Der erste Absatz einer Geschichte von Uwe Timm „Das Abendessen“ wurde uns im Schreibworkshop vorgelegt. Danach sollten wir unsere eigene Fortsetzung schreiben.
Den Autorentext habe ich umgeschrieben, damit es keinen Ärger gibt:
Das war sie, natürlich! Das Einchecken hatte nicht so lang gedauert, und deshalb standen alle schon früher am Gate im Kennedy-Airport, und da sah ich sie sitzen, noch immer zierlich, natürlich ein bißchen älter, aber sonst kaum irgendwie anders. Noch immer diese schönen kastanienfarbenen Haare! Wenn ich mich nicht vertat, musste sie aber jetzt so 46 sein. Mit ihren Jeans, einem hellen Langarmhemd, einem ausgebleichten blauen T-Shirt mit kurzen Ärmeln oben drüber, saß sie neben einer großen Tasche und las in einem Taschenbuch, dessen Titel aus der Ferne nicht zu entziffern war. Hin und wieder rauchte sie ohne hochzuschauen ganz langsam, ungierig, als sei es völlig nebensächlich. Darin lag etwas Erotisches, auffällig fast. Ich hatte nur einmal das Vergnügen mit ihr, das war vor ca. zwanzig Jahren, und der Anlass war ein Abendessen. So etwa das seltsamste in meinem Leben.
Soweit dem Sinne nach Uwe Timm. Jetzt komm ich!
Damals hatte ich an einem lauen Sommerabend anstatt im Freien vor meinem Mansardenfenster zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen, was ich oft tat, vor dem Fernseher gekauert. Es war ein altes Röhrengerät, am Flohmarkt im Vertrauen auf die Menschheit erstanden, und tatsächlich war ich nicht enttäuscht worden. Abgesehen von der Fernbedienung funktionierte alles.
Eine Frau wurde interviewt, etwa 25 schien sie zu sein, schön war sie, forsch war sie. Eine, die genau weiß, was sie will. Sie erhob den Anspruch, herausgefunden zu haben, wie man alles, was man sich vorstellen möchte, auch erreichen kann. Sie zählte etliche Beispiele auf – vom Parkplatz, den man sich ganz genau vor der Haustür wünscht und bekommt, bis hin zum Traumpartner und Lottogewinn. Beides konnte sie aufweisen. Nun wollte sie es mal mit ewiger Jugend probieren, das sei aktuell ihr neuester Selbstversuch.
Es ging um die „Kunst des Manifestierens“. Ich konnte mir nicht wirklich etwas darunter vorstellen, aber was sie sagte, machte mich sehr neugierig. In meinem Leben fehlte es nämlich so ziemlich an allem. Insbesondere Geld, ein Job, der mir Freude bereitete und der Traumpartner waren scheint’s für mich nicht drin. Jung genug fühlte ich mich, da lag nicht mein Problem.
„Ich kann jedem beibringen, wie es geht. Und einer künftig glücklichen Person werde ich es sogar kostenlos zeigen. Für alle anderen gibt’s heute ein Sonderangebot für nur 999.- DM, aber ich lege eine Pro-Bono-Runde ein - also eine Person berate ich gratis“, verhieß die schöne Glücksfee.
Es wurde eine Telefonnummer eingeblendet. Wer es schafft, sich ins Studio einzuwählen, gewinnt ein Coaching! Ich hatte noch nie bei Gewinnspielen gute Karten gehabt, aber trotzdem drängte es in meinem Innersten, ich solle es versuchen. Ich rief also an. „Leider haben Sie diesmal kein Glück“ leierte näselnd eine Ansage vom Band. Naja, typisch! Wie denn auch! Da rufen halt Tausende an.
Im Studio kam dann eine Person durch, aber zum allergrößten Erstaunen aller hatte dieser Mann sich verwählt und wollte eigentlich in einem Altersheim anrufen. Gleich hatte er wieder aufgelegt.
Die Manifestationsspezialistin drang drauf, es doch weiter zu probieren anzurufen. Nur wer etwas wirklich wirklich will, könne etwas erreichen. Man müsse es füüühlen!
In mir flüsterte eine Stimme erst leise, dann schrie sie aus Leibeskräften: „Los jetzt, ruf nochmal an!“ Ja, eine positive Änderung in meinem Leben bräuchte ich wirklich so sehr. Die Matratze am Fußboden war schon völlig verklumpt. Mein Schnellkochtopf war vor kurzem explodiert und hatte die Küche dabei nicht gerade verschönert. Eine Gemüsekiste einmal die Woche am Freitag beim Türken für eine Mark zu kaufen war auf Dauer auch nicht so toll, denn ich lebte dann die ganzen sieben Tage lang von Auberginen oder Bananen oder Tomaten. Die Hälfte war ohnehin immer faul, den Rest verarbeitete ich äußerst kreativ. (Wenigstens hatte ich so recht gut kochen gelernt.) Dazu gab es eine Semmel, die kurz vor Ladenschluss beim Bäcker die Hälfte kostete.
Die innere Stimme riss mich aus meinen Träumen. Ich überwand mich und rief noch mal an, auch wenn das Telefonat mich weitere zwei Gemüsekisten kostete. Und oh Wunder: plötzlich hörte ich die Studiostimme an meinem Ohr und der Moderator bat darum, dass ich mich vorstelle. Insbesondere wollte er wissen, was meine Motivation sei, anzurufen.
