Wenn Amelia niesen musste, konnte nichts sie davon abhalten. Nichts konnte sie unterbrechen, nichts sie ablenken. Was auch immer sie ausprobierte, um dem Niesen zu entgehen, es war fruchtlos. Sie konnte sich selbst am Gaumen kitzeln oder an drei Glatzköpfe denken. Mit der Zunge versuchen, die Schuhspitze zu berühren oder abwechselnd die Arme gen Himmel recken. Auf einem Bein auf der Stelle hüpfen oder ein Glas Wasser in kleinen Schlucken trinken. „Hixihexi hinterm Hag, nimm das Hixihexi ab“ dreimal ohne Luft zu holen aufsagen. Sich die Ohren zuhalten und ruckartig wieder loslassen. Sich gegen die Kehle, die Stirn oder die Nase schlagen. Die Nase fest zuhalten oder an Kaffeepulver riechen. Alternativ hatte sie es mit Pfefferminz-, Teebaum-, Eukalyptus- und Orangenöl versucht. Sich kaltes Wasser über die Hände laufen lassen. Wasser im Wasserkocher warm machen und sofort die Nase über den Dampf halten. Das war aber gefährlich und wirkte trotzdem nicht.
Ein einziges Mal hatte sie durch die Heftigkeit der Niesexplosion einen brühheißen Kaffee über ihre Hose gegossen, und das tat so höllisch weh, dass die Nieserei tatsächlich aufhörte. Aber als sinnvolle Rettungsmaßnahme für die weitere Zukunft musste man dieses Erlebnis sofort verwerfen. Sie bat gerne andere Leute, sie zu erschrecken, aber erschrak natürlich nicht, wenn diese sie dann plötzlich mit „Buh“ anschrien. Ein anderes Mal hatte sie aufgehört zu niesen, weil ihr beim ersten Niesen auffiel, dass sie ihr Handy verloren hatte. Auch dies war jedoch keine willentlich sinnvoll reproduzierbare Situation.
Ärzte hatten sie mit Cortisonspray und anderen unwirksamen Mittelchen versorgt, die nur bewirkten, dass die Nasenschleimhaut wund wurde und noch öfter zu Niesanfällen antrat.
Sie hatte verschiedenste Waschmittel, Shampoos und Duschpflegemittel ausprobiert, einen Luftfilter gekauft und versucht, Staub zu vermeiden. Ein Arzt attestierte ihr jedoch, dass sie vollkommen allergiefrei sei. Außer auf negative Energie ihrer Mitmenschen, das wusste sie, aber das ließ sich nicht mit einem landläufigen Allergietest verifizieren.
Sie hatte sich oftmals bemüht, die Augen offenzulassen, wenn sie beim Autofahren niesen musste, es gelang aber nicht, so dass das Sicherste war, sich aus der Verkehrssituation hinauszubegeben. Das ging natürlich auch nicht überall. Eine Hand am Lenkrad, die andere taschentuchbewaffnet an der Nase. Und hoffen, dass alles gut geht.
Ein EEG hatte nichts gebracht. Eine Epilepsie lag nicht vor. Die Ärzte hatten keine sinnvolle Erklärung. Als sie 20 war, war ihre Nasenscheidewand wegen einer Riechstörung operiert worden. Seither hatte sie diese Misere. Täglich. Sie nieste zwischen fünf und 40 Mal, Rekord waren 89mal. Solche Anfälle überkamen sie eventuell sogar mehrfach am Tag. Ausgelöst wurden sie durch Wassertropfen, Erschrecken, Unwillen, Ekel, Gedanken an Dinge, die ihr nicht guttaten, oder – ganz profan und am häufigsten: wenn sie sich verschluckte. Das geschah oft. Und je mehr sie versuchte, sich nicht zu verschlucken, um so öfter geschah dies. Oder sie hatte einfach das Gefühl in der Kehle, da sei eine trockene Stelle. Wenn sie Reis oder Nudeln aß, konnte man den Niesanfall bereits mit einplanen. Hinzu kam dann häufig noch ein unstoppbarer Schluckauf. Auch wenn sie das Haus verließ und in die Sonne blinzelte, setzte sofort der sogenannte photische Niesreflex ein, der auch vielen anderen Leuten nicht unbekannt ist. Sonne ist gleich Niesen. Uraltes Prinzip. Doof.
