Letteratour's Webseite

Übersetzungen und Letteratour

11
Se
Einsamkeit der Langstreckenläuferin
11.09.2023 10:20

Wütend verließ Lora das Haus. Die vier Stufen vor dem Eingang nahm sie in einem einzigen großen Satz, bemühte sich dabei aber, möglichst leise aufzukommen. Das Gartentor aus Metall hätte sie am liebsten ordentlich hinter sich zuknallen lassen, aber dann hätte er sofort bemerkt, dass sie einfach ausgebüxt war. Über der linken Schulter trug sie ihren Turnbeutel. Sie hatte ihn geleert, die miefenden Schuhe und die noch immer nicht gewaschene schwarze Turnwäsche von letzter Woche, als die Ferien begannen, aufs Bett gelegt und stattdessen eine Tüte Sunkist und einen Apfel hineingepackt.

Sie lief in die Gegenrichtung zur Schule, damit ihr möglichst niemand begegnen würde, den sie kannte, denn in dieser Richtung gab es nur wenige Häuser. Nach kurzem kam sie auf die Landstraße. Da wollte sie hin. Die führte am weitesten weg. Auf der Landstraße geht man immer auf der linken Seite, damit einen die Autos kommen sehen und damit man die Autos kommen sieht, hatte ihre Mama ihr eingeschärft. Und so stürmte sie voller Energie am linken Straßenrand entlang. Auge in Auge mit dem Feind. Es kam aber kaum einer vorbei. Es war Mittagszeit. Es war heiß.

Der Vater hatte sie bezichtigt, sich aus seinem Portemonnaie bedient zu haben. Er hatte sie in die Enge getrieben. Sie hatte sich verteidigen müssen. Sie war es ja aber doch nicht gewesen! Sie hatte Angst. Sie wurde kleinlaut. Er wurde laut. Er hatte gebrüllt, getobt, er hatte sie übers Knie gelegt. Es war furchtbar. Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Es tat weh. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu schluchzen.

Die Mutter war nicht da. Sie war am Montag in die Stadt zum Friseur gefahren und nicht zurückgekommen. Sowas war vorher noch nie passiert.

Der Vater sagte nichts über die Mutter und wo sie war. Lora hatte mehrmals gefragt, wann denn die Mama wiederkäme, aber er hatte nur unwirsch geknurrt, er wisse es nicht und es sei ihm auch egal. Er hatte Abendbrot gemacht und Morgenbrot und Mittagsbrot und wieder Abendbrot. So ging das jetzt schon 4 Tage. Nach dem Mittagsbrot heute hatte er entdeckt, dass ihm das Geld fehlte, dass er in seinem kleinen Reißverschlussfach versteckt hatte. So war das gekommen.

Lora marschierte in bösen und rachsüchtigen Gedanken verloren, so schnell ihre Beine sie trugen die Straße entlang. Ihr kurzer brauner Lederrock mit den großen silbernen Druckknöpfen auf der Vorderseite ließ ihr viel Platz, mit ihren langen dünnen sonnenbraunen Beine große Schritte zu machen. Sie trug ihren Lieblingspulli, maigrün mit kurzen Ärmeln. Der Pulli selbst war auch schon recht knapp geworden. Sie war in diesem Frühjahr ein gutes Stück gewachsen. Ihre Arme erschienen ihr jedoch zu lang, irgendwas stimmte nicht so ganz. Alles an ihr war plötzlich so lang.

Der malträtierte Hintern brannte wie Feuer. Wahrscheinlich würde das blau werden. Hoffentlich hörte der Schmerz bald mal auf! Ihre Pippi-Langstrumpf-Socken mit bunten Ringeln und einzelnen Abteilungen für die Zehen waren irgendwie sehr unpraktisch. Erstens rutschte die rechte immer hinunter und sie musste sich dauernd bücken, um diese wieder übers Knie hochzuziehen und zweitens tat das langsam weh, wo die Zehenfächer begannen. Da war eine Naht, und die war irgendwie zu eng und drückte.

