30 years after – standing on the inside looking out…
27. Juni 2009
Samstagmittag, meine langjährige Schulfreundin, mit der ich seit der 4. Klasse befreundet bin, holt mich und die Kinder ab. Es geht in unsere gemeinsame Heimatstadt, zum Klassentreffen. Die Kinder werden bei den Großeltern untergebracht, ein Novum. Ich bange, ob das gut geht. Noch eine Schonfrist. Mein kleiner Sohn sagt zu mir: Du siehst heute aus wie ein Topmodel, jedenfalls im Gesicht, ein bissel dünner müsstest Du sein, aber toll siehst Du heute aus! Nicht nur in meinen Augen stehen Tränchen, auch das Wetter ist sehr feucht, der geplante Spaziergang mit der ganzen Klasse durch die Stadt zur Schule, um sich wieder neu kennenzulernen, fällt wortwörtlich ins Wasser. Also werde ich nach zwei Stunden erneut abgeholt, wir fahren zu einer Parkgarage und dann wandern wir, mit Schirmen bewaffnet mit sehr gemischten Gefühlen zu unserer alten Schule. Fast wäre ich falsch abgebogen.
Schon am Eingang sieht man, dass sich drinnen bereits eine ganze Reihe von ehemaligen Mitschülerinnen versammelt haben. Wir treten ein und werden freudig von uns eher fremden Frauen begrüßt. Du warst doch die Soundso, ach nein, aber macht nichts, ich freue mich riesig, Dich zu sehen! Tatsache – wir waren mal… Jetzt sind wir jemand anderer. Wir haben uns sehr verändert. Mein Herz schlägt höher, als ich wenigstens die Veranstalterin erkenne, mit ihr hatte ich mich letztes Jahr einmal bei ihr zu Hause, fernab der Heimat, getroffen und langen Emailkontakt gepflegt. Sie sieht wenigstens so aus wie vor wenigen Monaten. Mit den anderen weiß ich nicht so viel anzufangen, aber sie schnattern wie eh und je und haben sich und auch uns sogar, mit denen sie früher nichts zu tun hatten, viel zu erzählen.
Die Scharen werden immer größer. Ich bin sehr froh, dass wir recht früh da gewesen sind, so können wir die Neuankömmlinge begrüßen und haben in etwa einen Überblick, wer neu dazugekommen ist. Nach bekannten Gesichtern halten wir eher vergeblich Ausschau. Es kommen hauptsächlich die Schülerinnen der Parallelklassen. Irgendwann entdecke ich zu meiner Freude, dass eine vorausschauender Menschin einen Bogen Aufkleber und einen Kugelschreiber ausgegeben hat, und so zieren bald einige füllige, aber hauptsächlich lauter völlig normalformatige Brüste kleine weiße Schildchen mit der Tendenz, sich rasch abzulösen, aber immerhin, man hat einen Anhaltspunkt. Die meisten haben ihren Vornamen darauf geschrieben, gefolgt von ihrem alten Namen und einem etwaigen neuen Namen in Klammern. Viele haben keinen 2. Nachnamen drauf, ob das Auslassung oder Lebensphilosophie bzw. -weg darstellt, darüber bin ich mir nicht schlüssig. Unneugierig, wie ich immer war, hinterfrage ich das auch nicht öffentlich. Eine schreibt nur Johanna. Ich bin immer noch am Rätseln.
Ein Mann kommt dazu, ich halte ihn für den Hausmeister, bis mir erklärt wird, er sei der neue Direktor. Sieht jovial aus, unser ehemaliger Direktor war ehrfurchtgebietend, man zog eher nur im Flüsterton oder besser schweigend an ihm vorbei, gesenkten Hauptes, mit hochrotem Kopf. Er verstarb letztes Jahr. Auf dem letzten Klassentreffen war er noch dabei, und seine schwindenden Geistes- und Körperkräfte ließen ihn plötzlich alles andere als respekteinflößend erscheinen.
