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Mit dem Leben auf Kriegsfuß
17.10.2023 17:21

Nögge wandte sich um. Ihm war, als hätte er etwas gehört. Ein Knirschen, ein Knuspern, ein Knurpsen. Er hätte es nicht genau bezeichnen können. Auf jeden Fall war da irgendetwas. Er fühlte sich nicht so ganz wohl damit, denn eigentlich konnte er gar nichts erkennen. Vielleicht war es hinter den Paneelen. Er wollte es lieber gar nicht so genau wissen.

Auch seine Mutter hatte schon mal nach dem Verschwinden von Vater von seltsamen Vorkommnissen erzählt. In eben diesem Haus. Damals. Vor sehr langer Zeit war das. Da war sie noch ganz gesund. Jedenfalls schien es so. Vielleicht war dem auch nicht so, später hatte es sich ja gezeigt, dass der Episode schon eine Vorgeschichte vorangegangen sein musste, aber ihnen war allen damals nicht bewusst gewesen, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Gelegentlich war sie merkwürdig drauf gewesen und man hatte es auf irgendwelche vereinzelten Vorfälle geschoben. Rückblickend betrachtet war natürlich allen klar, was der Grund war.

Und nun war es womöglich auch bei Nögge so weit. Drum wollte er lieber gar nicht herausfinden, ob da was war oder nicht. Es hatte keinen Sinn, hier noch länger herumzustehen und drüber nachzudenken. Er schlüpfte in seinen schwarzen Mantel und verließ fluchtartig das Haus.

Die Haustür fiel krachend hinter ihm zu. Sofort fiel ihm siedend heiß ein: er hatte vergessen, den Schlüssel mitzunehmen. Der hing seelenruhig drinnen am Schlüsselbrett. Direkt im Windfang. Er rüttelte an der Tür. Er ging am Zwinger vorbei hinters Haus zum Schuppen und holte Werkzeug. Weder mit einem Schraubenzieher, noch mit der Harke konnte er die Tür bezwingen. Er versuchte sie, mit dem Spaten anzuheben, aber auch das blieb erfolglos. Die Hintertür war vergittert, wie auch alle Fenster im Erdgeschoss und 1. Stock. Andere geeignete Werkzeuge waren da leider nicht. Er konnte auch kaum sehen, was er da tat. Die Stromleitung im Eingang war durch die neuen Einbauten, die er vor kurzem gemacht hatte, in Mitleidenschaft gezogen worden, die schwarze Laterne, die vor dem Eingang baumelte, konnte deshalb kein Licht verbreiten.

Was sollte er denn jetzt machen? Nachdenklich schritt er im Schummerlicht des Mondes die kleine Auffahrt entlang, die das Haus zur Allee anschloss. Er wandte sich nach links und ging in Gegenrichtung zum Mond, der gerade genau in die Allee hineinschien. Um diese Uhrzeit war kaum Verkehr. Er konnte unbehelligt quasi mitten auf der Straße laufen. Wenn ein Auto kam, sah er es schon von weitem aufgrund des Lichtscheins, der von ihm ausging. So hatte er Zeit, ein paar Schritte zur Seite zu treten und sich unbehelligt unter den Alleebäumen einzureihen.

Ungleichmäßig schabten seine abgetretenen Absätze auf dem Asphalt. Er schlurfte. Man konnte hören, was man bei besserem Licht auch hätte sehen können: Nögge hinkte. Sein rechtes Bein war viel länger als das andere, zudem war das linke relativ steif. Sein Leben lang war er deswegen gehänselt worden. Dabei war das eigentlich der einzige wirkliche Makel an ihm. Sein Gesicht war sogar sehr angenehm, die Bewegungen seiner Hände anmutig. Er verfügte über einen wachen Geist und unruhige Gedanken, die ständig in Bewegung waren. Nicht sinnlos kreisend, sondern zielgerichtet und ergiebig aus dem Vollen schöpfend.

Leider hatten die Anfeindungen seiner Mitmenschen aufgrund seines körperlichen Gebrechens dieses hohe Gut eines brillanten Verstandes auf finstere Abwege gebracht. Sein Denken bewegte sich nunmehr fast ausschließlich durch dunkle Gefilde, sein Sarkasmus war gefürchtet und seine vorgestellten Endzeitszenarien führten dazu, dass er sich täglich selbst marterte und durch dystopische Fantasien entmutigte.

