Arenya ließ sich mit einem lauten Aufstöhnen auf das Sofa plumpsen. So viele Stufen waren nicht leicht zu bewältigen. Aber sie hatte Lust gehabt auf ein paar kandierte Früchte, die mussten heute noch sein, zur Feier des Tages, und so war sie noch ganz schnell zum Laden nebenan hinuntergestiegen, bevor der zumachte. Vahid, ihr Liebster, setzte sich ihr gegenüber und streckte ihr liebevoll seine Hände entgegen. Völlig ausgelaugt und außer Atem ließ sie zu, dass er ihren linken Fuß auf sein Knie legte. Er rollte vorsichtig die Socke herunter und fing an, die Ferse, die vom Sockensaum angeschwollene Fessel und die Wade leicht zu kneten. So eine Erleichterung, so eine Wohltat… Schmerz und Anspannung wichen, und Arenya atmete befreit und friedfertig. Neben ihr stand bereits die Schüssel mit den verlockenden bunten Trockenfrüchten. Sie griff zu einem grünen Zitrusfruchtschnitz und knabberte sachte kleine Stückchen davon ab. Wie himmlisch! Wie wunderbar, diesen Mann gefunden zu haben. Was für eine Bereicherung für ihr Leben!
Voller Hingabe massierte er die überanstrengten Bereiche an ihrem Fuß und Unterschenkel und, da er sehr wohl wusste, wo es am meisten weh tat, ließ er in den betreffenden Zonen größte Sorgfalt walten, um nur gut-, aber ja nicht wehzutun. Schließlich war es schon lange her, dass er ihr zum ersten Mal angeboten hatte, er könne versuchen, ihr den Schmerz abzunehmen. Und seit damals hatte sie das Angebot liebend gerne und häufig in Anspruch genommen. Es machte ihm gar nichts aus. Er liebte es zu spüren, wie sie sich lockermachte, wie die Dämonen quasi von ihr wichen und sie die Anstrengung und Last des Tages langsam, aber sicher ablegte. Auch wenn sie in den letzten beiden Jahren deutlich mehr Gewicht auf die Waage brachte. Ihre Haut war weich, glatt und warm und er liebte es zu fühlen, wie seine Energie auf sie übersprang und sie sich ihm willig überließ.
Arenya ließ eine viertelte Ananasscheibe auf der Zunge zergehen und schob Vahid ein kleines Stückchen getrocknete Mango zwischen die Lippen. Sie wusste, die hatte er am liebsten. Einen „Glückstee“, wie er ihn nannte, hatte er ihr auch auf das Tischchen neben dem Sofa gestellt und sie nippte daran. Noch war er ziemlich heiß. Ein würziger Tee mit starkem Zimtgeruch und vielen verschiedenen Aromen, bitteren Wurzeln und süßen Komponenten.
Vahid wechselte nun zum rechten Bein, dem er genauso viel Aufmerksamkeit schenkte. Er massierte zartfühlend, aber energisch. Zwischendrin fuhr er in tibetischen Achtern am Rist entlang und unter der Ferse durch. Er knetete die Zehen und fuhr den Sehnen auf dem Fußrücken entlang. Ab, auf, ab, auf… Den Fuß hielt er mit der einen Hand wie eine Opfergabe, die man den Göttern darbietet, und mit der anderen drückte er auf die Meridianpunkte, jedoch so, dass dies niemals allzu schmerzhaft war.
Dann war das dritte Bein dran. Ihre gesamte Kindheit hatte Arenya gelitten, denn ihre Eltern hatten sie gezwungen, das überflüssige Körperteil in einer elastischen Schlinge unter einem weiten Rock zu verstecken. Am Turnunterricht durfte sie niemals teilnehmen, sie war für immer davon befreit. Ach, hätte sie gerne mit den anderen Ball spielen und rennen mögen, Möwentanz üben und Zirkeltraining mitmachen, aber sie musste stets am Rande sitzen und zusehen.
Auch beim Schwimmen musste sie in der überheizten Halle in voller Montur neben dem Becken hocken und die anderen beneiden, die sich wie die Delfine im Wasser vergnügten oder den Hechtsprung übten. Niemals hatte sie ein Schwimmbecken oder einen See von innen gesehen, war nie von einer größeren Menge kühlen Wassers umspült worden. Nur als kleines Kind hatte sie in der Badewanne gesessen, aber seit dem Umzug in die Etagenwohnung im fünften Stock ohne Lift gab es nur noch eine Dusche.
