Mirella Libella hatte sich sehr sehr mühsam nach oben gekämpft. Sie hatte ein schwaches Herz, und „Sport ist Mord“ war einer ihrer tausend Sprüche, mit denen sie davon ablenken wollte, dass sie im Grunde ihres Wesens mehr als nur ein bisschen faul war. Hier in diesem zauberschönen Naturschutzgebiet gab es einen Bereich, in dem Kletterer das Abseilen übten, aber es gab auch eine Möglichkeit, nach oben zu kommen, ohne sich extrem verausgaben zu müssen oder auf irgendwelche bergsteigerischen Erfahrungen zurückzublicken. Auf einem herbstlaubbedeckten Weg, der gewunden und nicht allzu steil nach oben führte nämlich.
Allerdings hatte sie natürlich ungeeignetes Schuhwerk mit den modernen hohen Keilabsätzen mit dicken viereckigen Profilrechtecken, die aussahen wie Zähne eines gefräßigen Tiers. Ihre Stiefel waren weiß und an der Seite mit einem durchsichtigen Beutel überzogen, in dem rosa Wasser mit kleinen türkisenen Seesternen eingefüllt war, das bei jedem Schritt hin- und herschwappte. Sie sah ein, dass sie heute nicht ganz so passend ausstaffiert war, aber sie hatte ja vorher nicht geplant gehabt, hier überhaupt auszusteigen. Tatsächlich hatte sie auch bereits in ihrem bulligen Gefährt mit den megavielen PS, das sie eine Woche als Werbeaktion des ortsansässigen Autobauers zur Probe nutzen durfte, gewisse Probleme gehabt beim Treten der Pedale mit diesem Schuhwerk. Sei’s drum. Heute wollte sie einfach mal etwas anderes machen.
Sie hatte sich über ihre Freundin geärgert, mit der sie ein Apartment teilte, und war planlos ein bisschen ins Blaue gefahren. Einfach wo die Sonne grade schöner drauf schien, dorthin war sie jeweils abgebogen. Und nun war sie also hier und die Tageschallenge, die sie sich heute selbst stellte, war dann also: irgendwie rauf auf den Berg und dann ein paar nette Reels erstellen. Ihre Follower würden begeistert sein.
Somit hatte sie sich also redlich abgemüht, hier hoch zu kommen. Schweiß glitzerte auf ihrer Stirn. Das würde keinen schönen Effekt geben. Also tupfte sie ihn ab und machte ein paar Probeselfies. Leider waren auch ihre Wangen durch die Anstrengung extrem gerötet und die Wimperntusche hatte an einigen Stellen schwarze Striche unter den Augen und auf dem Oberlid hinterlassen, obwohl sie angeblich wasserfest war. Diesen Hersteller würde sie nicht mehr anpreisen, es sei denn, er zahlte ihr endlich dafür. Nur Produktproben waren doch heutzutage richtig kläglich. Die bekam doch jederfrau, ohne irgendwas dafür zu tun. Eigentlich hätte sie die Fotos mit den schwarzen Streifen verwenden können, um der Firma zu schaden und ein schönes Sümmchen rauszuholen. Aber nun waren sie schon gelöscht, und die Bescherung hatte sie bereits gekonnt weggerieben und überschminkt.
So, nun konnte sie sich wieder sehen lassen. Sie näherte sich dem Rand des Felsplateaus, das nicht gesichert war und schaute hinunter. Sofort hatte sie das Gefühl, als zöge es sie magisch hinunter. Immer wenn sie an so einem Rand stand, bekam sie irgendwie Lust, einfach hinunterzuspringen. Einfach so, ohne Vorbereitung, ohne einen Abschiedsgedanken, ohne zu überlegen, was dann wohl passieren würde. Ob sie dann flöge oder wie ein Stein hinunterfiele und zerschmetterte? Ob dann alle traurig wären, allen voran ihre Eltern? Ob alle Welt drüber berichten würde? Ob ihre Follower zu ihrem Grab pilgern würden? Bei dieser Vorstellung musste sie kichern.
Nein, es war eher die Versuchung, tatsächlich einfach zu springen und dann wie mit einem Drachenflieger oder einem Paraglider spiralig und friedlich ihre Kreise zu ziehen. Nur halt ohne so eine Vorrichtung. So wie sie in ihren Träumen immer flog.
Schon als kleines Kind hatte sie im Traum auf jeden Arm ein paar Briefmarken geklebt, und dann konnte sie abheben. Den Kopf nach vorne gestreckt, die Arme einfach ausgebreitet, ohne mit ihnen zu schlagen. Die Füße gerade nach hinten ausgerichtet. Sie flog nicht sehr hoch, aber jedes Mal, wenn ein Hindernis kam, schaffte sie es immer, genau knapp darüber wegzugleiten, ohne es mit dem Bauch zu berühren. Sie konnte sich auch in der Luft umdrehen und auf dem Rücken fliegen, und sie konnte vorwärts und rückwärts fliegen.