Ich hatte das Coaching gewonnen! Ich konnte es gar nicht fassen! Noch nie, noch nie hatte ich irgendwas anderes als einen Trostpreis gekriegt! Und jetzt das! Völlig euphorisch sprang ich durch meine 16 Quadratmeter und jubelte so laut, dass mir hinterher der Hals richtig wehtat.
Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Coaching eigentlich um einen längeren Termin bei einem mehrgängigen Abendessen. Alles würde bezahlt und gefilmt werden. Ob ich einverstanden sei? Tatsächlich war ich sehr schüchtern. Ins Fernsehen kommen wollte ich noch nie. Aber hier wurde ich einfach zwangsbeglückt. Irgendeine geheime Kraft schob mich an, es gab keine andere Antwort als „Ja, ich will!“ – Alles lachte. Ich hörte mich mitlachen. Bin das wirklich ich? Alles erschien mir völlig surreal.
Drei Tage später sollte das Abendessen stattfinden. Im Vorfeld wurde ich von einem unangenehm jovialen Schnösel im dunkelblauen Mercedes abgeholt und in ein Studio gebracht, wo man mein Gesicht erstmal bis zur Unkenntlichkeit auf Tiefglanz puderte, meine Haare auf Lockenwickler spannte, damit man den herausgewachsenen Schnitt nicht so bemerkte, die Wickler mit einer ekelhaft riechenden Flüssigkeit benetzte und mich unter eine Trockenhaube schob.
Da ich beim Sprechen den Mund leicht schief öffne, hatte sich vor mir eine flugs herbeibeorderte Logopädin aufgebaut, und ließ mich Übungen machen, um diesen Makel auszugleichen. „Neeebeensääächlich, neeebeensääächlich“ musste ich etwa 100 Mal wiederholen, bis ich ihrer Ansicht nach geradeaus sprach.
Ständig musste ich auf die Toilette. Ich war so derart aufgeregt! Mein Darm lief Amok, beziehungsweise sein Inhalt. Ich schaffte es kaum rechtzeitig bis zum Topf, denn der Weg dahin war leider ganz schön weit.
Unterwegs kam ich jedes Mal an einem recht gutaussehenden Ordner vorbei, der mich freundlich anstrahlte und mit dem ich rasch ins Gespräch kam. Er hatte vollstes Verständnis für meine Aufregung. Er erzählte, dass er selber auch gelegentlich Auftritte auf einer Bühne hätte, denn neben dem Ordnerjob spielte er Gitarre und sang. Und da ginge es ihm genauso. Er habe echt schlimmes Lampenfieber. Ich beichtete ihm, dass ich gelegentlich auch ganz gerne sang. Nicht nur unter der Dusche.
Irgendwie hatten sie es immer noch nicht geschafft, meine Haare in die von den Maskenleuten gewünschte Form zu ringeln. Hingegen war es ihnen problemlos gelungen, meine Mähne anzusengen. Außerdem hatte die zum Abkühlen der verbrannten Haare aufgetragene sehr feuchte Imprägnierung meiner Haarpracht dazu geführt, dass ich von der Föhnhaube einen elektrischen Schlag bekam. Der fuhr mir grell und schmerzhaft durch Mark und Bein, bewirkte, dass mein linker Mundwinkel sich einen Zentimeter weiter unten einfand als zuvor, meine Zähne sich laut klackernd selbständig machten und meine Innereien endgültig verrückt spielten. Meine Hände hatten begonnen, unkontrollierbar zu flattern, unter den Achseln strömte der Schweiß in wahren Sturzbächen unter meinem violetten Seidenoberteil entlang und hinterließ dunkle Fahrrinnen.
So war ich nicht vorzeigbar. So konnte ich nicht antreten. So wäre ich eine Schande für den Sender! Man brachte eine Bahre herein, und zwei Männer trugen mich, die ich zitternd und zähneklappernd mit durchnässter Bluse und sehr unfrischer Hose in einem richtig beklagenswerten Zustand vor mich hinwimmerte, aus dem Studio.
Mein sagenhaftes Manifestationsessen war geplatzt. In Ermangelung einer greifbaren Alternative wurde der junge Mann aus dem Korridor, mit dem ich mich so nett unterhalten hatte, zum Abendessen eingeladen. Ohne viel Makeup und Hairstyling - die Zeit reichte nicht mehr dafür. Das Programm hat mir meine Freundin auf Video aufgenommen. So sah ich die Manifestatorin wenigstens auch. Mich hingegen lernte sie nie kennen.
Der junge Mann wollte eigentlich nur eine Frau, mit der er Pferde stehlen könne. Und vielleicht berühmt werden. Eine Woche später rief er zum bestimmt zehnten Mal bei mir an und nach dem Telefonat packte ich meine Sachen und zog zu ihm.
Und hier stand ich heute mit ihm Hand in Hand am Kennedy Airport. Und da war sie. Quasi noch dieselbe wie damals, ein bisschen müder vielleicht. Konnte aber auch an der Uhrzeit liegen. Nicht wirklich gealtert… Manifestation konnte sie! Und bei uns hatte es ja auch funktioniert. Wir waren unterwegs zu unserem nächsten Konzert. Heute Abend würden wir vor 120.000 Menschen spielen.
„Kuck mal, die liest gerade meine Biografie“, sagte mein Mann, der bessere Augen als ich hatte.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.