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Au
Wenn das Un verloren geht
29.08.2023 12:36

Gibt es E-Mail-Adressen mit zwei „ats“ drin? Diese Frage einer Kollegin hatten wir durch Googeln geklärt, wiewohl es uns ja bereits vorher klar gewesen war. Ich sage: „Das ist ungefähr so konsequent wie einzelne Gänsefüßchen. Das eine gibt es nur paarweise, das andere nur einzeln. Überschriften stehen ja auch nicht mitten im Text, sondern am Anfang. Und manche Wörter können ohne Vorsilbe nicht selbständig bestehen. Alles hat halt seine Regeln und Ordnung.“

Gut, wer mich kennt, versteht auch die Logik hinter solchen Aussagen, die den Wirrnissen meines Umgangs mit Texten entspringen, und meine Tendenz, sofort die Ausnahmen finden zu wollen. Das Ad-Absurdum-Führen von umstößlichen Fakten.

Beim angelegentlichen Weiterstöbern In meinem Facebookfeed erscheint eine Anzeige, Werbung für ein Schreibseminar. „Mit welchem Satz soll die Geschichte beginnen?“, steht drunter. Ich frage meinen Partner.

„Ich geb dir einen, aber das wird schwierig“, meint er. „Ach was, krieg ich schon hin! Gelegentlich hab ich schon ein bisschen Fantasie.“

Mein Partner, der sich momentan gerade freut, dass es nicht mehr so heiß ist, durchforstet sein Gehirn und sagt dann: „Na gut, dann schreib halt:

 

 

ER STAND VERLOREN AM RAND DER RIESIGEN WEISSEN FLÄCHE.“

 

Allein der Anblick reichte, um ihn frösteln zu lassen. Alles war glatt, vollständig leer. Weit und breit nichts zu sehen, aber auch gar nichts. Ein Ende: von hier aus nicht zu erkennen. Ein schneeweißer Horizont. Weit weit weg. Das Licht schimmerte milchig auf der Fläche, an manchen Stellen ein bisschen heller, an anderen ein bisschen gelblich. Dass hier womöglich schon Tausende gegangen waren, war nicht zu erkennen. Keine Erhebung, keine Vertiefung. Alles war ebenmäßig und sah abgesehen von leichten Farbunterschieden überall vollständig gleich aus.

Wie sollte er sich da hinüberbewegen? Wo genau musste er hin? Er war ganz allein. Könnte er das schaffen? Würde er seinen Weg finden können? Wer war er, und wenn ja, wie viele?

Was gerade geschehen war, konnte er immer noch nicht fassen. Etwas Surrealeres hatte er noch nie erlebt, hätte es sich auch nicht ausdenken können, und auf so eine Idee wäre keiner von ihnen jemals in seinem langen Leben gekommen. Er war nämlich gerade aus einem wilden Durcheinander von Leibern in einem Gewirr von erratischen Umarmungen aufgetaucht, einem bacchantischen Reigen der Promiskuität und Sünde. Einem liederlichen Lotterbett. Die Luft hatte gesirrt und gebrummt von ihren Stimmen, die so lange unhörbar gewesen waren. Ein kollektiver Lustschrei hatte sich ihren Kehlen entrungen, eine Manifestation der Unflat als der Welt Hohn.

Was für eine Party! Man hatte sich gedrückt und durchdrungen. Alles war ein einziges Knäuel. Schwarz, schwärzer, am schwärzesten. Alle hatten sich verhalten wie ein gestümes Getüm ohne Hirn und Verstand, ohne Maß und Ziel, ohne Punkt und Komma, ohne Wenn und Aber. Als gäbe es kein Morgen. Als würde keiner mehr nach ihnen sehen. Voller Entsetzen und Abscheu hätte der sich abgewendet.

Wie es dazu gekommen war, hatte niemand verstanden, aber es war auch nicht wichtig. In ihrem Leben war niemals wichtig gewesen, warum etwas so war. Es war halt einfach so. Das war die Essenz ihres Daseins. Die Tatsache, dass es geschehen war, würde für sie alle wesensverändernd sein. Wie sich ihre Zukunft nun entwickeln würde, war unklar. Würden sie neue Wege gehen, sich neu ausrichten? Sich mit anderen zusammentun als zuvor?

So etwas hatten sie jedenfalls noch niemals erlebt. In ihrer Welt war so etwas absolut unvorstellbar. Es hatte stets Ordnung geherrscht, eigentlich tatsächlich Zucht und Ordnung. Man hatte schön gesittet den ganzen Tag in Reih und Glied verbracht, hatte einen festen Vordermann gehabt und einen Hintermann, der einem am Hintern klebte, aber schwer zu sehen war, und zusammen hatte halt alles Sinn ergeben. Wie auch immer. Für irgendwen wahrscheinlich schon.

