Nanueka hörte zum ersten Mal auf dem neuen alten CD-Player vom Flohmarkt eine Beatles-CD, und auf einmal, nicht nur aufgrund der verbesserten Tonqualität im Vergleich zu ihrer zerkratzten LP unter dem damals mit einer 10-Pfennig-Münze bewehrten Tonarm, erschloss sich ihr ein weiteres der langgehüteten Geheimnisse Freud’scher Verhörer und Verleser ihrer Vergangenheit.
Irgendwie geschah es ihr häufig, dass sie beim Hören, Sprechen und Lesen ganz knapp neben der Wahrheit lag und sich ihr dadurch ein neues Spektrum an Wortfarben und Gedankengängen, oftmals abstrus und kauzig-befremdlich, eröffnete. Das war bei ihr wohl seit dem Tag ihres Namenserhalts durch einen schwerhörigen oder schreibunfähigen Standesbeamten und der fehlenden Beachtung bei der übereilten Abholung so.
Dass man ihr nicht richtig zuhörte, sie nur am Rande wahrnahm oder ganz übersah, und sogar von ihr stammende Texte nur überflog, war scheinbar ganzlebens ein Phänomen, mit dem sie kämpfte. Es geschah ihr, und im Gegenzug geschah sie es den anderen. Ursache und Wirkung hatten sich verquickt und waren unaufdröselbar. Oft wurde sie auch nicht ernst genommen, denn sie drückte sich verschroben und antiquiert aus, als hätte sie sich öfter mit Büchern unterhalten als mit lebendigen Menschen. Und das entsprach auch der Wahrheit - auf ihr Wort Wert legte ja kaum wer, und so hatte sie sich im Umgang mit anderen enttäuscht beschieden, zuzuhören.
Aus dem Gehörten erzeugte ihr Gehirn dann halterlosen Unfug, fügte zum Beispiel beim bewaldeten Sprecher, der gerade über Bytes sprach, Strumpfbänder und hineingesteckte rote Papierrosen hinzu und labte sich an der dadurch entstandenen Eigenästhetik des Resultats, das an Attraktivität keinesfalls einen Dr. Frank N. Furter ausstechen konnte, dafür jedoch einen Lachanfall heraufbeschwor, der sich schnell, aber sicher einen Ausweg durch mühsam aufeinandergepresste Lippen suchte. Why don’t you stay for the night – or maybe a byte?
Sie war geübte Zwischen-den-Zeilen-Leserin und eigenwillige Wortverdreherin. In ihrem wissens-verschlingenden Blaustrumpfland häkelte sie aus dem Informationsgarn Schlaufennorweger und färbte diese selbst mit frisch gepauktem Anglerlatein schön. Manchmal schnitt sie sich dabei selbst den Faden ab, andere Male nur das Wort.
Aus den weniger ergiebigen Eigenkreativierungsphasen fielen Schripsel ab, die sie zusammenkehrte und Jahre später neu verkettete. Eine Girlande drum herum und das Ganze in Gießharz eingebettet - so diente es ihr, der Übersetzerin, als Untersetzer - ein Lieblingsutensil, in dessen Terminus sie meinte, ein sprachliches Pendant für ihre kurzgeratene Gestalt zu erkennen. Das Glas für den einzuschenkenden reinen Wein blieb bei ihr dabei stets mehr als halbvoll, denn sie war genügsam und beherrschte das unbemerkte Einschenken.
Wo andere Leute sich mit Partner zeigten, fand man sie hähnchenhaltend, und jemandem, der sich die Nase gebrochen hatte, wünschte sie leicht abwesend eine gute Beisetzung. Bei seiner sehr negativen Reaktion hierauf ging ihr dann allerdings fast der Arm auf Grundhals.
Nach vielen vielen solcher Häutungsprozesse, bei denen sie jedes Mal durch das nicht saubere Nehmen von Kurven, Ecken und Kanten Abschürfungen davongetragen hatte und unter dem Schorf in einer bleicheren, empfindlicheren Version hervortrat, beschloss sie, endlich mal einen Augenarzt und einen HNO zu besuchen, da ihr entsprechende Gutscheine wie auch jedem anderen in ihrem Viertel in den Briefkasten geworfen worden waren.
Und ein paar Termine später, ausgestattet mit Brille und Hörgerät, erlebte sie zu ihrem grenzenlosen Erstaunen ihr Leben in 3D. Und nun verstand sie auch, dass die Beatles nur von einem “angel sent to me“ gesungen hatten und gar nicht schwer religiös waren, und George Harrison sang in Old Brown Shoe nicht “I‘m making Schokoladen-Cake“, sondern “making sure that I’m not late“. Wenigstens war es für sie noch nicht ganz zu spät, endlich an der Welt der anderen teilzunehmen! Sie beantragte eine Änderung ihrer Unterlagen beim Standesamt und wird in Kürze meine Namensvetterin.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.