Sie erwachte aus tiefem Schlaf und hob beide Arme in einer willkommenden Geste in die Luft, als wolle sie die ganze Welt umarmen. Die beleuchtete Digitaluhr zeigte 3:58 Uhr. Alles war so wunderbar! Heute war der erste Tag, an dem keiner der Bauarbeiter mehr nachkommen musste, um das letzte Fitzelchen Mauer auszubessern, mit Mörtel zu verschließen, mit Farbe zu übertünchen.
Endlich waren alle Arbeiten abgeschlossen! Sie hatten eine Durststrecke von sieben langen handwerkergefüllten Wochen überstehen müssen, in denen ihre heimische Höhle, ihr Sakrosanktum, nicht ihnen gehört hatte. Das Unterste war zuoberst gedreht worden, Wände waren niedergerissen worden, neue gebaut, alles war verändert worden, neue Fenster wurden eingesetzt, Fußböden verlegt. Alle ihre Schätze waren von hier nach dort und wieder zurück ausgelagert und verschoben worden. Sie waren auch jetzt noch nicht wieder alle auf ihre Plätze zurückgewandert, und die Putzbrigade hatte zwar gewütet, aber noch musste wieder eingeordnet und abgestaubt werden. Aber endlich, endlich waren alle abgezogen! Sie hatten das Haus wieder für sich allein.
Diese Woche würde niemand sie stören. Sie könnte im Evaskostüm durch Haus und Garten streifen oder auch angezogen, es würde niemand sie beobachten. Sie könnte schlafen, so lange sie wollte, die Arbeiter würden nicht gegen sieben Uhr vor der Tür stehen. Niemand würde durch sämtliche Zimmer trampeln mit Mörtel an den Schuhen und auch ihr Lebensgefährte würde diese Woche nicht da sein. Er wollte sich eine Auszeit gönnen und war ganz allein, mit Zelt und handyfastend - also ohne sein Smartphone - zum Wandern auf dem Großen Ahornboden unterwegs.
Diese eine Woche würden sie schon schaffen, mal nicht zu kommunizieren, denn die Bauarbeitermisere hatte sie alle beide sehr zermürbt. Ständiges Vorausdenken, Umdenken, Problemlösen, alert und präsent sein, neuen Umständen sich anpassend anstatt miteinander zu reden. Und der Lärm, der Dreck, der Lärm und der Dreck… Der Umbau war vorgegangen, das Miteinander hatte sich in ein Nebeneinander und Durcheinander aufgelöst. Das sollte wieder in Ordnung gebracht werden durch diese eine Woche ohne Kontakt. Absence makes the heart grow fonder, heißt es ja.
Wie sie sich nun freute, das Haus endlich als Herrscherin über Gut und Habe in Besitz zu nehmen. Sich an den neuen frischen Farben zu freuen, die fantastisch gewordenen neuen Böden mit den Barfüßen zu küssen, den Geruch des frischen Putzes durch weit geöffnete Fenster zu verscheuchen, gegen Geschnak und Spinnenandrang bestens gewappnet durch die neuen Insektenschutzfenster. Es war alles einfach nur noch herrlich, jetzt konnte sie endlich sie selbst in diesem Haus sein, wo alles nun genau ihrer beiden Vorstellungen entsprach. Sie, die neuen Hausherren, hatten dem Haus gezeigt, wer hier bestimmt! Die alten missgünstigen Geister, die zuvor in jeder muffigen, spinnwebverhangenen Ecke des geerbten, museumsartig eingerichteten Gemäuers gelauert hatten, waren ausgetrieben.
Sie räkelte sich trotz der frühen Uhrzeit wohlig und voller Glückseligkeitsempfinden im Bett, streckte sich richtig lang und drehte sich dann schwungvoll auf die linke Seite, indem sie das rechte Bein im Gegensatz zu ihren sonstigen, eher vorsichtigen Bewegungen mit frischgewonnener großer Energie entschlossen nach links klappte und ihren behäbigen Körper gleichzeitig energisch zur Seite schleuderte. Yeah! Freiheit!