Meist flog sie über dunkle Burgen bei Nacht oder in hellen sehr hohen Festsälen, bei denen sie die Deckenlüster umkreiste. Sie konnte das als einzige, und alle anderen mussten staunend unten bleiben. Sie wurde verfolgt und entkam. Eine Gabe, die nur sie hatte. Und ihre wallende Mähne wehte dabei dekorativ im Wind, wie bei einer Fee.
Hier oben stehend fielen ihr also blitzartig diese Träume wieder ein, und beinahe wäre sie noch einen Schritt vor gegangen, um sich einfach dem Wind zu überlassen, aber dann setzte die Vernunft wieder ein und sie sprang unwillkürlich zurück und atmete heftig. Auf was für Ideen sie kam! Natürlich würde sie das nicht überleben! Mirella, Mirella, was ist denn los mit dir!
Aber jetzt ein paar stylische Selfies und Kurzvideos. Die Landschaft war so unglaublich! Sie setzte ihr schönstes Lächeln auf und lichtete sich zigfach ab. Sie bauschte ihr Haar auf, nahm ein paar neckische Posen ein, drehte sich mit dem Rücken zum Abgrund und filmte alles um sich herum. Für sie als Stadtkind war diese Gegend so außergewöhnlich wie ein ferner Planet. Insbesondere, wo es doch in der Stadt keine einzige Erhebung gab, die höher als 25 Meter war!
Es herrschten noch Grünschattierungen vor, aber es waren bereits herbstliche Töne in rostbraun, ockergelb, orange, umbra, siena, und purpurrot dazwischen. Deren Bezeichnungen kannte sie aus dem Farbkasten, mit dem sie im Kunstunterricht gemalt hatte, und sie freute sich, dass ihr die Namen spontan wieder einfielen. Sie würde eines der Reels, auf dem man besonders viele Laubbäume in der Sonne leuchten sah „Umbra umbra täteräää“ nennen. Passend für einen Ausflug durch Bayern. Ihre Follower würden sich totlachen!
Sie tänzelte ein bisschen am Rande des Abgrundes herum, drehte und wendete sich und achtete kurz nicht so genau darauf, wo sie hintrat. Mit irrem Schrecken strauchelte sie in Richtung Abgrund und schrie vor Entsetzen panisch auf. In diesem Moment spürte sie eine starke Hand, die sie am Arm packte und in die Gegenrichtung riss. Dank ihrer professionellen Kameraführung würde sie später diesen Moment genau begutachten können. Das Video war live auf Instagram! Nun drückte sie auf das Handydisplay, um es zu stoppen und ihrem Retter zu danken. Jetzt würde sie berühmt werden, da war sie sicher!
Der Retter war ein bayerischer kräftiger Kerl in ihrem Alter. Er hatte wetterfeste Klettersachen an, derbe Schuhe und offenbar hatte er auch sogar ein Seil dabei, das er, um Mirella festzuhalten, auf die Felsen fallen gelassen hatte. „Des woa knapp!“ lachte er ihr ins Gesicht, und dem musste sie allerdings zustimmen. Sie war fürchterlich erschrocken, denn über das Davonfliegen zu spekulieren und tatsächlich in so eine Situation zu kommen, waren zwei paar Stiefel. Ihr Herz klopfte wie wild und Adrenalin schoss durch ihren Körper, wie sie es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Der fesche Bursch lud sie ein, auf den Schrecken mit ihm auf eine Limo oder einen Kaffee ins Naturfreundehaus mitzukommen. Er täte sie einladen. Vielleicht gäbe es da sogar noch einen Zwetschgendatschi. Mirella Libella war einverstanden. Zusammen folgten sie dem Wanderweg nach unten und als sie merkte, dass das Laub schon ein bisschen sehr rutschig war, hakte sie sich bei ihm unter, wobei ihre rosa bauch- und schulterfreie Bluse sich etwas seltsam so nahe neben seinem orange-schwarzen Fleeceanorak mit diversen Reißverschlüssen ausnahm.
Sie bestellten sich Datschi, und da es auf der Karte tatsächlich eine Limo namens Libella gab, musste natürlich diese bestellt und fotografiert und direkt hochgeladen werden. Mirella war begeistert.
Franz, so hieß der junge Mann ganz simpel und urwüchsig, war ein angenehmer Gesprächspartner. Allerdings hatte er wenig Ahnung von der Welt, wusste nicht einmal, was Instagram sei und hielt ihre Berufsbezeichnung für eine Grippeart. Irgendwie schien er auf dem Mond zu leben. Er war lustig und sehr geradeheraus. Er sagte ihr, dass sie ihm gefiel und fragte sie, ob sie noch zu haben sei. Wo sie denn wohne, und ob sie hierherziehen würde, wenn‘s denn sein sollte?
