überzogen, die jedoch von wellenförmigen Linien durchzogen war, wo die Fenster unbeschichtet geblieben waren. Aus diesen Linien drang das helle Licht, das die Fische so glitzern ließ.
Serafina setzte sich auf das Sandsofa und hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken, denn das Möbelstück war noch zusätzlich aufgepolstert worden mit etwas, das sich wie Styroporkugeln anfühlte und raschelte. Im Nu hatte sich unter ihr eine Kuhle entwickelt, die sich vollständig ihrer Körperform anpasste, und Serafina fand sich in einer fast liegenden, sehr bequemen Position wieder, aus der sie die vielen Fische voller Entzücken bestaunte.
Es war eigentlich schon fast zu viel verlangt, sich mit der Freundin zu unterhalten, so einen meditativen Einfluss hatte die neue Umgebung auf sie. Sie lehnte sich an die Freundin und diese legte den Arm um ihre Schultern. Und auch die Freundin schien gar nicht viel reden zu wollen. So saßen sie da eine ganze Weile und schlürften kontemplativ eine blaugefärbte Limonade und hingen ihren Gedanken nach.
Früher hatten sie immer so viel zu erzählen gehabt. Vor allem die Freundin hatte stets vieles zu berichten, was ihr widerfahren war, und das waren oftmals Geschichten, über die sie sich recht geärgert hatte. Während des Erzählens litt sie sich dann noch einmal durch das Geschehen. Das war traurig für sie und verstärkte ihren Kummer. Doch in den letzten Jahren schien ein Wandel in ihr vorgegangen zu sein, und sie trug ein eher beseeltes Lächeln auf ihrem völlig entspannt wirkenden Gesicht. Serafina musterte sie aus unmittelbarer Nähe und bemerkte, dass die tiefen Falten in Mavis Gesicht kaum mehr zu sehen waren. Sie wirkte verjüngt und glücklich.
Serafina konnte nicht umhin, nachzufragen, ob Mavi etwa irgendeine spezielle Schönheitskur für ihr Gesicht habe machen lassen (das Wort Botox wollte sie gar nicht nennen), aber Mavi sagte: „Ja, du siehst, ich schau jetzt viel zufriedener aus. Weißt du, in mir ist eine große Änderung vorgegangen. Ich habe plötzlich festgestellt, dass ich jetzt endlich, nach all den Jahren, in der Lage bin, mich selbst zu lieben. Das ist so schön, so unendlich beglückend, dass ich jetzt wirklich und tatsächlich imstande bin, mich selbst anzunehmen, als die, die ich tatsächlich bin! Und ich bin eine, die sich ihr Leben schön machen darf. Eine, die sich das verdient hat. Eine die, zu sich selbst gut sein darf. Ich habe jetzt auch gelernt, wie es geht.
Stell dir vor, ich hab jetzt meinen Lebensweg gefunden. Du weißt ja, ich bin davor schon unendlich viele Wege gegangen. Das waren ja alles Holzwege. Aber jetzt weiß ich, worauf es ankommt, und welcher der meine ist.