Wenn sie fror, nieste sie ein einziges Mal. In einigen wenigen Fällen war es bei einem Einzelnieser geblieben in Situationen, wo ihr definitiv nicht kalt war, und sie fragte sich vergeblich, warum wohl, fand aber einfach keine Erklärung.
Die Anfälle arteten oftmals aus. Erst kräuselte sich Stirn und Nase, der Mund geriet in eine weinerliche Position, die Augen vergrößerten sich in offenbar namenlosem Entsetzen, dann erfolgte der erste Ausbruch. Dank ihres guten Lungenvolumens war an ein leises Davonkommen nicht zu denken. Ob zu Hause, auf der Straße, auf einem Vortrag oder im Konzert. Bei den ersten drei Anläufen erntete sie noch wohlmeinende Wünsche zur „Gesundheit“ oder „Schönheit“, danach ging es los mit „Nanana“ und die Frage, ob sie eine Allergie habe, die Pollen flögen ja gerade wieder. Heuschnupfen? Zu kalt, soll ich Ihnen eine Jacke leihen? Und irgendwann hielt sich dann auch das Mitleid in Grenzen, es wurden keine Taschentücher mehr gereicht, sondern die ersten Unmutserklärungen wurden laut wie „Ist ja eine Zumutung!“ „Können Sie das nicht abstellen?“ „Wie oft denn noch?“ und ganz Böse empörten sich mit „Jetzt reicht es aber!“ oder gar „Schnauze jetzt!“
Dennoch konnte sie nichts gegen ihre Niesattacke tun. Es ging so lange wie es ging, und wenn sie versuchte, die Sache abzukürzen, dauerte es eher noch viel länger. Im Idealfall hatte sie noch ein zerknülltes Taschentuch in der Hosentasche. In etlichen anderen Fällen war die Hose frisch gewaschen und die Taschen leer, die Handtasche ausgemistet und von Nastuchresten befreit. Sie nieste in ihre Hände, Ellbogen, Rockzipfel, Kleiderstoffe, in Feuchttücher, Toilettenpapier und Zewawischundweg, in Geschirrtücher, Bettdecken, Mäntel, in Servietten, Tischtücher, Vorhänge und einmal sogar in einen Teppich, was zwar vom theatralischen Effekt her ein voller Erfolg war, jedoch de facto wenig nützlich.
Nach mehreren Niesern ging die Contenance merklich flöten, sie konnte sich nicht mehr beherrschen, sondern wurde beherrscht. Das Niesen zeigte ihr, wer der Chef in ihrem Körper war. Die Nase lief ohne Punkt und Komma. Es bedrängte und bestürmte sie, rüttelte und schüttelte, sie bebte und lärmte, schwoll an, zerspritzte sich und schwoll ab, es krachte und knallte, schnackelte und schlürfte, es schnalzte und dröhnte, es ächzte und schrie aus ihr, brüllte wie ein wütender Stier haaaaaaaaaaaatschöööööööööööööööö, galoppierte an und zerstäubte in einem harmlosen pitschü, nur um im nächsten Ansatz wieder wie eine Stampede einer wildgewordenen Herde oder anders betrachtet wie tosender Wellengang über sie hinwegzufluten. Sie musste sich ergeben, in die Knie zwingen lassen, es rollte alles niederwalzend über sie hinweg, sie musste hilflos zusehen und zufühlen, sich beuteln und gepeinigt überwältigen lassen, ohne eingreifen zu können. Ihre Willenskraft wurde vollständig ausgehebelt, sie war nur noch ein Fähnchen im Sturmwind ihrer geballten Nasenkraft, die sie so am Wickel hatte, dass die Tränen in Strömen flossen und das Nasensekret sich in grässliche Bahnen ergoss wie ein reißender Fluss.