Nun folgen ganz kurze Ansprachen, wir werden, da gerade ein Fünklein Sonne scheint, vor die Schule gebeten, dort stellen wir uns auf den Eingangsstufen in einer wilden Unordnung auf, niemand scheint neben denjenigen zu stehen, die er früher bevorzugte. Macht nix, so ist es auch recht. Ich stehe neben einer alten Frau, sehr klein, eine Oma. Sie stellt sich vor als die frühere Konrektorin. Ich erschrecke – was, das soll sie sein? Vor der hatte ich mich auch immer gefürchtet. Spontan trete ich eine Stufe nach oben, denn schließlich bin ich nicht bei den Kleinsten und muss nicht in der 1. Reihe stehen. Oder hat mein Zurückprallen etwa immer noch andere Gründe?
Der Fotograf versteht sein Handwerk, er lockert uns derart, dass wir herzlich lachen, zum Schluss verschwindet er lange Zeit hinter der Kamera, wir strahlen hinein, er quietscht oben mit einem Plastikentchen auf dem Stativ, wir denken, wir werden fotografiert – in dem Moment kommt er mit einer roten Clownsnase hinter der Kamera hervor, wir brechen in großes Gelächter aus, klick macht es. Das Foto ist hervorragend, wie sich später herausstellt.
Dann führt uns unsere ehemalige Biolehrerin durch die Schule. Zunächst in eine Klasse 5c, in der meine Freundin, eine weitere inzwischen zu uns gestoßene Schulkameradin und ich jedenfalls nie unsere Zeit abgesessen haben. Trotzdem wirkt das Klassenzimmer vertraut. Irgendwie alles noch wie früher. Nur sei der Teppich nun allergikertauglich. Die Lehrerin berichtet uns, dass die Eltern nun wesentlich anspruchsvoller seien als zuvor, die Schülerinnen und nun auch – was erst nach unserer Zeit eingeführt wurde – die 30 % Schüler würden von ihren Eltern die Erlaubnis bekommen, in diese Schule zu gehen, nachdem die Eltern ausgemacht hatten, ob das Kind in ein Klassenzimmer mit Holzboden oder mit allergikergeeignetem Teppich kommen würde. So ändern sich die Zeiten! Damals war man noch dankbar, überhaupt an diese Schule zu dürfen, Bedingungen hätte man da keine gestellt.
Die Tische und Stühle waren neu, jedoch in derselben Machart. Ich erinnere mich mal wieder, dass diese Art von Tisch sich wunderbar geeignet hat, mit Bleistift unter dem Mäppchen einen Spickzettel anzubringen, den man bei Bedarf mit einem feuchten Finger sofort wegwischen konnte (wodurch er natürlich unbrauchbar wurde, aber meist war bis dahin die Untat schon begangen). Ich wurde niemals erwischt, wenn auch sehr oft auf Spicker kontrolliert. Erfolglos. Ich verzichtete solidarisch auf diese mir auf der Zunge brennende Randbemerkung in der Öffentlichkeit im Interesse der aktuellen Schülerschaft des Gymnasiums.
Irgendwie kamen unsere alten Rollen mit dem Einatmen des alten Klassenzimmergeruchs, der laut der Lehrerin das beste Konservierungsmittel sei (meine Freundin sagte mir auch, die Frau sei anscheinend um kaum einen Tag gealtert seit damals), wieder zum Vorschein. Ich wurde immer leiser und stellte mich nicht wie sonst in eine der vorderen Reihen, sondern verkroch mich langsam in eine der Ecken, zu meinen beiden Klassenkameradinnen. Eine ehemalige Mitschülerin, die ich nicht so genau identifizieren konnte (der Name und die Gesichtszüge kamen mir bekannt vor, aber ich hatte keine Möglichkeit, sie genau einzuordnen), stellte sich als Lehrerin an dieser Schule vor, während ich mich in die hinterste Ecke begab.