Hoppla, das ging ihr jetzt aber ein bisschen zu flott! Solche Gedanken wollte sie sich gar nicht machen. Einem Flirt war sie natürlich nicht abgeneigt, aber sich gleich so vereinnahmen lassen wollte sie ja nicht. Sie hatte ja einen Ruf zu verlieren. Wie sollte sie denn sowas rechtfertigen, dass sie sich plötzlich mit so einem Bauernbuben abgab. Der war doch nicht ihr Niveau!
Wie sehr sie ihm auch durch die Blume klar machen wollte, dass er nicht der Richtige sei, er schien es nicht zu begreifen. Er hatte vor langer Zeit einmal von einer Wahrsagerin auf dem Oktoberfest aus der Hand gelesen bekommen, da war er noch ein Kind in Lederhosen und mit Trachtenstrümpfen. Die Alte hatte ihm prophezeit, er würde an einem Berg einer schönen jungen Frau das Leben retten, und die wäre sein Schicksal. Und da war sie! Heute war genau das passiert! Das war die Frau seines Lebens, egal, was sie jetzt sagte. Sie wusste es halt noch nicht, aber er hatte auf diesen Moment schon seit Jahren gewartet. Und genau so war es gekommen.
Er betrachtete sie voller Entzücken und Liebe, und ihre hinreißend süße Stimme füllte seine Ohren wie Zuckerwatte. Von Sekunde zu Sekunde wurde er noch verliebter. Er platzte schon fast vor Testosteron und Oxytocin. Es quoll ihm quasi aus den Augen und aus dem Mund, es lähmte seine Zunge, es ließ ihn dumme Dinge sagen und lauthals und jovial lachen, er machte sich total unmöglich und war einfach unsterblich verknallt. Dieses rosa Häschen mit den riesigen schwarz geschminkten Augen würde seine Frau werden, ob sie wollte oder nicht. Sie war es! Vom Schicksal auf dem Felsplateau serviert.
Mirella Libella wurde dieser junge Mann nun sehr rasch recht ungemütlich. Sie ärgerte sich über seine plumpen Annäherungsversuche. Er wirkte auf sie, als ob er betrunken sei. Er konnte bald nicht mehr normal reden, er lallte schon fast, dabei hatte auch er nur eine Libella getrunken, damit sie von Anfang an alles gemeinsam machten. Ja, das waren seine Worte. Sie hätten sich gefunden, von nun an würden sie für immer zusammenbleiben auf Schritt und Tritt. „Uns bringt koana mehr ausanand!“ Das klang in ihren Ohren wie eine Drohung.
Sie sah sich um, wo der Ausgang sei und überlegte, wie sie verschwinden könne, ohne dass er es bemerkte. Vielleicht auf die Toilette. Aber als sie den Weg zum WC einschlug, kam er mit. Da sie sich nicht vorstellen konnte, dort aus dem Fenster zu steigen (es war viel zu weit oben und zu schmal), musste sie wieder zur Tür hinausgehen. Und da stand er bereits davor und fasste sie unter.
Dort vor der Toilettentür (igitt, wie romantisch!) versuchte er, ihr einen Kuss auf die frisch mit Lipgloss bepinselten Lippen zu drücken, aber sie drehte den Kopf in letzter Sekunde weg und rammte ihr Kinn in sein Schlüsselbein. Das machte ihm jedoch wenig aus. Er lachte und fragte sie, ob sie so eine Wilde sei? Das täte ihn arg freuen, dann wäre es ja noch viel besser mit ihnen beiden.
Sie konnte ihn einfach nicht mehr ertragen! Er verstand einfach nicht! Sie wollte gar nichts von ihm, mit so jemandem konnte sie nichts anfangen. Der passte doch überhaupt nicht zu ihr. Sie war so fein und so gepflegt, er war so grob und so proletenhaft, dazu roch er noch leicht nach zwiebeligem Schweiß. Die Situation war einfach grässlich. Sie gab vor, sie müsse mal schnell zum Auto, was holen. Er sagte: ich komm einfach mal mit. Dem Wirt machte er ein Zeichen, dass er gleich wieder da sein werde, und da dieser ihn gut kannte, war es auch kein Problem, dass beide noch nicht bezahlt hatten.