Die Fluten schwemmten sie von ihrem Stuhl, so dass sie rittlings durch das Zimmer getrieben wurde, das sich in eine abschüssige Rampe verwandelt hatte, so dass sie Rücken voraus durch den Flur getragen wurde, ins Schlafzimmer schlidderte, durch das ganze Zimmer quer über das Bett getrieben wurde und zum offenen Fenster in den Hof hinausschwappte, angetrieben von weiteren hilflos erlebten, vehementen Niesern im Sekundentakt, die die Evakuierung ruckartig beschleunigten. Verzweifelt klammerte sie sich an einen Eibenbaum, der ihr gerade noch Halt gab, bis die letzten Wellen verebbten, so dass sie es schließlich schaffte, einen Nieser zu unterdrücken.
Und nun begann die Hoffnung. Wenn sie auch den zweiten und dritten Nieser nicht stattfinden lassen konnte, so hätte sie gewonnen! Dies konnte jedoch auch ein trügerischer Zwischenstopp sein, auf den weitere deftige Niesausbrüche folgen konnten, die nun auch noch die Blase beanspruchten, die dieser Urgewalt nicht mehr standhalten konnte und das Leid somit noch vermehrte, während sich die Gewässermenge vergrößerte, auf der sie durch die Gegend geschleudert wurde wie eine unbemannte Jolle im Sturm.
Wenn noch weitere Naturgewalt sich ihrer bemächtigte, konnte sie nur die große Fichte im Garten drei Grundstücke weiter zurückhalten, sofern sie es schaffte, auf diese zuzusteuern, ansonsten war nur der nächste Funkmast in etwa 600 m Entfernung eine Möglichkeit, der Misere Einhalt zu gebieten oder die Einfriedung der Jahrhundertbaustelle an der Donaulände. Dort verebbte dann langsam, langsam die vom Nasenorkan angetriebene Flut, und es gelang Amelia, ihren Naseninhalt in herumliegende Plastiktüten, Zeitungspapiere oder wenigstens achtlos weggeworfene Zigarettenschachteln zu entleeren. Landete Amelia im Park, konnte sie auf Hundekottüten aus dem Spender hoffen.
Nun machte sie sich langsam auf den Rückweg und versuchte auf dem langen Heimweg die schleimbedeckten Hände im Wind trocknen zu lassen, danach die schwarzen Maskarabahnen unter den Augen anzugehen, wobei sie hoffte, diese halbwegs dezent verwischen zu können, so dass sie nicht wie Alice Cooper in seinen wildesten Zeiten aussah. Die durch die Explosionen herumgeschleuderten Haare mussten wieder in Form gebracht werden, denn sonst standen sie wie bei einem Mopp coronaförmig in alle Richtungen. Die Lesebrille, die normalerweise als Haarreif herhalten musste, war üblicherweise unterwegs verloren gegangen, was erklärte, warum Amelia bei jedem Drogeriebesuch wieder einen neuen Dreierpack Billigbrillen kaufte. Somit half nur Andrücken und Langziehen der Haarpracht. Am schwierigsten war der Feuchtzustand der Hose zu verbergen, aber wenn man schwarz anzog, was sie sich mit der Zeit angewöhnt hatte, war dieser nicht so augenscheinlich. Für das Tragen von Inkontinenzwindeln war sie noch immer zu jung, fand Amelia, und musste sich halt mit ihren Anfällen abfinden.
Katastrophal war es natürlich, wenn sie auf diesem Heimkehrweg jemandem begegnete. Rasch auf die andere Straßenseite gewechselt und eilig davongestiefelt half leider nicht immer. Manchmal musste man sich ärgerlichem Smalltalk ergeben, aus dem ein weiterer Niesanfall so gut heraushelfen könnte, aber leider niemals dann eintraf, wenn man ihn brauchte.