Durch diese Bewegung stürzte sie der Länge lang senkrecht auf den Parkettboden, direkt neben dem neuen blauen Teppich. Ein wahnsinniger Schmerz durchfuhr sie. So grässlich war der Schmerz, dass ihr sofort klar war, sie würde nie wieder aufstehen. Sie hatte schon viele Schmerzvarianten erlebt, aber dies hier schlug alles um Längen. Sie atmete ruckartig und lautstark ein, die Luft zischte durch ihren Rachen, und dann brach ein Gebrüll und Geheul aus ihr, das sie überhaupt nicht im Griff hatte. Es verwandelte sich mit der Zeit in Schluchzen und Wimmern. Das Fenster war gekippt, die Nachbarn hätten es auf jeden Fall hören müssen. Aber die Nachbarn der beiden angrenzenden Häuser waren weit über 90jährig vor kurzem verstorben.
Ihre Hüfte war gebrochen, so wie es sich anfühlte, komplett zersplittert, und das zog sich durch das Becken hindurch, und auch zwischen den Beinen schien sich alles verschoben zu haben. Die linke Schulter war ebenfalls zertrümmert und schmerzte höllisch. Der rechte Arm lag da leblos, sie konnte weder die Hand bewegen, noch den ganzen Arm. Was da passiert war, war ihr nicht klar, aber es war so. Sie konnte den Kopf ein bisschen vor und zurück bewegen und das rechte Bein verschieben, aber das war es dann schon.
Ihr wurde langsam bewusst, in welcher katastrophalen Situation sie sich befand. Ihr Nachthemd war hochgerutscht und bedeckte nur ihren Oberkörper. Sie trug keine Unterwäsche. Nach der Hitzewelle, die sie direkt nach ihrem Absturz durchfahren hatte und dem dadurch ausgelösten Schweißausbruch fing sie nun an zu frösteln. Der wundervolle blaue Teppich war strategisch so verlegt, dass er den schönen Parkettboden frei sehen ließ und selbst aber nicht verrutschen konnte. Sie brauchte gar nicht zu versuchen, ihn sich als Decke mit dem beweglichen Bein zu angeln. Vom Bett hing keinerlei wärmendes Element herab, sie konnte auch das Bein nicht so abwinkeln, um dort oben hinaufzutasten und etwas herunterzuziehen. Das Bett war extrahoch, für ältere Menschen gebaut, die beim Aufstehen nicht mehr hochkommen und deshalb besser von oben nach unten hinunterrutschen, als sich abstützen zu müssen, um sich zu erheben.
Ihr Handy war auch nicht in Reichweite, denn sie hatte beschlossen, sich nachts nicht mehr seiner Strahlung auszusetzen. Deshalb lag es in der Küche bereit, um ihr die Zeit zu vertreiben, während der der Kaffee am Morgen durchlaufen würde. Ohnehin würde der Mann, der es wert ist, sich eine Woche lang nicht melden. Für was brauchte man da schon noch ein Handy! Das bereute sie nun sehr, denn wenn sie dem sonst auf dem Nachttisch liegenden Gerät „Okay Google“ befohlen hätte, hätte es für sie zum Beispiel den Notarzt anrufen können. Sie probierte es, so laut zu schreien, dass das Gerät in der Küche sie wahrnahm, aber obwohl sie es unendlich oft versuchte, erfolgte keinerlei Reaktion von dort. Die Küche lag nun mal am entgegengesetzten Ende des Hauses.
Sie fand sich in einer schrecklichen Situation wieder. Auch fiel ihr im ersten Morgenlicht später auf, als sie zitternd und verlangend auf den schönen blauen Teppich starrte und versuchte, ihn per Telekinese in ihre Richtung zu bewegen (was natürlich misslang), dass der Teppich von einer roten Blutlache besudelt war, die irgendwoher aus ihr ausgetreten war und nun langsam eintrocknete. Sie stellte schließlich fest, dass die Lache vermutlich von oben kam und bemerkte dadurch, dass offenbar ihr Kopf, der auch dumpf pochte, ebenfalls Schaden genommen hatte. Ihr Ohr fing an zu jucken, und durch Reiben am Boden mit dem gesamten Kopf bemerkte sie, dass es auf dem Boden hin- und herglitschte. Sie meinte ein Gefühl von Flüssigkeit im Gehörgang zu verspüren.
Noch schlimmere Probleme stellten sich bald ein, als die Blase und der Darm sich der allgemeinen Kalamität anschlossen. Insbesondere der unbedeckte Bauch fror erbärmlich und ihre Blase meldete bereits, dass sie zur Rache mal wieder eine Zystitis plante. Der Bauch rumpelte und rumorte, und die Kälte beschwor eine Durchfallattacke herauf. Es war zum Mäusemelken.
