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Mein lieber Herr Gesangsverein
11.12.2023 00:26

Miranda war allen als mitteljunge Dame mit außergewöhnlich viel Energie aufgefallen. An guten Tagen sprang sie im Hechtsprung von der Sonne, so schien es. Sie tauchte ein in das Dunstfeld ihres Alltags und leuchtete in allen Sonnenstrahlenfarben. Ihren Mitmenschen hellte sie mit ihrer Begeisterung und ihrem Tatendrang den Tag auf, sie schreckte sie mit ihren Ideen für den Moment, in dem sie vorbeiflatterte, aus ihrer Lethargie, kümmerte sich punktuell um die verlorenen Seelen auf ihrem Weg und hatte für alle immer doch noch ein paar Zentimeter Platz in ihrem Leben.

Gerne nahm sie an allen möglichen Challenges teil, denn sie wollte, um ihr Umfeld noch mehr bereichern zu können, in allem noch viel besser werden, und hatte seit langem keine Angst mehr, sich dabei merkwürdig aufzuführen. Aktuell übte sie sich darin, besser singen zu lernen, was bei dem ihr von der Natur mitgegebenen Tonumfang eine ziemliche Herausforderung war, aber sie wollte auch in ihrem Tonregister den anderen, mit denen sie sich unterhielt, künftig eine angenehme Erfahrung bieten. Motiviert hatte sie aber in erster Linie der Gedanke, ohne Gewissensbisse lauthals singen zu können, wann immer ihr das in den Kram passte. Die Mitmenschen sollten nicht drunter leiden müssen wie damals ihr Ex, der ihre musikalischen Ambitionen kommentiert hatte mit „Wohl dem, der keine Ohren hat.“

Sie glaubte trotz des Negativbeispiels ihres Ex an eine gute Macht, die hinter allem stünde, eine positive Energiequelle, die alles und jedes in Gang hielt, ja kreiert hatte. Und dass sie selbst wiederum alles Gute, aber leider auch alles Schlechte, das sich ihr in den Weg stellte, selbst kreierte. Sie glaubte an das Gute im Menschen und das Wunder, das ihr eigener Geist darstellte. Dafür brachte sie Opfer in ihrem Leben.

Eines davon war, dass sie – je mehr Gutes sie selbst in die Welt brachte – offenbar an Umfang zunahm. Zuerst hatte sie gedacht, es käme davon, dass sie sich trotz aller Versuche, ein wundervoller Mensch zu sein, zu viel beschwerte, und dass diese Schwere deshalb in ihr Leben einzog. Später wurde ihr aber klar, dass sie sich selbst be-schwer-en musste, weil sie drauf und dran war, davonzufliegen. Wenn ihr alles zu leicht ging, wenn sie zu leichtlebig wurde und zu windsbräutig. Also aß sie gern und viel, denn sie kochte auch gern und viel, und sie war eine Genießerin durch und durch. Außerdem war es auch so, dass sie sich selbst mehr Gewicht zumaß, wenn sie anderen Glück schenkte.

Nun hatte eine Freundin von ihr eine Challenge ausgerufen: Abnehmen mit Geleebeeren. Das waren ganz spezielle Geleebeeren, nicht einfach irgendwelche dahergelaufenen, die man so einfach im Supermarkt kaufen konnte. Sie waren sündteuer, und eigentlich bargen sie jellybean-untypische Ingredienzen wie z.B. einen Extrakt der Schlafbeere, auch genannt Ashwaghanda, der eigentlich nach Pferdeschweiß roch, was aber von dem Gelee-Aroma zuverlässig übertüncht wurde. Diese Beere hatte verschiedene interessante Eigenschaften, und bei diesen Jelly Beans wohl maßgebliche. Schlank im Schlaf war da die Devise.

Die ersten Tage, als Miranda diese Abnehmhilfe zu sich nahm, verlor sie spontan an Gewicht. Täglich purzelten die Pfunde. Innerhalb einer Woche hatte sie bereits 4,7 kg abgenommen, obwohl sie nicht viel mehr schlief und gar nichts anderes aß als sonst. Dafür aber vertilgte sie sogar mehr von allem, denn die Appetitzüglerbeeren für den Nachmittag bewirkten bei ihr paradoxerweise unstillbare Gelüste nach Essbarem. Nach 10 Tagen nahm sie immer noch weiter ab, konnte aber ihre Hose nur noch mit Mühe schließen. Das kam ihr sehr spanisch vor. Sie befragte ihre Waage, was denn da los sei, doch die verdrehte auf seltsame Weise ihre Augen und lächelte irgendwie selig-friedlich und verklärt.