Während betont wurde, dass Disziplin und Ordnung an dieser Schule nun nicht mehr derart wichtig seien wie früher, die Schule aber einen Award of Excellence erhalten habe und seither als Eliteschule geführt wurde, las ich am schwarzen Brett die Steckbriefe der Schülerinnen und Schüler (mit Foto durch). Daneben war ein Zertifikat für Certamen Latinum, 1. Platz, den diese Klasse erhalten hatte. Nein, wir hatten damals in der 5. Klasse noch kein Latein! Und gleich daneben: 3 verschiedene einseitige getippte Din-A4-Briefe von Knaben aus der Klasse, etwa des Inhalts: „Liebe Mitschülerinnen, es tut mir so leid, dass ich bei der Essensausgabe am Schulfest nicht mitgeholfen habe, ich werde das nie wieder tun, ich bin ein unsozialer Junge, das wird garantiert nicht wieder vorkommen, so etwas ist schändlich und man darf das nicht, ich habe es jetzt verstanden und in Zukunft werde ich ganz bestimmt mithelfen und als einer der ersten behilflich sein.“ – Nun soviel zu der Aufweichung von Zucht und Ordnung!
Nun ging es weiter, wir wurden in den Biologiesaal geschleust, der mir vorkam, als sei das früher der Physiksaal gewesen, aber vielleicht gab es ja immer schon zwei davon. Mich störte, dass auf den Tischen überall Wörter hineingeschnitzt oder draufgekritzelt waren. An meinem Platz stand groß: Scheiße! Ein großes Hallo brach an, als die Bio-Lehrerin, die wohl auch Hauswirtschaft gegeben hatte (das war aber ein anderer Zweig als meiner (neusprachlich)), die alte rote Babywanne auf den Katheder stellte, mit der die Schülerinnen wohl damals eine Babypuppe baden sollten – nun sind die meisten über die Realität bestens aufgeklärt, insbesondere, dass Babys die Tendenz haben, in der Badewanne nicht so ruhig wie eine Puppe zu bleiben und auch ganz schön flutschig sind… Über das Thema Stoffwindeln wurde auch doziert – was uns damals wohl alles entgangen war? Es hörte sich nach einem Haufen Spaß an. Hatten wir verkopften Sprachgenies damals in der Schule eigentlich auch welchen gehabt?
An den Wänden entdeckte ich Informationen zu Homo sapiens und Australodingsdaopedicus, den sie damals wohl noch nicht gefunden hatten. Na, immerhin scheint man ja nun auf dem neuesten Stand zu sein. Wir hatten damals auch immer das Gefühl, das allerneueste Wissen übergebraten zu kriegen, wenn auch nicht jeder gleichermaßen aufnahmefähig war. Mit meiner neuen Sitznachbarin sprach ich so gut wie gar nicht, sie hatte sich aufgrund eines Wiedererkennungseffekts neben mich gesetzt, da sie aus meiner ehemaligen Klasse war – nur gehörte sie damals zum Inner Circle und ich zum Outer Circle, und wir hatten uns – so wie auch damals während der Zeit unseres gegenseitigen kollektiven Ignorierens - nichts zu sagen. Zwischen uns lagen ja schließlich Welten – die eine war die der anerkannten Streber (Innen-U), die andere die der vermeintlichen Loser (Außen-U der Sitzformation). Nun klafften zwischen uns anscheinend immer noch unüberbrückbare Abgründe.
Danach marschierte die Karawane, nun sehr fröhlich diskutierend, die Treppen hinauf und hinunter, geführt von der Lehrerin – die genaue Reihenfolge habe ich nicht mehr im Kopf, ich glaube es ging erstmal hoch zum Zeichensaal. Unterwegs bewunderten wir die Kunstwerke der Schülerinnen, die zum Teil fabelhaft waren. Neben dem Sekretariat waren hingegen Pokémon an die Wand gemalt, damals undenkbar, wenn man, sagen wir mal Mickey-Mouse-Figuren als Dekoration gewünscht hätte. Und das dann noch gleich neben dem Sekretariat!