Sie schlief vor Verzweiflung vielfach ein und wachte wieder auf. Der linke Arm lag unter der kaputten Hüfte. Sie konnte ihn unmöglich bewegen, auch die Hand war unter dem Oberschenkel eingequetscht. Der rechte Arm funktionierte immer noch nicht. Im Laufe des Tages durchwanderte Licht das Zimmer, sie konnte die herumschwebenden Staubpartikel im Sonnenlicht freudig flittern sehen und ihren Tanz beobachten. Aber so, wie das Licht einfach gleichgültig und berührungslos über ihr weiterwanderte, ohne sie selbst zu finden im Schatten der Bettseite, so blieben auch aufgrund des unglaublichen Schmerzes ihre Bemühungen, sich aus der misslichen Lage irgendwie zu befreien, völlig erfolglos, und sie musste sich weinend eingestehen, dass sie ihre Ausscheidungen nicht länger bei sich behalten konnte und würdelos verunreinigt aufgefunden würde, wenn irgendwann mal jemand käme.
Trotz des ekelerregenden Geruchs, der nun da, wo sie lag, überhandnahm und die wenigen im Haus verbliebenen Fliegen mit Begeisterung erfüllte, die ihre einzigen treuen Besucher waren, hatte sie Hunger. Sie hatte davor eigentlich schon lange keinen Hunger mehr gefühlt, richtig nagenden Hunger, der ein Gewitter in den Eingeweiden veranstaltete, so dass es dort donnerte und brüllte, und der ganze Bauch sich bewegte. Noch schlimmer war am nächsten Tag der Durst. Ihr Mund war bereits ganz ausgedörrt und ihre Stimme ohnehin vom Schreien nach Hilfe völlig zerschlissen. Ihr unterkühlter Körper war vom Blasenkatarrh gebeutelt, der Schmerz beim erfolglosen Urinieren durchfuhr sie in kurzen Intervallen. Es kam höchstens noch ein Tröpfchen, aber es fühlte sich an, als wäre die Blase randvoll gefüllt. Ihr gänsehautbedeckter Körper schüttelte sich haltlos, und am rechten Bein hatte sie nun auch noch neuralgische Schmerzen.
Was sie von ihrem Leib sehen konnte, hatte sich dunkel eingefärbt von einem riesigen, durch den Aufprall ausgelösten Hämatom. Ihre Pobacken klebten verkrustet aneinander. Ihre Haare hingen ihr so über die Augen, dass sie fast nicht mehr hinaussehen konnte. Vermutlich war das nun schwärzlich verfärbte, vor kurzem erst so liebevoll ausgewählte Imperial Blue des Teppichs das letzte, das sie gesehen hatte.
Ihr Lebensgefährte fand sie nach seiner Rückkehr im Haus von Fliegen übersät und bereits stark entstellt. Er war nach den angekündigten sieben Tagen noch eine weitere Woche zu seinem Sohn gefahren, denn er hatte keinerlei Antwort auf seine Nachrichten bekommen, die er bereits während seiner Auszeit an sie geschrieben hatte. Er hatte sie nämlich recht bald vermisst und ihre Abmachung gebrochen, aber als er feststellen musste, dass die Nachrichten nicht durchgingen, war er sehr enttäuscht davon ausgegangen, dass sie ihn nach seiner Ankündigung, eine Woche keinen Kontakt zu wollen, wohl blockiert hatte, wahrscheinlich hatte sie überreagiert wie so oft. Dass ihr Handy mit leerem Akku auf dem Küchentisch lag, wusste er ja nicht. Dann sah er jedoch, dass sie auch in anderen Medien keinerlei Lebenszeichen gepostet hatte, und bekam es doch mit der Angst zu tun.
An diesem Punkt erwachte sie aus ihren wüsten Träumen und bemerkte, dass sie sehr nah am linken Bettrand lag. Sie rutschte auf der Matratze nach rechts, tastete nach ihrem Partner und erinnerte sich, dass er ja gar nicht da war. Also rutschte sie noch ein bisschen weiter in die Mitte. Sie hatte ja genug Platz. Kurz öffnete sie die Augen und blickte auf die Uhr. Es war 3:58 Uhr. Viel zu früh. Sie schlief wieder ein, obwohl die Blase drückte.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.