Er ergötzte sich an erdachten hässlichen Szenen, spielte sie in seinem Kopf in immer neuen Varianten durch und gab sich ganz dem Schmerz des Scheiterns, Leidens und Vernichtetwerdens oder auch des Vernichtens hin, das ihm traurigerweise als eine Art bitteres Tonikum für seine gequälte Seele erschien. Nur Leid brächte den Gedanken zur Höchstform, das war sein Credo, und dadurch hatte er sich nicht gerade viele Freundschaften aufbauen können. Die wenigen Getreuen, die es tatsächlich wagten, hin und wieder ein Schwätzchen mit ihm zu halten, vergrämte er jedes Mal rasch durch seine negativen, beißenden Einwürfe und seine inzwischen nurmehr bedrohlich wirkenden Blicke.

Eigentlich war er nun mehr oder weniger allein auf der Welt. Seine Brüder hatten sich von ihm abgewendet, da mit ihm kaum mehr etwas anzufangen war. Sie konnten nicht nachvollziehen, wie er sich entwickelt hatte. Sie lebten bieder und damit zufrieden. Er hingegen weilte in seiner eigenen Welt. Er hatte sich von allem, was als gutbürgerlich und normal galt, losgesagt und führte ein Dasein fernab von dem, was den meisten anderen lieb und teuer war. Ehefrau und Kinder wären ihm ein Gräuel gewesen. Niemals würde er seine Freiheit so beschneiden lassen. Auf so ein Leben pfiff er. Er würde immer nur er selber bleiben wollen in seiner dunklen Welt, die aus Schattenabstufungen bestand.

Freiwillig würde er auch niemals mehr etwas Farbiges anziehen. Als Kind hatte seine Mutter ihn gezwungen, weiße Unterhosen mit roten Marienkäfern anzuziehen. Er hatte grüne Strümpfe mit gelben Karos tragen müssen. Eine lila Jacke mit orange Seitenstreifen hatte ihn unter dem Hohngelächter seiner Schulkameraden über viele Jahre des Gymnasiums begleitet, bis er zu seiner großen Erleichterung eines Tages beim besten Willen nicht mehr hineinpasste und die Arm- und Bauchbündchen nicht noch ein weiteres Mal herausgelassen werden konnten.

Dann hatte er zum ersten Mal selbst eine Jacke aussuchen dürfen, und die war schwarz. Alles, was er danach selber aussuchen durfte, war schwarz. Und so war es geblieben. Seit nunmehr fast vierzig Jahren. Schwarz war sein Markenzeichen. Schwarz und ungepflegt war seine Kleidung. Schwarz und verworren waren seine Gedanken. Schwarz verdorrt und verwildert war sein Garten. Schwarz und ausgetrocknet war der unberührte Leichnam des Dobermanns im Zwinger hinter dem Haus. Schwarz vor Altersstaub und verwahrlost war das Haus, in dem er wohnte. Schwarz und türkis jedoch und mit einigen rostigen Nägeln versehen war das Schlüsselbrett, an dem der Schlüssel baumelte.

Bei dem Dobermann war alles so einfach gewesen. Er hatte ihn einfach liegengelassen. Aber nun musste er vermutlich den Schlüsseldienst rufen. Und die würden womöglich nach dem Öffnen der Tür nachhaken, wieso hinter der Tür im zugigen Windfang dieser hohe schmale schwarze Reliquienschrein den Eingang mittig zierte, girlandenartig geschmückt von einem scheußlichen, farbenfrohen Halstuch, das seine Mutter ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, und dem Schlüsselbrett von ihr. Den Kasten hatte er extra so platziert, dass der Wind mehrstimmig wie in einer Windorgel durch den Durchgang pfiff und seine Lebenseinstellung verdeutlichte. Aber die Paneele hätte er besser von innen noch mit einer Folie verkleidet. Mit diesen Geräuschen und dem Austreten der übelriechenden Flüssigkeit hatte er ja nicht gerechnet.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

 

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