Die Arbeiten des Kunstleistungskurses wurden bewundert, der Zeichensaal betreten, der mir nur halb so groß wie früher erschien. Aber es roch dort wie immer, nach Deckfarben und feuchten Lappen, Kreide und Staub. Beim jetzigen Vortrag hatte ich schon Probleme mit der Konzentration, denn etwa 70 Schülerinnen in einem Raum – das ist ganz schön laut!
Wir wurden daraufhin auf eine Terrasse geschleust, und meine ehemalige Nebensitzerin jubelte, dass sie endlich wieder hier sei, während meine Freundin und ich uns zweifelnd ansahen, ob wir jemals da gewesen seien – wir konnten uns nicht erinnern! Dies sei immer die Oase meiner Nachbarin gewesen, sie sei doch immer mit uns auf dieser Terrasse gewesen, da habe sie immer ihre Hausaufgaben abgeschrieben. In meinen Gedanken geschah gar nichts, mein Gedächtnis – völlig blank. Wie kann das sein? War ich nicht dabei? Oder war für mich der Schulalltag mit Lernen und Sich-aufs-Wesentliche-Konzentrieren so dominant, dass ich dies völlig ausgeblendet habe? Was mich allerdings noch mehr beunruhigte, war, dass die Terrasse äußerst ungepflegt aussah, überall grünte es zwischen den Platten, und zwar sehr unkräutig und grasig. Das darf an dieser Schule nicht sein, da muss es sauber und gepflegt aussehen! Der neue Direktor wohl… Oder altersbedingter, unvermeidlicher Verfall?
Wir fanden uns nach weiterer Wanderschaft im Musiksaal wieder, dort war ich immer sehr gerne gewesen, jedoch meist mit knurrendem Magen, muss wohl kurz vor oder nach der Pause gewesen sein. Und prompt, beim Betreten des immer noch mit roten Samtdecken (wegen der Akustik) verkleideten Raums fing pünktlich mein Magen an zu knurren. Ein Blick auf die Uhr zeigte außerdem: wir haben bereits maßlos überzogen, liegen nicht mehr im Zeitplan. Naja, macht nichts, es war ja wirklich interessant!
Ein weiterer Blick in die Runde füllte mich mit Entsetzen – die schönen, ovalen Armablagen aus hellem Holz an den kleinen Stühlchen waren so fürchterlich mit schwarzen und blauen Filzstiften verschmiert, voller Graffiti und Zeichnungen, dass ich am liebsten spontan einen Eimer schwarzer Farbe genommen und drübergetüncht hätte! Ach Mensch, warum machen die Kinder so etwas!
Wir nahmen dann in den kleinen Stühlchen Platz und stellten fest, dass unsere zarten Hinterteile inzwischen wohl seit damals etwas an Volumen gewonnen hatten, und lauschten einer kleinen Klaviervorführung einer Schülerin, die ad hoc dazu gebeten wurde, und hernach fingen alle an, Swing Low Sweet Chariot zu singen. Meine ebenso wenig musikalisch begabte Nachbarin und ich schauten uns mit geschlossenem Mund an, während alle anderen Münder sich eifrig bewegten, bis auch wir irgendwann leise mitbrummelten. Es klang trotzdem wirklich schön und bewegend, wie einige, die vielleicht Musik als Leistungskurs gehabt hatten, so schön mehrstimmig mitsangen, und am Schluss ließ sich eine zu einem wirklich gospelmäßigen Ausklang hinreißen. Nun waren wir emotional bis ins Herz aufgeweicht, und unsere Kindheit hatte uns wieder voll im Griff.