Pass mal auf, wenn du keine Angst hast, dann komm mal mit. Ich zeig dir was ganz Besonderes. Da kannst du vielleicht auch finden, was für dich der richtige Weg ist. Aber nur, wenn du den Mut hast, den auch zu gehen. Das musst du wissen, ob du bereit bist. So wie ich dich kenne, bist du aber eigentlich der einzige Mensch in meinem Leben, dem ich dieses Geschenk machen würde, denn ich kenne dich. Du bist mutig und stark, und du arbeitest so unglaublich viel an dir. Ich hab da eine Möglichkeit, dir jetzt was zu zeigen, was dir sonst niemand zeigen kann. Willst du das?“
Etwas komisch war Serafina schon bei ihren Worten. Diese ganze Begegnung heute hatte sich irgendwie sehr außergewöhnlich entwickelt. Die Tausende von Steinen, diese ungeheure Kreativität, die seltsame Umgebung, die gar nicht mehr wie eine Wohnung wirkte. Vielleicht war die Freundin auch irgendwie verrückt geworden? Das war alles so merkwürdig. Und was sie da gerade über mich gesagt hatte…
War sie wirklich so ein Mensch wie die Person, die Mavi da beschrieben hatte? War sie denn tatsächlich mutig? Eigentlich doch gar nicht! Serafina hatte doch oft vor Herausforderungen gekniffen, war ausgewichen, hatte vorgeschützt, was anderes zu tun zu haben oder war schlicht aus dem Weg gegangen. Andererseits hatte sie aber doch auch schon in Situationen, wo es wirklich wirklich nötig war, die ihren beschützt, sich für sie eingesetzt, für Freunde eingestanden, wie eine Löwin gekämpft, und selbst war sie ein Stehaufweibchen, das niemals aufgibt. Sie hatte die letzten Jahre auch wirklich viel an sich gearbeitet, hatte sich unglaublich weiterentwickelt, war überhaupt nicht mehr dieselbe wie zum Beispiel vor drei Jahren. Da hatte Mavi schon irgendwie Recht.
Was auch immer sie ihr jetzt zeigen würde, konnte Serafina sich nicht vorstellen. Wie sollte Mavi für sie einen Weg bereithalten? Wie könnte sie ihr den weisen? Auf jeden Fall war Serafina neugierig. Sie schluckte einmal kräftig, und es krächzte zuerst leicht verängstigt aus ihrer Kehle, als sie zu sprechen ansetzte, aber dann räusperte sie sich und sagte fest und bestimmt: „Ja, bitte, zeig mir, was du da hast, ich möchte es gerne sehen.“
Mavi nahm sie an der Hand und geleitete sie aus dem Zimmer, ans andere Ende des be-kinderten Flurs, aus dem ihnen alle Augen gespannt, aber zuversichtlich zu folgen schienen, und öffnete einen kleinen Nebenraum, in dem Serafina zuvor noch nie gewesen war. „Hier sind die Wege, die man gehen kann“, sagte Mavi, und die Freundin sah, was sie wohl meinte. Die Wände dieses Raums waren nämlich vollständig bedeckt mit Holzrechtecken, die wie Türen bemalt waren. Auf einigen hing ein Namensschild oder etwas anderes, an manchen waren Blumenkränze, Herzen, Adventsdeko, Vogelmotive und vieles mehr angebracht. Die Türen hatten alle erdenklichen Farben und Formen. Etliche waren modern und eher nüchtern, andere alt, mit schönen Türklinken statt Knäufen, andere sogar uralt und morsch.
Die Türen verliefen entlang der Wände nicht etwa in ordentlichen Reihen, sondern waren sehr harmonisch in Abständen von einander mal höher, mal tiefer, mal näher, mal weiter entfernt über den ganzen Raum verteilt, und auch hier hingen welche von der Decke.
„Ich lass dich mal selber herausfinden, was für dich richtig ist“, sagte Mavi zu Serafinas Erstaunen und schloss die Zimmertür. Nun war sie allein mit diesem Sammelsurium. Wie viele Stunden die Freundin wohl mit dem Herstellen und Bemalen all dieser Türen, der Fische, der Kindergesichter verbracht hatte! Unglaublich! Wie lang war Serafina denn nicht bei ihr gewesen? Sie hatten sich die letzten Jahre immer nur geschrieben. Mit WhatsApp hatte man ja den Eindruck, immer dabei zu sein, zu wissen, was der andere so ungefähr alles machte. Mavi hatte schon oft geschrieben, sie hätte gerade eine Inspiration und wäre am Basteln, und sie hatte eigentlich auch nicht sehr viel geschrieben (im Gegensatz zu Serafina). Aber dass sie sich derart künstlerisch betätigt hatte, hätte Serafina niemals für möglich gehalten. Kunst kommt von Können, und das hatte Mavi sich tatsächlich angeeignet.