Miranda beschloss, ihren Bauchumfang zu messen und mit dem Anfangswert zu vergleichen, und siehe da, sie hatte in diesem Bereich sieben Zentimeter zugenommen, und nicht etwa ab. Das war eigentlich in Anbetracht der verzehrten Mengen auch realistischer, musste Miranda sich eingestehen. So begab sie sich etwas verzagt auf die Suche nach frischen Batterien für ihre Waage, die irgendwie so unzuverlässig wirkte. In einer Schublade zwischen Stuhlbeinfilzen und Marmeladenetiketten, Verschluss-Clipsen und Feuerzeugen, gesammelten Kugelschreibern und kleinen nur leicht zerdrückten Plastiktütchen mit Reißverschluss (könnte man ja doch noch mal für irgendwas brauchen) wurde sie schließlich fündig.

Als die Waage wieder fröhlich und voller Tatendrang wirkte und der seltsame, rauschhafte Zustand von ihrem Display gewichen war, stieg Miranda todesmutig auf sie, um sich der Wahrheit zu stellen. Es war eine hässliche Wahrheit. Miranda stiegen die Tränen in die Augen, denn mit einem Schlag war sie 8 kg schwerer, also sogar noch deutlich gewichtiger als zu Anfang der Diät. Sie legte sich ins Bett und weinte erstmal eine Runde.

Da sie jedoch nie lange Trübsal blies, stand sie schließlich auf, wusch ihr Gesicht und wühlte sich die nächste Stunde durch gesammeltes Googlewissen und -unwissen, um herauszufinden, wie so eine Waage eigentlich wirklich funktionierte. Offenbar war auch in den digitalen Waagen eine sehr stabile Feder verbaut, und metallene Streifen waren für das Erkennen des komplexen Widerstands zuständig. Einen Fuß links und einen rechts, und die Streifen konnten wirken. Damit mass man dann das Körperfett.

Hoppla, was? Was soll denn das sein, komplexer Widerstand? Nötig für das Kalkulieren des Ergebnisses? Wissbegierig wie immer suchte sie weiter, um eine Antwort zu finden und stieß dabei auf die komplexen Zahlen, in denen so ein komplexer Widerstand sich ausdrückte.

Aha: Komplex war also eine Zahl, die es gar nicht gibt, also eine nicht reelle Zahl, die mit der Wurzel aus Minus irgendwas korreliert. So ist z.B. die Wurzel aus Minus 4 dasselbe wie die Wurzel aus Plus 4 mal die Wurzel aus Minus 1. Und diese Wurzel aus Minus 1 ist eben diese komplexe Zahl i. Die Crux dabei ist: dieses "i" ist eine Zahl, die es gar nicht gibt. Sie ist so irreal, dass sie im Quadrat ein negatives Ergebnis hat! Die stinknormale Zahlengerade verwandelt sich hier in eine Zahlenebene, ein flaches Feld also. Oh weh! Wer versteht denn sowas? Und diese komplexen Zahlen sind irgendwie gleichzeitig positiv und negativ. Ein Teil davon ist existent und einer bestehe nur imaginär. Das Äquivalent zum Körperfett ist gleichzeitig existent und imaginär!

Miranda hatte in der Schule von diesen merkwürdigen Zahlen noch nie etwas gehört, fand es aber faszinierend, wie die Waage ihr Gewicht gleichzeitig als positiv und als negativ bewerten konnte, und wie komplex ihr Körper also eigentlich war, der doch tatsächlich zu 95% aus Energie bestand und nur zu 5% aus Materie. Womöglich war es bei ihr mit ihrer speziellen Energie ja sogar noch mehr Energie als bei anderen? Der Rest der Materie ließ sich also in Plusgewurzel und Minusgewurzel aufteilen, die sich gegenseitig zum besten gemeinsamen Konsens erhöhten und so überhaupt messen ließen.

Unter gewissen Umständen kann man ja bekanntlich beeinflussen, was man anziehen möchte. Miranda war dies vielfach gelungen. In allen Bereichen, wo sie ihre Betrachtungsweisen wirklich überzeugt lebte und nicht nur vollmundig verkündete, fiel ihr fast in den Schoß, was sie begehrte oder anschubsen wollte. Sie beschloss deshalb, nun die Theorie dieser Gewichtsanomalie, die die Diät bei ihr ausgelöst hatte, perfekt zu verstehen. Ja, sie wünschte sich dies von ganzem Herzen.  Sie malte sich aus, wie ihr die Fakten dazu zufielen und wie fasziniert sie von dem Hintergrundwissen dazu sein würde, das ihr überdeutlich ohne störende Holzweggedanken zuteilwürde.