Nach einiger Zeit fand Lora ein Tier auf der Straße liegen. Es war sehr sehr flach und ganz schwarz. Eine kleine alte Blutkruste bedeckte die lange rosa Nase. Es hatte richtig große rosa Pfoten und irgendwie gar keinen Arm zwischen Körper und Fingern. Der Schwanz war auch zu kurz. Lora hatte so ein Tier noch nie gesehen, war aber sicher, dass es ein Maulwurf sein musste. Er hatte schon Augen, obwohl er ja blind sein sollte. Winzig waren sie. Aber vorhanden.

Leider war der Maulwurf aber wohl schon recht lange auf der Straße gelegen. Unzählige Fahrzeuge hatten ihn überrollt. Er ähnelte mehr einer überdimensionierten Briefmarke als einem knuffigen Tierchen. Lora suchte zwei Stöckchen am Straßenrand zusammen und hob den Maulwurf mit diesen von der Fahrbahn ab und transportierte ihn ins Gras. Dort legte sie ihn vorsichtig ab und pflückte ein paar schöne bunte Wildblumen. Mit denen bedeckte sie seinen vertrockneten Körper. So wollte sie auch mal daliegen, wenn sie tot war. Ganz mit wilden, trotzigen Blumen zugedeckt. Das wäre schön. Ihr Vater würde dann vielleicht weinen. Es geschähe ihm recht.

Nach der kleinen Zeremonie ging Lora weiter. Sehr selten kam ein Auto vorbei. Keines verlangsamte und keines behelligte sie. In der Ferne schien eine große Wasserfläche am Horizont zu sein. Lora war sich nicht dessen bewusst, dass es hier einen See gäbe, aber da war er. Ganz weit hinten. Das Wasser flimmerte in der Sonne. Die Straße führte direkt hin, schon quasi in den See hinein.

Die rechte Socke hatte sie nun ausgezogen, sie hatte sie bald wahnsinnig gemacht mit ihrer dämlichen Rutscherei. Mit nur einer Socke herumzulaufen war auch blöd. Schnell entschlossen zog sie auch die linke aus. Sie verknotete beide und steckte sie seitlich in ihren Rockbund. Ihre Mutter hatte auch immer irgendein Aksesswa an, das war ganz wichtig. Ohne Aksesswa war man keine richtige Dame, sagte die Mama, sondern nur eine Göre. Ab heute würde Lora keine Göre mehr sein. Sie würde irgendwo hinziehen, wo sie wie eine Dame mit Respekt behandelt werden würde. Niemand würde je wieder mit ihr so umgehen. Niemand!

Die Gedanken an ihr gerade erlebtes Leid verdichteten sich, verdunkelten den strahlenden Sommertag und taten ihr weh, und sie musste wieder laut weinen. Niemand hörte sie hier. Sie konnte sich endlich gehen lassen. Es schüttelte sie richtig. Aller Kummer der letzten Jahre. Über ihren Vater. Die ewigen Streitereien zwischen ihren Eltern. Das Gefühl, selber gar nicht richtig gesehen zu werden. Nur was sie falsch machte wurde gesehen. Und geahndet. Tag für Tag.

Ihre Nase lief über. Sie hatte kein Taschentuch. Was soll’s - die Socke tat es doch auch. Unglaublich, wie viel in so einer Nase drin sein konnte! Sie heulte trotzdem weiter und musste noch mehrmals schneuzen, bis die Socke, die ja nicht für sowas gemacht war, zu tropfen anfing. Nun musste sie das baumelnde Ding hinten im Rockbund einstecken, denn es war eklig, dass der Rotz ihr von oben auf das Knie tropfte. Hinter ihr konnte er nun ungehindert auf die Straße fließen, das störte sie weniger. Dann halt kein schönes Aksesswa. Da, wo sie hinginge, könne sie ja neu beginnen. Musste ja nicht jetzt gleich sein.