Diesen Zustand konnte Amelia schließlich nicht mehr ertragen. Sie traf eine sehr schwerwiegende Entscheidung, die jedoch ihr Leben unendlich erträglicher machte. Sie ließ sich die Nase abnehmen. So wie ihr Papa früher in ihr Gesicht gegriffen hatte und daraufhin den Daumen zwischen den geballten Fingern der Faust herausspitzen ließ und sagte: „Kuck mal, du hast keine Nase mehr! Die hab ich jetzt!“ Nur dass die Nase nicht wieder in ihr Gesicht zurückkehrte wie beim Zauberkunststück ihres Papas. Künftig klaffte an dieser Stelle eine dunkle Vertiefung.
Sie hatte sich jedoch in weiser Voraussicht bereits eine Prothese bestellt, die den Makel unauffällig abdeckte. Jedoch vergrößerte Amelia mit der Zeit ihr Sammelsurium an Kunstnasen aller Tailleur, so dass sie mal hakenbenast, mal stups- oder opsinasig daherkam, mal mit Meerschweinchenramsnase, mal mit adeligem römischem oder langnasigem gradrückigem Griechenprofil und gelegentlich sogar als Michael Jackson. Es bereitete ihr viel Freude, ihre Umwelt mit Muranoglasmosaiknasen in Millefiorioptik zu überraschen oder auch im Marienkäferlook, und am Pride Day in Regenbogenfarben. Ihr Gesichts-Outfit am Red-Nose-Day zu erraten bedarf nicht besonders viel Vorstellungskraft. Sie hatte plissierte Papierkunstwerke aus einem alten Buch in antiken Lettern, und mehrere Modelle, die künstlerisch aus Nespressokapseln geformt waren. Sie trug ein Pfauenfederexemplar mit großem Stolz, und eines mit einem das halbe Gesicht verschleiernden Trauerflor mit schwarzen Perlen, natürlich zu entsprechenden Anlässen.
Im Laufe weniger Monate hatte sie eine ganz neue Mode kreiert und es dauerte nicht lange, da wurden ihre extravaganten Looks auf Instagram und TikTok tausendfach verbreitet. Ihre Follower begannen ihr nachzueifern, und der neue Trend spülte Tausenden von Schönheitschirurgen Schotter, Kies und Kröten in ihr Säckel, so dass sie ihr kostenlos den Rest ihres Luxusbodies verschönerten und Amelia zum lebenden Gesamtkunstwerk wurde, von wundbar zu wunderbar.
Amelia war nun endgültig der Beweis dafür, dass alles Leid doch letztendlich zu irgendetwas gut ist – und wenn es, wie in diesem Fall auch nur den anderen dazu dient, reich zu werden. Sie wurde nun nämlich gerne als Aushängeschild der Esoterikszene auf Titelblättern einschlägiger Magazine abgedruckt oder in KI-erstellten E-Books als Seitenhintergrund verwendet. Leider hatte Amelia es versäumt, sich rechtzeitig Urheberrechte an ihren Kreationen zu sichern und konnte so ungehindert überall abgebildet werden - die neue Frida Kahlo sozusagen. Es gab sie als Halstuch, Tasse, Serviette, Taschenbuch, Regenschirm, Hoodie, Blumentopf und Tischtuch.
Diejenigen, die ihr immer wohlmeinend „Schönheit“ beim dritten Nieser zugerufen hatten, hatten so jedenfalls den Anstoß gegeben, dass Amelia deutlich mehr aus sich machte, als sich jemals abgezeichnet hatte in ihrer langen Leidenszeit von fast vierzig Jahren täglicher Flutwellen. Sie bekam im übrigen nie wieder Niesanfälle. Ihre Einzelnieser noss sie voller Wonne, und manchmal wünschte sie sich sogar, noch ein zweites Mal schwungvoll und herzhaft niesen zu können. Doch das war ihr nicht mehr vergönnt. Wie sie ihre Nieseskapaden nicht hatte stoppen können, so gelang es ihr auch nicht, einen Einzelnieser zu verdoppeln. Aber da der Nasenersatz durch die große Gesichtsöffnung, durch die die Lunge sich ungebremst nach außen entleeren konnte, von hinten einen heftigen Schub erfuhr, der in seiner Effizienz und Wuchte einem Dyson-Airblade-Handtrockner in nichts nachstand, war es ja vielleicht auch besser so.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.