Das verkrüppelte, zu kurze Bein war in diesen Jahren ein gemeiner Störenfried, von dem nur ihre engste Familie und der Kinderarzt wussten. Ursprünglich war das Bein auch nicht verkrüppelt gewesen. Das kam vom Einbinden. Eine Operation war für ihre Eltern niemals in Frage gekommen, sie hätten das nicht bezahlen können. Eine Krankenversicherung hatten sie nicht. Und die Ärzte hätten vielleicht zwar eine Narkose vorgenommen und das Bein abgesägt, aber bei der Wundversorgung wäre der Überrest dann wahrscheinlich brandig geworden, und so hätte sich ihr Leben sehr drastisch verkürzt.
Ihre Eltern hatten sie jedoch sehr lieb und wollten sie behalten. Und somit behielten sie das dritte Bein. Nur sollte keiner wissen, dass es da war. Sie konnte relativ geschickt gehen, allerdings warf der Rock trotz der vielfachen Bindebänder merkwürdige Falten, und die anderen Kinder dachten immer, sie habe unter dem Rock einen Beutel mit irgendwelchen geheimnisvollen Schätzen dabei. Glücklicherweise war jedoch Arenyas großer Bruder an derselben Schule, und als einmal die anderen Kinder in der Pause zudringlich wurden und wissen wollten, was in dem Beutel stecke, bekam er es mit und stellte sich so aggressiv mit zornblitzenden Augen und angewinkelten Fäusten vor sie, dass den Klassenkameraden die Lust verging, nachzusehen. Und jedes Mal, wenn jemand Böses über Arenya sagte oder stichelte, und der große Bruder davon in Kenntnis gesetzt wurde, entschuldigte sich dieses Kind am nächsten Tag sehr unterwürfig bei Arenya aufgrund der Spezialbehandlung, die es kennenlernen durfte. Dies war nur viermal vorgekommen.
Somit hatte Arenya eigentlich viel weniger zu leiden, als man gemeinhin annehmen würde. Mit Einsetzen der ersten Periode verschlechterte sich allerdings die Situation und es mussten neue Kniffe gefunden werden, wie das dritte Bein am besten einzubinden sei und die Lage trotzdem in dieser Woche beherrschbar blieb.
Im Laufe der Jahre kamen auch einige junge Männer auf die Idee, sich für das nicht unhübsche Mädchen zu interessieren, aber ihre Eltern lehnten zum Schutze ihrer Tochter jeden näheren Kontakt kategorisch ab, und ließen Arenya einfach weiter in ihrem Haushalt leben. Somit war es irgendwann so weit, dass die Tochter die Eltern pflegte und schließlich kurz nacheinander beide zu Grabe trug. Die Wohnung im fünften Stock richtete sie entsprechend ihrem Geschmack ein wenig anders ein. Der Bruder hatte ja eine eigene Familie in einer anderen Stadt und war bestens versorgt.
Das freigewordene Zimmer leerte sie und ließ ein schönes großes Sofa hineintragen, einen Teetisch und ein Regal für ihre Bücher. Denn Arenya hatte zwar nie studiert, aber sie liebte es zu lesen und ihre papierenen Freunde aufzuheben, so dass sie immer wieder deren schöne Einbände bewundern und befühlen konnte. Auch steckte sie gerne die Nase in ihre Sammlung, denn jedes Buch hatte einen eigenen Geruch. Das eine über die Parkanlagen Europas mit den vielen Schwarzweißbildern roch herb nach Grünpflanzen und bitteren Kräutern, das über die Heilpflanzen roch nach den beigelegten Lavendel- und Lindenblüten, das über Methusalem sonderte ein Odeur aus altem Schmalz mit herbem Opium ab, das über die Liebe in den Zeiten der Cholera müffelte nach Schilf und Uferschlamm. So konnte sie jeden ihrer Lieblinge am ihm ureigenen Duft erkennen und gönnte sich am Freitagabend den Luxus, in etwa zehn von ihren Büchern hineinzuschnuppern. Sie hatte Angst, dass der Geruch im Laufe der Zeit verfliegen könne, deswegen wollte sie die Bücher nur abwechselnd und nicht so oft öffnen, damit ihre Eigenheit ihnen so lange wie möglich erhalten bliebe.