Sie hatte ihren Apfel schon längst aufgegessen, sogar mit dem Butzen. Ihr war aufgefallen, dass sie ein bisschen wenig Proviant dabeihatte. Aber bis zu dem See in der Ferne würde sie es schon schaffen. Allerdings schien er immer noch ungefähr gleich weit weg zu sein. Es war wohl weiter als zuerst gedacht. Sie nahm das Sunkist aus dem Turnbeutel und steckte den Strohhalm mit der spitzen Seite ein. Wie das herrlich schmeckte! So etwas durfte sie normalerweise nie haben. Es standen nur zwei solche Tüten ganz weit oben im Regal in der Vorratskammer. Für Gäste. Aber so, wie der Vater gemein zu ihr gewesen war, hatte sie es sich verdient, etwas ganz Besonderes zu genießen. Ein Dieb war sie ja angeblich sowieso. Und ohnehin waren keine Gäste zu erwarten. Jetzt, wo sie weggegangen war, konnte es ihr auch egal sein. So egal, wie es dem Vater war, wo die Mama war.

Wo war Mama bloß hingefahren? Sie hatte Papas Auto genommen. Ohne das Auto konnte er nicht zur Arbeit. Er hatte in der Firma angerufen und denen erzählt, er sei krank und könne nicht aufstehen. Sie hatte es genau gehört. Dabei war er gar nicht krank. Er war sogar sehr gesund. Sie hatte ihm das auch gesagt und da hatte er sie angebrüllt, es gehe sie gar nichts an und sie solle nicht andere Leuten beim Telefonieren belauschen, das gehört sich nicht.

Jedenfalls war kein Lebenszeichen von der Mama gekommen, und auf dem Zettel, den sie geschrieben hatte, stand ja nur, sie sei beim Friseur, ciao. Der Vater hatte den Friseur nicht am Abend angerufen, wieso das so lange dauert und ob sie denn immer noch dort sei. Am Montag hat der Friseur zu, schnaubte der Vater bloß. Und als die Mama nachts dann immer noch nicht heimkam, tat der Vater einfach so, als hätte es sie nie gegeben.

Na, vielleicht würde der Papa es dann heute Nacht genauso machen, wenn Lora nicht heimkam. Dann hätte er seine Ruhe, und sie hätte auch endlich ihre Ruhe. Sie würde sich umnennen. Lorena wollte sie heißen, das war viel eleganter. Viel damenhafter. Nicht so görig. Sie würde einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit ziehen und nie wieder görig sein. Obwohl… sie wusste eigentlich nicht, wie das sein könnte. Ob ihr das wirklich gefiele. Aber egal. Manchmal muss man sich halt radikal ändern. Dann kann man als jemand Neues ein neues Leben beginnen.

In der Zwischenzeit war Lora schon sehr weit gelaufen, viele Kilometer, an Feldern und Wiesen vorbei. Immer nur Felder und Wiesen. Es gab keine Bäume am Straßenrand. Die Straße war staubig, aber an manchen Stellen fühlte sich der Teer unter den Schuhen weich an. Es war wirklich furchtbar heiß. Der See kam nicht näher. Es war so schwer abzuschätzen, wie weit es noch sein könnte. Die Luft oberhalb des Sees war komisch. Sie lag da in Streifen, die sich bewegten, silbern und glitzrig. Der See spiegelte sich in der Luft. Oder spiegelte sich die Luft im See, und der leuchtete deshalb so merkwürdig? Manchmal sah es sogar so aus, als wäre da gar kein See, sondern so etwas wie Wolken am Boden.

