Die Mutter war verstorben und schickte aus dem Jenseits die Anweisung, unbedingt auf dem Lipod nachzuschauen. Aber was war das? Nachfragen half nicht, sie war nämlich kaum ein paar Sekunden da, und danach hatte er das Gefühl, sie sei wirklich für immer aus seinem Leben verschwunden. Sie war zwar ursprünglich nicht deutscher Herkunft, aber in ihrer Sprache bedeutete dieses Wort nichts. Das sagten die Landsleute. Sie hatte es entweder erfunden, oder die Übertragung aus dem Jenseits hatte nicht hundertprozentig geklappt.
Alles Googeln half gar nichts. Die Überlegung, ob sie eine anderes Wort damit gemeint haben könnte, führte auch nicht weiter. Das Depot war freilich da, aber da gab es nichts Spektakuläres zu finden, ein Dipol wäre kein besonderer Schatz, Lipide wären höchstens im Körper zu finden gewesen. Haploid hatte mit Genetik zu tun. Es leuchtete nichts ein. Dopli, Lopid, Polid, Ploid, Doilp, Pliod, Dloip? Nichts davon existierte.
Der Sohn suchte und suchte. Er arbeitete sich durch die ganze Wohnung, er wühlte sich durch die Garage, den Speicher, den Garten, das Gewächshaus. Er sah im Bett nach und unter dem Teppich. Er durchforstete alle Schubladen, zog alle Bücher heraus und schaute in sämtliche Behältnisse einschließlich alter Medikamentendosen- und -fläschchen. Er unterzog die Zwischenräume zwischen dem aus Coronazeiten hundertfach gestapelten Toilettenpapier einer Überprüfung und zog an allen Steckdosen, ob dahinter nicht etwa ein Geheimfach läge. Er nahm jeden Artikel im Gefrierschrank in Augenschein und tastete in alle Taschen der verschiedensten Strickjacken und alten Bügelfaltenhosen. Er nahm die Bilder aus den Rahmen und schaute, ob zwischen Passepartout und Rahmen etwas steckte. Er fuhr mit der Hand alle Ritzen im Sofa ab, und im Garten inspizierte er alle leeren Blumentöpfe, wie auch im Zimmer die Zimmerpflanzen in seiner Hand ungewohnte Bewegung erdulden mussten.
Es gab unzählige Schachteln und Schächtelchen. Er guckte in alle Briefumschläge der gesammelten Korrespondenz und begutachtete Dutzende von Fotoalben, in denen auch er als Kleinkind zu sehen war, mit einer glücklichen, liebevollen Mutter und einem fröhlich dreinschauenden Vater. Er entdeckte alte Tagebücher, die in Steno geschrieben waren und ließ sie transkribieren. Daraus erfuhr er nur, wann sie welche Medizin genommen hatte und wie das Wetter damals war. Er hebelte alte, bereits wackelige Bodenfliesen heraus, nur um festzustellen, dass darunter höchstens eine Kellerassel lauerte. Er fand alte Spielsachen aus seinen eigenen Kindertagen auf dem Speicher und erinnerte sich voller Trauer an Dinge, die er längst vergessen hatte. Beim Durchwühlen von Papas Werkzeugkasten erinnerte er sich, wie er mit seinem Vater damals zusammen kleine Möbel gebaut hatte und handwerkliche Tätigkeiten dabei erlernt hatte.
Schließlich gab er auf. Er würde es niemals herausfinden. Seine Geschwister hatten von vorn herein auf eine genauere Untersuchung verzichtet, das war ihnen zu mühsam. Diesen alten Tand wollten sie nur möglichst gewinnbringend loswerden und ansonsten bitte ihre Ruhe haben.
Immerhin hatte er das alte Haus bis in den hintersten Winkel kennengelernt und sich so intensiv mit dem Leben seiner verstorbenen Eltern beschäftigt wie noch niemals zuvor. Vielleicht war das ja der Schatz, den er heimtragen durfte, endlich mit seiner Vergangenheit versöhnt zu sein, in der für ihn kaum in irgendeinem Eck Platz in diesem Haus gewesen war, denn jeder andere war damals wichtiger als er. In jener Zeit waren da Brüder, Omas, Opas und Tanten, die alle unter einem Dach wohnten. Ihm war dabei immer nur eine nebensächliche Rolle zugefallen, er war quasi Statist in seinem Elternhaus. Nun hatte er sich das Haus vom Eingang bis zum hinteren Gartenzaun komplett zu eigen gemacht und konnte sich in Ruhe davon trennen.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.