Franz begleitete Mirella zu ihrem Fahrzeug, das ganz am Ende des Parkplatzes stand. Sie hatte einfach schräg neben dem Eingang geparkt. Rückwärts quer über drei Parkplätze mit der Schnauze in Richtung Ausfahrt. Die Linien auf dem Parkplatz hatten sie halt wie immer wenig gekümmert. Verkehrsregeln waren nicht für sie gemacht. Sie fuhr auch sonst ungeniert rückwärts in Einbahnstraßen, wenn sie von der Querstraße aus dort einen Parkplatz erspäht hatte, bog im Kreisverkehr schon mal nach links ein, wenn sie dort die nächste Ausfahrt hinaussollte und keiner kam, schaltete vom 6. in den 3. Gang und umgekehrt, und hupte grundsätzlich gut aussehende Fahrer neben sich an der Ampel an, nur um ihnen dann lachend ihren hübschen ringbewehrten Mittelfinger mit dem blau-grün lackierten langen Nagel mit Strasssteinchendeko zu zeigen.
Franz nutzte den langen Weg bis zu ihrem Auto, um sie fest zu umarmen und ihr nochmals einen Kuss abnötigen zu wollen, aber sie schaffte es, sich ihm zu entwinden. Da er jedoch ihre Tasche trug, in der das Handy war, konnte sie nicht einfach davonstürmen, obwohl der Autoschlüssel in der Hosentasche ihrer kurzen, modisch zerschlissenen Markenjeans steckte, die kurz über dem Knie bereits aufhörte und ein Vermögen gekostet hätte, wenn sie sie nicht umsonst abgestaubt hätte für das Versprechen, sie auf Instagram zu bewerben.
Was für einen wunderbaren Körper die Kleine hatte! Da hatte ihm das Schicksal wirklich die wundervollste Frau zugeführt, die er jemals getroffen hatte. Ihre Haare waren so blond und wogten so schön bei jedem Schritt wie ein ganzes Weizenfeld. Und wie die dufteten! Er konnte sich gar nicht vorstellen, nach was, es erinnerte ihn an irgendetwas aus seiner Kindheit. Irgendetwas Wundervolles. Vielleicht die dunkelrote Kerze, die seine Mutter in einem Glas mit einem schöngeschwungenen Deckel gehütet hatte und selten mal an Sonntagen angezündet hatte. Diese Kerze hatte seine ganze Kindheit begleitet, denn sie brannte immer nur ganz kurze Zeit. Vielleicht roch die nach Rosen? Oder waren es doch Kirschen oder Johannisbeeren? Er erinnerte sich, aber konnte nicht eindeutig benennen, welche Geruchsassoziationen da sein Gehirn überschwemmten. Jedenfalls lösten sie ein Wohlgefühl aus, das kaum zu beschreiben war.
Endlich beim Auto angekommen, entriss Mirella ihm ihre Handtasche und warf sie auf den Beifahrersitz. Dann stürmte sie um das Auto herum und sprang auf den Fahrersitz. Franz entdeckte, dass ein Zweig von den Bäumen über ihr gefallen war und stellte sich vor das Auto, um den Zweig herunterzunehmen. Das war das letzte, was er in diesem Leben sah. Der hohe und robuste SUV fuhr über ihn hinweg wie ein Bulldozer. Seine Knochen knackten, als seien sie Schalen noch unreifer Mandeln, sein durchtrainierter Körper leistete dem tonnenschweren Gefährt kaum Widerstand. Mirella schlug den Weg nach Hause ein, und die ganze Fahrt hörte sie dröhnende Musik mit jagenden Rhythmen aus der hochpreisigen Surround-Anlage, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte und sie völlig ausgeglichen zu Hause ankam.
Dumm war nur, dass Tausende von Followern das Video von der Rettung an der Felswand gesehen hatten und damit auch den Retter! Wahrscheinlich würde bald die Polizei kommen. Mirella hatte schon ein bisschen Angst, was dann wäre.
Nun wollte sie aber erstmal prüfen, wie viele Likes sie heute abgesahnt hatte. Sie öffnete das Handydisplay über die Gesichtserkennung und stellte fest, dass leider sowohl mobile Daten als auch WLAN ausgeschaltet war, warum auch immer. So ein Mist! Dann hatte ja noch gar niemand das geniale Video gesehen! Reflexartig öffnete sie das Einstellungsmenü, um die beiden Buttons zu aktivieren. Aber halt! Was wäre, wenn…
Mirella setzte sich hin und dachte nach. Das Video war also gar nicht online gegangen. Niemand hatte es gesehen. Niemand wusste, wo sie gewesen war. Niemand hatte die Rettungsaktion gesehen. Niemand hatte Franz gesehen. Das war eine tolle Chance für sie, einfach davonzukommen. Andererseits: jetzt hatte niemand dieses unglaubliche Video gesehen, wo sie fast den Abgrund hinuntergefallen wäre und in letzter Sekunde gerettet wurde. Das Video, das viral gehen würde. Sie wusste, dass das so sein würde. Was sollte sie jetzt bloß tun?
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.