Lora hatte schreckliche Kopfschmerzen vom Weinen. Ihre Kräfte ließen nach, sie hatte das Gefühl, als bekäme sie Fieber. Ihre Stirn war glühheiß. Bestimmt war sie auch knallrot im Gesicht. Die Rückseite ihres Halses tat auch total weh. Und der Hintern. Und irgendwie wurde es immer mühsamer zu gehen. Sie konnte eigentlich nicht mehr. Nirgendwo war Schatten. Sie schleppte sich noch mühevoll ein gutes Stück weiter und ärgerte sich wahnsinnig, dass sie nicht auch noch wenigstens das zweite Sunkist mitgenommen hatte. Wie gut hätte ihr das jetzt geschmeckt! Aber stattdessen stand es hoch oben auf dem Kellerregal. Als hätte überhaupt jemand gemerkt, wenn es weg gewesen wäre…

Lora faltete ihren leeren Turnbeutel ganz klein zusammen und wickelte das Band mehrfach um den Stoff. Sie konnte den Beutel jetzt nicht mehr gebrauchen. Sowieso würde sie nicht mehr in die Schule zurückgehen nach den Ferien. Sie legte den Beutel an den Straßenrand und beschwerte ihn mit einem Stein. Ciao, oller Beutel, verabschiedete sie sich von ihm. Etwa hundert Meter weiter ließ sie auch das Socken-Aksesswa unter einem weiteren Stein. Nichts Unnötiges mitschleppen. Sich selbst zu schleppen war schon so mühsam.

Das Kopfweh wurde immer schlimmer und jetzt war ihr auch noch ganz übel. Der Kopf war inzwischen so heiß, als hätte sie eine schwere Grippe. Sie fühlte sich wahnsinnig schwach, so als könnte sie jeden Moment einfach ohnmächtig werden. An der Böschung lag ein alter Autoreifen. Nur ein Reifen, keine Felge dran, einfach ein staubiger grauer Reifen. Lora beschloss, sich da kurz hinzusetzen. Bestimmt war auch der Autoreifen froh über ein bisschen Gesellschaft. Er hatte wer weiß wie lange da so allein und verlassen gelegen.

Neben dem Reifen blühten eine ganze Menge Blumen. Lora pflückte ein paar schöne gelbe und blaue und setzte sich in den Reifen hinein. Der war ganz heiß. Das hatte sie nicht erwartet! Nach einiger Zeit gewöhnte sie sich aber daran und konnte es ganz gut aushalten. Sie brachte sich in ihm in eine schwebende Position, so dass ihr schmerzendes Hinterteil nicht den Boden berührte. Nun hatte sie die beste Sonnenliege der Welt! Auf ihren Rock streute sie die Blumen, die süß und eigenwillig dufteten. Wie schön das aussah!

Dann wurde ihr mit einem Mal ganz klar, dass nicht nur der Reifen da ungeliebt in der Landschaft lag. Auch sie selbst wollte scheint’s keiner mehr. Keiner war gekommen, um sie zu suchen. Sie fehlte niemandem. Zwei einsame Gestalten, die sich beide mies und traurig gefühlt hatten, dachte sie. Jetzt war sie ja da, und der Reifen hatte durch sie einen neuen Sinn bekommen. Das gefällt ihm sicher! Lora hatte das Gefühl, sie werde so schnell nicht wieder aufstehen können. Sie war so müde und matt. Sie schloss die Augen.

Nach einer Weile spürte sie, dass etwas sich auf ihr bewegt hatte. Wie merkwürdig! Sie öffnete die Augen wieder und sah, dass auf ihrem Schoß zwischen den bunten Blumen eine kleine Schlange lag. Die hatte sich eingerollt und schlummerte. Sie hatte Zacken auf dem Rücken. Dunkelgraue schuppige Zacken auf hellgrauem schuppigen Untergrund. Ein hübsches Aksesswa. Lorena hatte keine Angst. Sie schloss die Augen wieder. Nein, vor Tieren hatte sie keine Angst.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unverbesserlich.

                                                                                           

Das Blatt der Kastanie
Weiter fliegen

Kommentare


Eigene Webseite von Beepworld
 
Verantwortlich für den Inhalt dieser Seite ist ausschließlich der
Autor dieser Homepage, kontaktierbar über dieses Formular!