Ein paar Jahre nach dem Tod ihrer Eltern lernte sie nun auf einem Vorleseabend, veranstaltet von einem Buchclub, der das Land auf der Suche nach Volksmärchen durchreiste, durch Zufall diesen wundervollen Menschen kennen, der von da an vorbehaltslos an ihrer Seite stand, saß und lag, ohne ihr dabei allzu nahe zu kommen, und dies mit aller Sanftmut und Liebe tat, die sie sich vorstellen konnte. Keiner von beiden vermisste irgendetwas, sie lebten in Fug und Zucht, niemand hätte ihnen irgendetwas vorwerfen können.
Arenya war eine durch ihre vielseitige Lektüre interessante Gesprächspartnerin mit großem Einfühlungsvermögen. Vahid liebte Bücher ebenfalls, hatte, genau wie sie, eine Liebe zur Natur, ein Verständnis für Heilpflanzen aller Art und einen stark verfeinerten Geruchssinn. Leider hatte auch er sich für dieses Erdenleben keine einfache Rolle ausgesucht und war dadurch besonders empfind- und aufmerksam geworden.
Ihm hatte seine eifersüchtige ältere Schwester in die Wiege ein brennendes Holzscheit gelegt, wodurch die Wiege binnen Sekunden in Flammen stand und sein Hinterkopf und große Teile seinen Rückens schwerste Verbrennungen erlitten. Wie durch ein Wunder entdeckte ihn die Mutter gerade noch rechtzeitig. Die Haare wuchsen aber niemals nach. Sein malträtierter Schädel war blauschwarz verfärbt und sein Rücken voller Knitterfaltennarben, so als hätte jemand ein Stück Alufolie zusammengeknüllt und wieder versucht glattzustreichen. Die Schwester hatte ihm nie wieder etwas angetan, aber das machte ihn natürlich nicht wieder heil. Unerträgliche Schmerzen kannte er sein Leben lang. Kein Medikament der Schulmedizin kam dagegen an, weswegen er nicht gerade gut auf Ärzte zu sprechen war. Seine Kräuterspezialitäten ermöglichten jedoch eine gewissen Grad an Linderung. Wenigstens konnte er den Hinterkopf unter einer Mütze verbergen, die er quasi Tag und Nacht trug, und sein Gesicht war eigentlich sogar hübsch, auch noch mit fünfzig.
An diesem Abend nun streichelte Vahid ihre Füße zum letzten Mal vor dem großen Tag. Denn am nächsten Morgen gleich um sieben sollte Arenya in der Klinik eintreffen. Nüchtern, mit ihrem Krankenhausköfferchen für mindestens zwei Wochen und mit großer Hoffnung und Zuversicht. Entschlossen stellte Arenya die Fruchtspalten auf die andere Tischseite, so dass sie nicht mehr drankam. Denn endlich hatten sie eine Krankenversicherung, ein Krankenhaus vor Ort, in dem man vermuten konnte, dass man einem solchen Eingriff gewachsen sein könnte und einen hoffentlich fähigen Chirurgen, der ihr voller Begeisterung für dieses „Projekt“ versprochen hatte, sie könne bald den Möwentanz erlernen und würde womöglich künftig Männern den Kopf verdrehen. Vahid küsste Arenyas dritten Fuß und tätschelte der über alles geliebten Frau die Wange. „Jetzt wird alles gut!“, flüsterte er ihr zärtlich zu. Er strich mit den Händen sanft wie ein Schmetterling über ihre Augenlider und küsste ihre Wimpern. Das hatte er sich bislang noch nie getraut.
Dann wurden sie beide sehr schläfrig und legten sich nebeneinander auf die Couch. Was für eine Müdigkeit! Der Tee war heute ein bisschen zu stark. Auch Vahid hatte ausgetrunken. Er würde Arenya nicht gehen lassen. So ein großes Glück, wie sie beide miteinander hatten, sollte nicht leichtfertig zerstört werden. Für immer würden sie nun zusammengehören, für immer, mit allem, was dazu gehörte. Liebevoll schob er seinen Arm unter Arenyas schwergewordenen Körper. Mit der anderen Hand versuchte er, seine Mütze vom Kopf zu ziehen, aber der Arm gehorchte ihm schon nicht mehr.
© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.