Wie es passieren konnte, dass sie plötzlich alle so beirrt herumgerollt und herumgetollt waren und sich lasziv mit jedermann vergnügt hatten, war ein Geheimnis, das wohl kaum je gelüftet werden könnte. Dass sie überhaupt zu solchem Ungehorsam fähig waren, hätte keiner geglaubt und stellte ihre Welt quasi auf den Kopf. Es lag wohl alles an den Schwänzen. An dem Irrsinn ihrer Berufstätigkeit. Und den Wahnvorstellungen ihrer endlosen finsteren Nächte. Sie waren bislang alle artig und bändig und verschämt und flätig gewesen. Alles war immer so geheuerlich. Und nun das krasse Gegenteil.

Aber diese skandalöse Episode lag nun hinter ihm. Verantwortungsvoll wie er einfach war, war er als erster der Umklammerung entronnen und, wie er meinte, zurückgekehrt dahin, wo er bisher agiert hatte. Und nun sah das so aus. Einfach weiß. Einfach gar nichts da. War er da überhaupt richtig? Hatte sein Gedächtnis ihm einen Streich gespielt? Er meinte, ein gutes Orientierungsvermögen zu haben. Aber wenn man jahre- und jahrzehntelang abdingbar eigentlich immer nur in dieselbe Richtung blickt, kann man sich diesbezüglich ja vielleicht auch irren.

Er hatte zwar einen überproportional großen Kopf, aber wieviel davon sein Gehirn einnahm, sei dahingestellt. Vielleicht war er auch etwas hohl in der Birne, mit Verlaub, denn eigentlich konnte er nicht wirklich gut denken. Er hatte ja auch immer die gleiche Wortfolge vor Augen, wenn er es sich überlegte, und die gab schon nicht besonders viel Sinn. Er konnte zwar noch ein paar andere Gedanken parallel dazu fassen, aber auch diese erschienen ihm wie vorgedruckt und wenig zielführend. Es fehlte jeweils der Anfang, und somit gab es auch kein Ende. So war das mit seinem Gehirn. Eigentlich nicht zu beneiden. Und nun musste er mit dieser Situation ganz allein zurechtkommen.

Er hob vorsichtig einen Fuß und streifte kurz über die Kante der weiten weißen Fläche. Vor seinen Füßen zeichnete sich nämlich ein deutlicher Rand ab, und er wollte wissen, wie es sich damit verhielt. „AAAA!“, entfuhr es ihm in ungewohntem Schmerz aus der Tiefe seiner Brust. Er hob den unbestrumpften Fuß hoch. Tatsächlich, er hatte sich geschnitten. Es blutete. Rot und ziemlich heftig.

Das brachte ihn durcheinander. Jetzt wusste er noch viel weniger, was er tun sollte. Aber er hatte dennoch eine ungewisse Vorstellung von dem, was vor ihm lag. Er stieg etwas wacklig und ziemlich stelzfüßig mit seinen kurzen Beinen auf die weiße Fläche und fing an, sie zu überqueren. Unter seinen Schritten vibrierte es sehr leicht, während er sich bewegte. Er ging ein wenig hin und her, stapfte nach rechts und nach links, vor, vor, vor und noch weiter, hielt inne, überlegte lange, ging seitwärts, und doch wieder zurück, stellte sich vor, wie es sein sollte, versuchte sich zu erinnern… Es war schwierig, so ganz ohne Anhaltspunkt. Er musste sich allein auf sein Gefühl verlassen. Nach längerer Zeit kam er endlich an eine Stelle, an der er sich heimelig und wohl fühlte. Ja, hier musste es sein. Hier war sein Platz. Hier war er zuhause.

Hinter A zeugten blutige Fußabdrücke seines rechten Beins von seinem Irrweg bis zu dieser Stelle. Hier hatte er immer gestanden. Er, der der Anführer seiner Gruppe gewesen war. „Anknacker, du knackst uns an!“ Seine Freunde vor ihm waren nicht da. Alle anderen, die sonst rund um ihn herum zu sehen waren, waren nicht da. Nicht mal Mr. und Mrs Smith waren da. Eugène Ionesco persönlich hatte ihn erdacht. Wie stolz er darauf war! Die kahle Sängerin hieß das Stück. In der elften Szene fand man seine Gruppe. Die Gruppe daneben hieß: „Die Kuh gibt uns aber ihre Schwänze.“ Alles irgendwie ziemlich absurd. Aber nur hier fühlte er sich wirklich wohl. Das war seine Lebensaufgabe.

Traurig stand A jetzt ganz verloren, aber breitbeinig, fest und unbeirrbar, endlich scheinbar und unübersehbar, als einziger auf dem großen weiten Platz und wartete, dass seine 1799 Kollegen und Freunde vernünftig würden und zu ihm auf die Normseite zurückkehrten.

 

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

Red Bull
Das Blatt der Kastanie

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