Innerhalb der nächsten Wochen belegte sie verschiedene Onlinekurse zum besseren Kopfrechnen, über angehende höhere Mathematik, allgemeingültige Physikgrundlagen und schließlich zum Thema „Hilberträume“ in der Quantenmechanik. Sie schloss alle erfolgreich ab und hatte kurz darauf im Traum eine Eingebung. Als hätte jemand den Schleier der verlangsamten menschlichen Erkenntnis weggezogen, war ihr alles plötzlich sonnenklar! Ihre spezielle Affinität zum Zentrum des Sonnensystems hatte sich ausgezahlt. Niemand sonst war zuvor in der Lage gewesen, einen so vollkommenen Einblick in die tatsächliche Funktionsweise des Feldes zu gewinnen, und diesen paranormalen Lichtblitz der Erkenntnis in den Wachzustand hinüberzuretten. Nun war Miranda in der Lage, auf wissenschaftlichen Kongressen genauestens vorzurechnen, wie man sich die neue Teilchen-Energie-Hypnotheorie zunutze machen konnte.

Im Folgenden gewann Miranda den Nobelpreis für Physik und zudem die Liebe von Millionen von übergewichtigen Menschen durch die Beweisführung, dass die kollektive Energie der sich ursprünglich durch Jelly-Beans-Konsum schlanker wünschenden Frauen offensichtlich manifestiert hatte, dass ihre Waagen weltweit an Energie eingebüßt hatten und den Frauen auf ihnen genau das anzeigten, was diese sich erhofften. (Nur die Energie durch Batterieaustausch rückführen sollte man besser nicht.)

Die todsichere Methode, den Partner dazu zu bringen, derselben kollektiven Halluzination zu unterliegen wie die Waagen und Waagenbesitzerinnen, bestand darin, den Partner zeitgleich auf eine ebensolche Waage steigen zu lassen. Dort wurde er in den globalen Bann mit hineingezogen, und beim Blick auf das Wiegeergebnis und auf den Partner oder die Partnerin war er für den Rest seines Lebens nicht mehr in der Lage, eine Gewichtszunahme zuverlässig zu erkennen, denn seine Selbst- und Fremdwahrnehmung wurde durch die Waagensynergie beeinträchtigt und völlig verzerrt.

Dies war jedoch nur der erste Schritt, denn da dieses Phänomen durch das Anzapfen der Quantenfeldenergie auftrat, war es nicht nur real und irreal zugleich, sondern so komplex, dass sich der Erfolg tatsächlich im echten Leben zeigte. Der in voller Begeisterung veränderten Wahrnehmung folgte eine veränderte Realität. Und nun waren nicht mal mehr Geleebeeren nötig zum Abnehmen. FDH und Atkinsdiät, Heilfasten, Ayurvedakuren, Kalorienzählen, Kohlenhydratverzicht samt Jo-Jo-Effekt und adipöser Arteriosklerose waren nur noch Schlagworte aus der Vergangenheit, die bald in Vergessenheit gerieten. Der Quanteneffekt verschränkter Quanten im Badezimmerfeld vermittels zweier geeichter Waagen und ein gerüttelt Maß an positiver Energie reichte aus: das Problem der Fettleibigkeit und der Magersucht war gelöst. Millionen dankten ihrem Schöpflöffel und aßen essstörungsresistent weiter mit Genuss. Es durften andere Probleme ins Blickfeld einziehen. Der Mensch hat ja immer ein Problem. Ist das eine vorbei, darf er sich an etwas Neuem erproben.

Miranda wurde mir auf Platz 4 genannt, als eine KI mir im Jahre ihres verfrühten Todes Auskunft über die Top Ten der wichtigsten Personen dieses Jahrhunderts geben sollte. Über ihre Gesangskünste schwiege Wikipedia jedoch geflissentlich, wären sie nicht leider ausschlaggebend für das traurige Ereignis gewesen. Ein allnächtlich in seiner Bettruhe gestörter Nachbar, der auf natürliche Weise schlank geblieben war, und daher keine Kenntnis von der illustren Vita der Autodidaktin nebenan hatte, war Miranda zum Verhängnis geworden.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Eine schöne Bescherung

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