Darum wagte ich auch beim Gang auf den Pausenhof zum Ende der Führung, die Biolehrerin anzusprechen auf etwas, das mir lange schlaflose Nächte bereitet hat. Ich habe immer Alpträume von dieser Schule gehabt, dass ich mich im Schulhaus hoffnungslos verlaufe, in Zeitnot, wie auch immer noch im wirklichen Leben - und insbesondere träumte ich von dem Weg in die Fahrradgarage, verbunden mit unnennbarem Grauen. Ich glaube, das kam davon, weil ich damals, als im ersten Jahr nach Bau der Schule die Außenbrüstung über dem Hof direkt zu Ende der großen Pause abbrach und wie durch ein Wunder niemand außer dem Hausmeister (und dieser nur minimal) verletzt wurde, pflichtschuldig, als die Schülerinnen erst mal sicherheitshalber nach Hause geschickt wurden, mein Fahrrad aus eben dieser Tiefgarage holte, anstatt zu Fuß nach Hause zu gehen – und hierbei hatte ich große Angst, dass auch an dieser Stelle etwas von den Betonverkleidungen über mir zusammenstürzen könnte. Das hat mich all die Jahre so verfolgt, dass ich regelmäßig von dem Gang in die Fahrradgarage geträumt hatte, aber so, dass die Fahrradgarage in meinen Träumen von jedem Raum des Gebäudes aus, auch z.B. vom 2. Stock aus erreichbar war, in jedem Traum anders. Alle Wege führten in die Tiefgarage. Ich wusste zwar noch, dass sie irgendwo von unten ausging, aber in meinen Träumen hatte sich die Realität schon so verschoben, dass ich überzeugt war, durch einen kleinen Gang in der Turnhalle dort hineinzumüssen. Und auf der Treppe konnte man kein Licht anmachen, und die letzte Stufe vor dem flachen Boden konnte man im Dunkel nicht erkennen, und die Tiefgarage war fürchterlich.
Die Biolehrerin war so lieb, dass sie mich total ernst nahm. Sie ging mit mir den Weg zur Fahrradgarage, die sich in echt, wie ich nun sehen konnte, neben der Turnhalle befindet, und nicht in der Turnhalle (die Turnhalle hat sie mir auch gezeigt, um mir das zu beweisen – sie war so riesig, wie ich sie in Erinnerung hatte, und für die am Vortag stattgefundene Abifeier noch immer bestuhlt, ein eindrucksvoller Einblick, vor allem im Halbdunkel). Die Treppe nach unten besteht tatsächlich aus recht dunklem Parkett, das Licht war eher spärlich, man konnte die letzte Stufe im Dunkeln nur erahnen. Und dann schloss die Lehrerin mir die schwere Metalltüre zur Fahrradgarage auf, machte gnädigerweise das Licht dort drinnen für mich an und bot mir ihren Arm an, um durchzugehen. Das nahm ich auch an, obwohl ich mir irgendwie blöd dabei vorkam, aber dann spürte ich, wie mein Herz anfing, wie wild zu bumpern und war froh über die Hilfestellung. Diese Fahrradgarage hat wirklich etwas sehr Beklemmendes, mit finsteren Ecken und einer extrem niedrigen Decke. Als die Lehrerin die Tür ins Freie auf der anderen Seite aufsperrte, wo eine Treppe mit einer schmalen Schieberampe rechts und links hochführt, war ich unglaublich froh, dem entronnen zu sein.
Doch gingen wir auch denselben Weg wieder zurück, ich diesmal mutiger und nicht am Arm der Lehrerin. Ich hoffe sehr, diese Tour hat mich nun von diesem Traum befreit. Was die Lehrerin sich wohl gedacht hat – ich war ihr jedenfalls sehr dankbar und sagte es ihr auch.
Danach holten wir alle unsere Schirme und jeder verschwand in eine andere Richtung. Meine Freundin, meine ehemalige Sitznachbarin und ich wanderten zur Tiefgarage und fuhren mit dem Auto zum geplanten Abendziel. Das ausgesuchte Lokal erwies sich als ein Teil der alten Befestigungsanlagen der Stadt, bei gerade mal strahlendem Sonnenschein tappten wir durch gewundene finstere Gewölbe mit Verliescharakter, um dann schließlich in einem Saal anzukommen, der überall, wo es hell war, bereits voll besetzt war, nur der besonders schlecht beleuchtete hintere Bereich bot noch einen freien Tisch. Nun, den mussten wir dann wohl nehmen.
