Felicitas, das Glück (in Person) hatten ihre Eltern sie genannt, als sie - auch noch als Sonntagskind - das Licht der Welt erblickte. Sie genoss es, immer zu gewinnen, wenn sie an einer Verlosung teilnahm, jeden Job bekommen zu haben, für den sie sich je beworben hatte, und auch in der Männerwelt haben zu können, wen auch immer ihr Herz begehrte. Es war für sie schon fast eine Selbstverständlichkeit, dass ihr alles in den Schoß fiel. Natürlich steckte eines der Geheimnisse dabei darin, nur das zu begehren, wo man auch sicher sein konnte, dass die Chance, es zu erlangen, recht hoch sei. Beim Lotto ist das ja eher nicht der Fall, denn zeitgleich erhofft jeder andere, der seine Kreuzchen macht, sich das große Glück, keiner wünscht sich hier nur einen Dreier.
Heute fuhr sie wohlgemut mit dem E-Bike nach Hause, als ein Auto knapp vor ihr auf den Fahrradweg hinüberlenkte, sie dabei schnitt und maßlos erschreckte und nonchalant quer über der Grenzlinie von Geh- und Radweg mit laufendem Motor stehenblieb. Die junge Fahrerin öffnete, ohne auch nur in den Rückspiegel zu sehen, die Tür und hastete in das Haus, vor dem sie auf diese Weise zum Stehen gekommen war. Zwei Sekunden später knallte Felicitas‘ Rad mit voller Wucht in die offenstehende Autotür. Felicitas vollführte einen olympiareifen Salto in der Luft. Im Geiste sah sie sich in Zeitlupe fliegen und natürlich unbeschadet auf den Füßen landen. Die Wirklichkeit sah jedoch gänzlich anders aus, sie fiel nämlich auf den helmfreien Kopf. Da lag sie in einer sich rasch ausbreitenden roten Blutlache, und wenig später kam das Rote Kreuz und brachte sie in Windeseile lautstark Weg fordernd ins Krankenhaus.
Als äußerster Notfall kam sie sogar als erste dran, obwohl im Gang viele Betten standen mit jammernden Menschen mit Verletzungen unterschiedlichen Schweregrades. Das alles bekam Felicitas jedoch nicht mit. Sie war bewusstlos und machte dem Rettungsteam nicht wenig Sorgen.
In der Zwischenzeit träumte Felicitas wilde Geschichten. Sie fand sich in den im ewigen Permafrost begrabenen Weltgegenden und beobachtete, wie sich blaue Wasserströme aus diesen formten und das ewige Eis in großen Stücken davonschoben. Darunter lagen riesige fleischfressende Pflanzen, die nach Jahrtausenden des Hungers gierig auferstanden, um nach Nahrung zu suchen. Sie bewegten ihre zahnbewehrten Doppelmäuler gierig hin und her, um herauszufinden, was da an Fressbarem vorzufinden wäre, und reckten sich lüstern in ihre Richtung. Ihre Unterseite löste sich dabei fast vom Boden und es kamen meterlange verholzte baumdicke Wurzeln zum Vorschein, die ganz langsam Schritt für Schritt vollführten, so dass die riesigen Venusfliegenfallen sich ihr immer mehr näherten. Auf einmal entdeckte sie in einer der enormen Fallen die Überreste eines Flugsauriers und in einem anderen diejenigen eines Triceratops, und plötzlich war ihr klar, weshalb die Dinosaurier wirklich ausgestorben waren. Von wegen Meteoriteneinschlag auf Yukatan! Es waren diese Fleischfresserpflanzen.
Felicitas, die streng vegan lebte, hoffte, nicht allzu verführerisch zu riechen, doch den gefräßigen Monsterpflanzen war das offensichtlich egal, sie kamen schlurfend und Geräusche wie rostige Türangeln machend stetig näher. Felicitas konnte nicht ausweichen, denn hinter ihr endete die Eisscholle und da drohte das tiefschwarze, eiskalte Meer. Sollte sie lieber hineinspringen in den sicheren, nach wenigen Sekunden eintretenden Tod oder hoffen, dass sie die graugrünen Bewohner des kleinen Horrorladens irgendwie übertölpeln könne?
Mit diesen Gedanken erwachte sie aus ihrem Traum in ein Durcheinander aus Gepiepe und Taktschlägen, und eine Krankenschwester, die gerade an ihrem Bett auf der Intensivstation stand und mit dem Umstecken von Kabeln beschäftigt war, nahm dies hocherfreut zur Kenntnis und erläuterte Felicitas ihre Lage. Felicitas war völlig überrascht, sie hatte nichts von dem in Erinnerung, was geschehen war.
Zum Glück hatte ihr Handy nur einen Displaybruch erlitten, war jedoch ansonsten funktionsfähig, und da Felicitas meist nur im häuslichen Bereich unterwegs war, hatte es auch keine Displaysperre. Somit hatten die Polizei und die Ärzte rasch herausgefunden, um wen es sich handelte und sogar ihren Partner angerufen. Der wollte aus der 100 km entfernten Stadt kommen, sobald sie wieder bei Sinnen war. Nun würde er gleich informiert werden. Zuerst jedoch der Arzt.
