***Meinem Sohn SURAF gewidmet mit Dank für die musikalische Inspiration durch seinen Song DREAMING.***
Die Wellen sind rau und wild. Blau hat sich in schwarz gewandelt. Alles riecht nach Salz. Mein Körper ist gischtübersprüht. Es geht auf und ab, endlos und gnadenlos auf und ab. Mir ist so flau im Magen. Meine Füße sind so kalt. Meine Beine sind so kalt. Meine Finger sind bleich und ganz runzelig. Mein Rumpf ist eingefroren und fühlt sich an, als sei er aus Holz. Dieses Bad dauert definitiv schon viel zu lang. Das Blut ist mir wohl auch schon in den Adern erstarrt, rot und blau hat sich in weiß gewandelt. Ein Cocktail garniert mit Eisschollen. Über mir nimmt der Mond meinen stummgewordenen Kampf hartherzig zur Kenntnis. Keine Freundlichkeit in seinem ungerührten Starren. Nur kalte Gleichgültigkeit. Seit wann treibe ich schon hier?
Auf meinem Brett steht ein Holzstück hervor. Tagsüber hatte es mir als Sonnenuhr gedient. Ich hatte überlegt, ob ich es irgendwie als Kompass gebrauchen könnte. Bewegte ich mich in die Richtung, die angezeigt würde, ruderte ich im Kreis. Aber ohnehin kann ich nicht mehr beeinflussen, wohin ich treibe. Ich kann meine Beine kaum mehr bewegen. Sie taugen nicht mehr als Antrieb. Auch die Kraft meiner Arme hat mich verlassen. Beim Mondlicht schläft meine Sonnenuhr. Es ist nicht hell genug. Mein einziger Gefährte hier inmitten der endlosen Wasserwelt hält nicht mehr zu mir.
Wenn ich die Augen schließe, höre ich die Stimmen. Die Stimmen der Sirenen. Erst waren es ein paar, dann waren es Dutzende, dann schwoll der Chor immer mehr an und inzwischen höre ich Tausende. Siebentausend sagt es in meinem Kopf. Siebentausend Sirenen. Diese Zahl hat etwas Magisches. Wenn ich die Augen zu habe, sehe ich die Sirenen singen. Mit weit offenen Mündern. Die Sirenen haben meterlanges Seegrashaar. Ihr Gesang war zu Anfang lieblich. Nun ist es ein gellendes Geschrei, ohrenbetäubend. Nichts daran ist schön. Es klingt nach Rache und Verderben. Ich versuche, die Augen offen zu behalten.
Die Möwen, die mich zunächst umkreist hatten, sind längst alle fort, sie sind nach Süden geflogen. Ich konnte nicht mit ihnen ziehen. Werde ich sie jemals wiedersehen? Werde ich jemals wieder Land sehen?
Hören diese Wellen irgendwann einmal auf, so stark zu schaukeln? Wenn es einen Gott gibt, dann richtet er es vielleicht so ein, dass es auch bei mir so weit ist, dass alles stillsteht, wenn das Meer sich endlich ausruht. Vielleicht ist es gut, dass sich alles bewegt. Vielleicht ist das das Zeichen für mich, dass auch in mir noch etwas lebt. Noch weht der Wind, dreht sich scheinbar in Kreisen, deren Mittelpunkt ich auf meinem Holzbrett bin. Er übertönt die Stimmen der Sirenen, sein Gebrüll löscht ihre Misstöne aus. Vielleicht ist es auch einfach überhaupt nur der Wind, den ich höre. Wenn mir die Augen zufallen, kann ich das nicht mehr unterscheiden.
Am Sternenhimmel erscheinen grüne Lichter, sie flackern über den Horizont, ergießen sich über den halben Himmel, küssen den Mond, küssen das Wasser und helfen mir beim standhaften Ausharren, bewegen mich dazu, die Augen nicht zu schließen. Wenn ich sie schließe, werde ich einschlafen. Wenn ich einschlafe, werde ich loslassen, wenn ich loslasse, ist bald alles vorbei. Ich liege auf meinem Brett, unbeweglich wie ein Stein. Ich habe keine Kraft mehr. Der Tod ist nahe. Ich kann ihn riechen. Er riecht nach Algen. Eines Tages findet man vielleicht irgendwo meine Knochen angeschwemmt im seichten Wasser, Algen wehen dann zwischen meinen Rippen.