Die Fotografien wurden verteilt, und wir wurden gebeten, für die Blumensträuße für die Organisatorinnen zu spenden. Da es wirklich eine reife Leistung ist, so viele Leute unter einen Hut zu bekommen, gaben wir alle gerne. Die ersten Getränke kamen, und ich fühlte mich bemüßigt, mal endlich eine Zigarette rauchen zu gehen. Wir standen da zu dritt an einem Stehtisch an der Sonne im Freien – kann doch nicht sein, dass die anderen alle nicht rauchen? Oder doch?
Innen hallte das Gewölbe so heftig wider, dass Unterhaltungen für mich und für viele andere sehr anstrengend waren – es ist so schwer sich zu konzentrieren, wenn man den schräg gegenüber befindlichen Mund sich zwar bewegen sieht, aber nichts hört und versteht. Trotzdem gelang es zwischendurch, sich zu unterhalten oder herauszufinden, wer wer sei. Unsere engeren Bekannten kamen alle nicht, von meiner Nachbarin war mir auch im Laufe der Schulzeit nicht so viel im Kopf geblieben. Nicht nur, dass ich ihre Terrassenliebe nicht teilen konnte, wusste ich auch nicht einmal mehr, dass sie als Leistungskurs (außer mit mir Biochemie) auch Mathematik hatte. Sie ist nach wie vor eine Einzelgängerin, ungebunden, anscheinend nach wie vor männerfrei lebend, kinderlos, beruflich sehr engagiert, ein sehr kluger Kopf (Informatikerin), um ihr Aussehen nicht so sehr bekümmert (als eine der wenigen mit völlig unkaschierten völlig ergrauten Haaren angetreten, auch letztes Mal schon) und hat immer noch einen feinen und ungewöhnlichen Humor und eine erstaunliche Stimme.
Ich unterhielt mich im Auftrag meiner Mutter mit einer in meiner Heimatstadt im Lokalblatt häufig erwähnten Künstlerin, die meiner Mutter schon immer sehr am Herzen lag, da sie nur vier Tage älter ist als ich, und unsere Mütter zusammen auf der Entbindungsstation lagen. Allerdings hatte ich die Tochter nur ein einziges Mal besucht und dort an einem Malkurs der Mutter teilgenommen (Hinterglasmalerei, das Bild habe ich noch – ich war wohl vier oder fünf, es ist nicht wirklich vorzeigbar). Und in der Schule hatte ich niemals mit diesem Mädchen zu tun. Nun, sowohl beim letzten als auch bei diesem Klassentreffen habe ich nun relativ viel mit ihr geredet, nicht nur, um meiner Mutter die neuesten Nachrichten zu hinterbringen, sondern auch, weil sie sehr patent und angenehm ist. Ihre Mutter ist allerdings schon vor zehn Jahren verstorben.
Mein ehemaliger Biochemielehrer war auch anwesend, er sprach mich an und sagte, das letzte Mal habe er sich nicht getraut, mich zu fragen, was ich so mache, aber er müsse immer an mich denken, wenn er in der Nähe meines Elternhauses vorbeikomme (das muss häufig sein, denn er wohnt nicht weit entfernt). Ich erzählte es ihm und im Laufe des Abends kam er an unseren Tisch und gab Anekdoten aus seiner eigenen Schulzeit zum Besten – das war damals im Krieg.
Ich habe es leider versäumt, ihm etwas besonders Nettes zu sagen, und habe in der Nacht mit mir gehadert, warum ich das nicht getan habe. Ich weiß, dass ich definitiv eine seiner Lieblingsschülerinnen gewesen sein muss, als besonders begeistert in seinem sehr kleinen Leistungskurs Biochemie. Ich hätte ihm schon sagen können, wie ich meiner Freundin, die ihn nicht so gut kannte (anderer Leistungskurs), berichtet hatte, dass mir der Unterricht bei ihm immer Freude bereitet hatte und sein Fach das einzige Fach war, in dem ich wirklich jedes Wort aufgesogen und verinnerlicht habe. Dass ich das meiste, was ich in meinem Leben aktiv gelernt habe, bei ihm gelernt habe. Aber das tat ich nicht.