Wenig später kam ein gemächlicher, gütig dreinblickender indischer Spezialist ins Zimmer. Er näherte sich Felicitas und strich ihr mit seiner fleischigen Hand vorsichtig und ganz liebevoll über den Unterarm und ließ die Hand auf ihrer Hand liegen, während er sich an das Bett setzte. Diese Art von Unterhaltung musste er zum Glück nicht so oft führen. Aber heute gab er sein Bestes, denn diese Frau rührte ihn sehr. Er kannte ihr Gesicht von Facebook. Er hatte ihren bisherigen Lebensweg verfolgt, wiewohl er sie eigentlich nie angeschrieben hatte. Zwei- oder dreimal hatte er auf einen Post von ihr mit einem Herz reagiert, aber darauf keine persönliche Antwort erhalten.
Leider musste er ihr erklären, warum sie an so vielen Geräten angeschlossen war und eine Opiumpumpe an ihr Bett gestellt worden war. Ihre Hand, auf die er die seine gelegt hatte, war unbeschadet, und an dieser Seite des Bettes stand, neben seinem Stuhl, die Pumpe. Sie solle darauf drücken, sobald sie das Gefühl habe, sie benötige mehr Schmerzmittel. Sie habe bereits eine sehr sehr hohe Dosis erhalten, aber diese würde nicht ausreichen. Die andere Hand war zertrümmert, ihr Beine waren zertrümmert, denn unmittelbar, nachdem sie auf der Straße aufgeschlagen war, hatte ein Auto sie überfahren. Der Fahrer hatte keine Chance mehr gehabt, rechtzeitig zu bremsen. Ihr Schädel war bereits beim Aufprall auf den Boden aufgeplatzt. Sie hatte daraufhin eine Gehirnblutung, und obwohl man sofort den Schädel rasiert und aufgesägt hatte, eine komplizierte Operation durchgeführt hatte, um die Blutung zu reduzieren, hatte diese bereits irreparablen Schaden angerichtet.
Ob Felicitas alles mitbekam, was er erläuterte, war dem freundlichen Arzt nicht klar, sie schien jedoch unter dem dicken Verband in ihrem mumienartigen Ganzkörperwickel verstehend dreinzuschauen. Sie sagte nichts und wurde jedoch kreidebleich, als der Arzt ihr noch mitteilen musste, dass ihre Wirbelsäule zerschmettert war, und sie nie wieder selbst aufstehen oder gehen können würde. Ihre unteren Gliedmaßen waren wie abgeschnitten. Die linke Hand konnte sie noch verwenden, aber der gesamte Unterkörper einschließlich der Ausscheidungsorgane gehörten nicht mehr ihr.
Felicitas verstand offenbar doch mehr, als der Doktor mit dem unaussprechlichen Namen erkennen konnte. Dicke Tränen rollten nun aus ihren Augen. Er drückte ganz sanft ihren Arm an einer Stelle, wo keine Hämatome zu sehen waren, und dann dosierte er für sie das Schmerzmittel nach. Sie würde es brauchen.
Als ihr Partner kam, zeigte sich, dass Felicitas doch sprechen konnte. Sie beschrieb ihm schluchzend ihre Lage. Sie erklärte ihm auch, was es mit der Pumpe auf sich hatte. Sie bat ihn, für sie zu tun, was sie an einem sonnigen Nachmittag in der Schwebeliege auf der Terrasse miteinander besprochen hatten.
Als die Schwester kurz zu einer anderen Patientin wechseln musste und nicht sehen konnte, was er tat, entfernte er blitzschnell den Durchlaufstopp an der Pumpe und sorgte dafür, dass das Mittel Tropfen für Tropfen einfach in die Ader floss. Er küsste Felicitas auf den Arm, den einzigen Ort, an dem sie noch heil aussah. Er weinte mit ihr und sagte ihr, wie sehr er sie liebte.
Felicitas wisperte leise und verwaschen: “My name was Chrystalline”. Mit diesen Worten verließ sie diese Welt. Im Gegensatz zu dem, was man aus Krankenhausfilmen kennt, ging in diesem Moment kein Dauerton an, sondern die Geräusche der Maschinerie hatten einfach aufgehört. Als die Schwester wiederkam, waren keinerlei Herzgeräusche mehr vorhanden und alle Kurven auf dem Gerät waren abgeflacht. Da eine Verfügung bereits von früher im Krankenhauscomputer vorlag, dass Felicitas im Zweifelsfall nicht wiederbelebt werden wollte, öffnete die Schwester sanft das Fenster und ließ die Seele der Verstorbenen davonfliegen - durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.
Aufgelöst, zitternd und mit einer kalten nackten Angst im Herzen, aber stolz, das einzig Richtige getan zu haben, wartete ihr Partner, ob es entdeckt würde oder nicht. Vielleicht hätte er ja bald Zeit, seine vielen Bücher endlich zu lesen. Erstmal tief durchatmen und sich beruhigen. Die Schwester bat ihn, hinauszugehen, damit sie die Tote ein bisschen zurechtmachen könne. Er küsste Felicitas ein letztes Mal auf ihren blutverkrusteten Mund und setzte sich draußen auf den Gang.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.