Die Sonnenuhr führt ein seltsames Eigenleben. Die Zeit dreht sich durch sie. Es wurde Tag und nun ist es wieder Nacht, und doch ist es so hell. Vögel sind wiedergekommen. Sie fliegen kopfunter. Wenn sie landen wollen, steigen sie höher. Sie vergießen Tränen um mich, sie werden Regen in die Stadt zu dir bringen. Aber wahrscheinlich werden ihre Flügel sie gar nicht mehr nach Hause tragen. Heute nicht. Und morgen nicht. So wie mich diese Planke nirgendwohin bringen wird. Die Zeit dreht sich durch mich. Ich bin der Zeiger dieser Sonnenuhr. Ich werde gelebt. Ich geschehe. Ich bin das willenlose Instrument dieses Gottes, den es nicht gibt. Der mich nicht liebt. Der mich nirgendwo hinführt. Der mich von Anfang an verlassen hat. Die Schöpfung hat sich selbst geschöpft. Ich bin durch Zufall hier. Und ich bin bald durch Zufall wieder verschwunden. Kein Vogelflügel nimmt mich mit. Kein Flügel wächst aus meinem Rücken. Meine Augen fallen zu.
Mit großer Anstrengung öffne ich meine Lider. Ich liege auf dem Rücken. Auf Kies. Ich kann mich nicht bewegen. Mein Kopf glüht. Ich bin unendlich müde. Ich fühle mich unbeschreiblich elend. Ich habe so einen Durst. Meine Haut fühlt sich an, als hinge sie in Fetzen von mir. Meine Zunge ist verdorrt. Ich träume wilde Träume. Ich träume Abende und Nächte hindurch. Die Lichter wollen mich wachhalten, hellwach sollte ich sein, ich sollte aufstehen. Ich sollte erkunden, wo ich bin. Ich sollte versuchen, Trinkwasser zu finden. Ich kann nicht. Ich kann mich nicht bewegen.
Stattdessen träume ich. Ich werde geträumt. Ich bin bei dir. Hast du Zeit für mich, darf ich bei dir sein? Vielleicht bist du aber auch hier, ich kann es nicht unterscheiden. Was würdest du sagen und tun, wenn du jetzt hier wärst? Wie ich da so elend liege mit meinem Schädel, der vor Hitze glüht und meinem zermarterten Leib, der vor Kälte farblos ist. Der deine Wärme so bräuchte, der deine Hilfe bräuchte. Der gehalten und getragen werden müsste an einen sicheren Ort, wo du mich wieder lebendig machen kannst. Wärst du da für mich? Würdest du bei mir bleiben? Bist du jetzt hier? Ich blicke in deine blauen Augen, aber sie sind nicht mehr blau. Blau hat sich in Eis verwandelt. Dein Eis kühlt mein Fieber, aber es lässt mich zittern vor Kälte. Meine Gedanken wehen im Wind wie ein Stoffband, das sich in unendlichen Wirbeln spiralig von mir löst und davonflattert.
Ich erinnere mich unklar. Es war da mal eine Zeit, in der mich jemand so berührt hatte wie du. Aber dann wurde mit der Zeit ein Gefühl daraus, als ob Wind und Wellen ein Ufer bearbeiten. Die Küstenlinie bekam immer stärkere Einschnitte. Klippen bildeten sich heraus und schroffe Abhänge, unwirtliches Gelände. So war das damals.
Solche Berührungen sind manchmal bedeutungslos, aber manchmal steckt mehr dahinter, eine Verheißung für die Zukunft, die Prophezeiung, dass alles gut wird. Deine Berührung war gut, meine Seele wollte mehr davon, mein Körper hat sich dir entgegengestreckt, mein Geist erschauerte von der Brillanz deiner Worte. Aber ich hatte Angst, dass auch bei dir nun eine Phase käme, in der du versuchst, mich zu modellieren. Da waren die ersten Anzeichen.
Ich wollte mit meinen Gedanken klarkommen. Ich wollte einen Tag allein sein. Wie ich da segelte auf dem blauen, einsamen Meer. In mir fand ich kein Zuhause. Niemand hat auf mich gewartet. Wo warst du? Wo war ich? Ich fühlte mich alleingelassen. Ich fuhr hinaus, ohne auf die Zeit zu achten. Und auf den Himmel. Ich hab mich zu weit hinausgewagt. Dann kam der Sturm. Und nun liege ich hier. Gestrandet. Ein hilfloses Wrack. Wo bist du? Fühlst du meine Klage? Hörst du meinen lautlosen Wehschrei?
Was war das? Hat da nicht was geflüstert? Du bist hier? Du hast mich gefunden! Ich höre ein Wispern, doch es ist nur der Schaum des Wellenrandes, der sich raschelnd über das Kiesbett vom Ufer zurückzieht. Ich liege hier voller Unglauben in einem Schwebezustand. Ich bin irgendwo sicher gelandet, und dennoch kann ich mich nicht retten. Niemand kommt, um mich zu retten. Du bist nicht da. Niemand ist da. Das Land der Träume öffnet sich immer mehr. Mir ist so kalt. Ich schließe die Augen. Die Zeit wandert weiter durch die Sonnenuhr auf der mit mir an Land geschwemmten Planke, aber sie hat aufgehört zu existieren. Keiner sieht sie verstreichen, keiner weiß, dass es sie gibt. Denn ich bin nicht mehr da.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.