Ich hätte ihm auch sagen können, dass der Ausflug in unser altes Kollegstufengebäude (genannt übrigens „Die Arche“, weil es schiffsförmig aus Glas gebaut war) mir nichts gebracht hatte, da wir nur in die Bibliothek geschleust wurden und die Klassenzimmer nicht ansahen. Und dass ich nur ein einziges Mal in dieser Bibliothek gewesen war und deshalb mich fragte, was ich da solle. Aber dann ist mir eingefallen – gerade dieses eine Mal war ich dort, weil er mich geschickt hatte, mir ein Buch auszuleihen – Die Doppelhelix (von Watson und Crick). Und dieses Buch über die spannende Erforschung der DNS hatte mich wirklich fasziniert, ich habe später dieses Buch auch für meine Söhne gekauft. Das war eigentlich der Grundstock einer großen Sammlung ähnlicher Bücher. Das hätte ich ihm doch sagen können. Hab ich aber nicht. Ich hoffe, ich habe noch Gelegenheit, ihm das auf einem weiteren Klassentreffen mitzuteilen. Ich empfinde es irgendwie als dringlich, und bin traurig über mein Versäumnis. Ich glaube, das war noch die Nachwirkung von der wieder erlebten Kindlichkeit und Schulhausatmosphäre.
Alles in allem war festzustellen, dass die Schülerinnen von damals sich meist etwas in die Breite entwickelt hatten, aber nicht sehr, es gab nur sehr wenige, die wirklich dünn sind, und nur zwei, die dick waren. Die meisten hatten sich relativ gut gehalten, bis auf einige, die vorher schon irgendwie altmütterlich aussahen.
Eine andere interessante Beobachtung des Abends war das Schuhwerk der Eingeladenen. Von Stöckelschuhen, flotten winzigen Riemchensandalen, strassbesetzten Pumps bis zu bodenständigen Halbschuhen und flachem sportlichen Outfit war alles vertreten außer Birkenstock. Und gekleidet waren alle individualistisch und nett, jung erhalten, interessant – einige wenige herausragend gutaussehende Frauen, einige wenige recht spießig, das Gros interessant, liebenswert, so, dass man sie näher kennenlernen möchte. Komisch – warum damals nicht? Und uns allen gemein ist: wir können uns gut ausdrücken und haben einen soliden Background. Wie auch immer sich das in den jeweiligen Leben entwickelt hat, diese Basis bleibt und ist nicht zu leugnen. Zucht und Ordnung. Unserem alten Direktor sei Dank. Posthum. Jede von uns ist irgendwie etwas Besonderes durch unseren guten „Stall“.
Der Abend ging dann langsam dem Ende zu, unser Tisch war noch einer der wenigen, an denen jemand saß. Inzwischen ging es um das Thema Demenz – tja, leider muss man sich langsam mit so etwas befassen, es wurden wertvolle Tipps gegeben. Und dann zahlten wir und wollten zusammen aufbrechen. Meine Freundin und ich blieben noch an einem letzten besetzten Tisch für ca. zwei Minuten hängen, unsere Dritte im Bund sagte kurz, wir machen vielleicht besser jetzt nichts aus und wir beiden sagten lachend, naja, das hat irgendwie schon das letzte Mal nicht geklappt! Daraufhin schlenderte sie an uns vorbei nach außen. Wir kamen gleich nach, aber sie war entschwunden, ohne sich zu verabschieden. Wir sahen sie später auf einem wohl völlig falschen Weg flott an der Donau entlang marschieren, Schirm schwingend, selbstbewusst, frei und Lonesome-Wolf-mäßig. Auf Zuruf reagierte sie nicht.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.