Diese Türen hier waren schon etwas absolut Besonderes. Man hatte schon fast den Eindruck, als könne man sie auch tatsächlich öffnen. Die meisten hatten eine Art von Klinke. Manche jedoch hatten einen Türklopfer, aber gar keine Öffnungsvorrichtung. Spaßeshalber klopfte Serafina an so eine Tür, die mit roten und braunen Rauten bemalt war und einen kleinen Klopfer in Form eines Rabenkopfes hatte. Wohl durch die Berührung öffnete sich die Tür tatsächlich, und Serafina sah, dass sie mit Scharnieren wie eine richtige Tür befestigt war. Dahinter sah es finster aus, irgendwie optisch, wie dreidimensional. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen - auf einmal ritt ein kleiner, fast nackter federgeschmückter Mann auf einem schwarz-weiß gescheckten Pferd im Dunkeln hinter der Tür vorbei. Konnte ja gar nicht sein! Serafina starrte noch eine ganze Weile auf die dunkle Fläche hinter der Tür, doch da sich ansonsten nichts mehr tat, hatte sie es wohl eher im Stehen geträumt.
Eine andere Tür, die von den Wurzeln eines daneben an der Wand angebrachten schönen alten Baumes im passenden Format fast komplett überzogen war, fand Serafina besonders faszinierend. Mit der Hand fuhr sie an den Wurzeln des Baumes entlang, die sich kreuz und quer über die Tür erstreckten. Wie man auf so eine Idee kommt! Fantastisch! Wenn ich eine Tür machen würde wie mein Leben, dann würde die womöglich so ausschauen. Bei dem Gedanken musste Serafina schon fast lachen, ja tatsächlich – was sie schon alles erlebt hatte! Und überall waren die Wurzeln ihrer Verwandtschaft versteckt.
Offenbar hatte sie die Tür fester angefasst, als sie wollte, denn plötzlich knackte diese laut, und zu ihrem Erschrecken, fielen ein paar der Wurzelstücke zu Boden, während die Tür mit einem Quietschen weit aufschwang. Ja, auch diese Tür war so angebracht, dass sie sich öffnen konnte! Und dahinter war definitiv etwas zu sehen. Serafina war dankbar, dass diese Tür auf Augenhöhe angebracht war. So konnte sie direkt hineinblicken.
Hinter der Tür verlief ein Pfad durch eine schöne vielgrüne Landschaft mit englisch anmutenden Cottages im Hintergrund, aus deren Kaminen weißer Rauch aufstieg. Der bewegte sich im Wind. Es war also nicht aufgemalt. Der Pfad war auf einer Seite mit grauen Steinmauern begrenzt, man sah aber schon auf dem kurzen Stück, das durch die Tür zu erkennen war, dass er sehr kurvenreich und voller Verzweigungen war, denn er folgte einem kleinen Bächlein, das offensichtlich Spaß daran hatte, die Richtung vielfach zu wechseln.
Rechts und links waren Hügel zu sehen, und es hatte vor kurzem geregnet. Aber nun strahlte die Sonne, so dass die Natur geradezu überirdisch erhöht wirkte, die Farben waren kräftig ausgeprägt, der Himmel war gewitterlich dunkelblau, die Grüntöne mannigfaltig, und dazwischen blühten violette Blumen in großen Mengen.
Serafina war begeistert. Es roch nach Regen auf Sommerboden, der Begriff für diesen Duft, „Petrichor“ schoss Serafina durch den Kopf. Sie liebte diesen Geruch. Behutsam umging sie die Pfützen, zwinkerte einer Eidechse zwischen den Steinen in der Mauer zu, schlenderte langsam bis zur ersten Weggabelung und bog dort auf die Seite ab, wo es sonnig war, nämlich am Bach entlang. Sie hatte beschlossen, immer nur auf den hellen Wegen zu gehen. In sich fühlte sie eine große Vorfreude auf was sie jetzt alles sehen und erleben würde. Sie hatte den Weg durch das Mäandertal gewählt, wusste sie plötzlich und konnte sich gar nicht erinnern, wie sie eigentlich hierhergekommen war.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.