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Her Majesty
30.10.2023 14:33

Her Majesty is a pretty nice girl but she doesn’t have a lot to say

 

Als sie erwachte, zogen noch graue Spinnwebfäden der Nacht durch das ganze Zimmer. Ein paar Ritzen des Rollos ließen ein bisschen faden Morgenschimmer in das Zimmer sickern, und wenn sie auf die Ritzen starrte und hinterher die Augen schloss, flackerten bereits ein paar bunte Streifen hinter den Lidern. Es war Zeit. Sie beschloss, dass der Tag jetzt anfangen musste. Es war schließlich ein ganz besonderer Tag!

Sie schleuderte ihre Füße aus dem Bett und sprang hinunter auf den Boden. Natürlich so leise wie möglich. Dann öffnete sie behutsam die Schranktür. Das Scharnier müsste mal geölt werden, aber sie schaffte es, so vorsichtig zu sein, dass kein Knarzen ertönte. Dann hockte sie sich davor auf den Boden. Im untersten Fach hatte sie die Schätze gebunkert. Zum einen ein rotes Deckchen aus Samt mit einem weißen Fransenrand. Das hatte sie letzte Woche bereits beklebt. Nähen konnte sie nicht, aber im Umgang mit Klebstoff konnte ihr keiner was vormachen.

Zum anderen waren da unten viele Tücher, die vermutlich von ihrem alten Stubenwagen stammten – ein fast durchsichtiger feiner Stoff mit aufgestickten rosafarbenen Blümchen, sehr edel sah das aus. Dann gab es einen schon leicht zerschlissenen dunkellila Seidenstoff mit einer altrosa Rückseite, die stellenweise durch das Lila durchschimmerte, wo es fadenscheinig geworden war und ein Tuch, das - wie ihre Mutter es nannte - in scheelem Grün eingefasst von prunkvollen goldenen Girlanden erstrahlte. Angeblich sei das Grün giftig, aber giftgrün sah ihres Erachtens ganz anders aus, viel dunkler und ganz viel weniger schön. Dieses hier war weich und mild, voller Liebe und Verheißung.

Sie nahm den sorgfältig gepackten Stapel der Tücher heraus und die schöne rote Kordel mit dem Glanzeffekt. An den Enden hatte sie jeweils eine Troddel mit Fransen. Wie liebte sie diese Schnur! Was hatten sie zusammen schon alles erlebt! Sie war so vielseitig einsetzbar und hatte schon so herrliche Akzente in allen ihren Spielen gesetzt.

Aus dem Schuppen hatte sie zwei Bambusstangen entnommen und diese in ihrem Zimmer mit dem zackigen Tomatenmesser schließlich in passende Teile zerkleinern können, was aber durchaus nicht einfach war. Das Messer taugte eher nur, um rundherum einen Rand einzuritzen, an dem sie dann das Holz mit Muskelkraft über einem breiten Kieselstein zerbrechen konnte. Danach hatte sie die überstehenden splitterigen Teile mit der Nagelfeile aus dem Badezimmer glattgeschliffen. Die Nagelfeile war danach nicht mehr wirklich gut brauchbar, aber bisher hatte es noch keiner bemerkt. Den Kieselstein hatte sie aufgehoben, weil auf seiner Oberfläche gut erkennbar feine weiße Kalkäderchen hervortraten, wie ein Gespinst. Mit etwas Fantasie hatte sie den Untergrund gelb bemalt und die Enden der Äderchen blau, und nun sahen die weißen Linien aus wie eine Krone.

Melvi öffnete nun, mit den Tüchern, der Kordel, den Bambusstücken und dem Deckchen unter dem Arm, und dem Stein in einer Hand sehr vorsichtig die Tür und tappte barfuß zum Wohnzimmer. Im Gang kam sie sich wegen der grünen Wände und dem durch das Rollo weggefilterten Licht, von dem nur zaghaft dünne Strahlen durch die oberen Ritzen in den Raum zitterten, stets wie in einem Aquarium vor. Wie wunderschön dieses Grün war! Hätte sie wählen können, wo ihr Bett stünde, dann wäre es hier. Aber das ging ja leider nicht.

Im Wohnzimmer waren die orangeroten Vorhänge zugezogen und der ganze Raum war rot wie die dünne Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, wenn sie sie gegen die Sonne hielt. An manchen Tagen konnte man dann fast durchsehen. Und wenn man bei hellem Sonnenschein die Augen schloss, sah man im Inneren auch so aus. Heute war also das Wohnzimmer eine rote, kuschelige Höhle mit beigen Poltermöbeln. Sie hatte für ihr Vorhaben den Sessel ausgewählt und den drehte sie nun mit großer Anstrengung um 180°, so dass er nicht mehr zum Tisch, sondern zur Tür blickte. Dann fing sie an, den Sessel mit den Tüchern zauberschön herzurichten.

Sie drapierte die Tücher geschickt, dass es so aussah, als wäre der ganze Sessel ein Feensessel. Sie schaffte es sogar, die Bambusstäbe so einzustecken, dass sie eine Art Baldachin mit Vorhängen kreieren konnte. Die liebe Kordel musste sie nun – was ihr sehr leidtat, aber Opfer musste man bringen, wenn man ein wirklich großartiges Geschenk machen wollte - mithilfe einer Schere mühsam in zwei Teile zerteilen. Nun band sie jeden der beiden Vorhänge an der Seite mit einer prachtvollen Schleife zusammen.

Auf den Boden vor den Sessel legte sie das wundervolle Deckchen und darauf den Kronenstein und einen aus einem Nachbarsgarten stibitzten schönen Apfel, den sie an ihrem Pyjama ganz blank poliert hatte, so dass märchenhafte Lichtreflexe drauf entstanden. Inspiriert durch diese kleinen Lichtfensterchen öffnete sie einen der orangeroten Vorhänge zum Teil, damit mehr Licht in das Wohnzimmer fiel. Sie konnte es so arrangieren, dass das Morgenlicht genau auf den Sessel strahlte, so dass er wie eine strahlende Lichtoase ins Zimmer strahlte.

Voller Begeisterung und mit einem vor Liebe überquellenden Herzen stand sie nun vor dem Sessel und freute sich wie ein Schneekönig. Das sah alles so herrlich aus, wie wundervoll, wie groß würde die Überraschung und das Entzücken sein! Sie fasste sich selbst an den Händen und drückte diese vor lauter Glück, wie fantastisch ihre Idee gelungen war.

Dann konnte sie es nicht mehr aushalten. Es war zwar noch lange nicht wirklich Aufstehzeit, aber es war ja dieser besondere Tag. Sie schlich sich ins Schlafzimmer der Eltern und weckte ganz liebevoll und zärtlich ihre Mama. Komm mit, du musst unbedingt mitkommen! Bitte bitte! Das ist ganz wichtig! Nein, jetzt gleich, du wirst staunen, komm bitte!

Unwillig und leicht verärgert stand die Mutter schließlich auf und ließ sich von der Kleinen ins Wohnzimmer ziehen. Bei so viel Energie bereits am frühen Morgen blieb ihr nichts anderes übrig.

Im Wohnzimmer angekommen hüpfte das Mädchen vor Aufregung auf und ab, umarmte ihre Mutter um die Taille und jubelte ihr zu: Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag! Schau mal, das ist für dich!

Aha, sagte die Mutter. Und was soll das sein?

Dass sie es nicht sofort erkannte, das war doch der Thron für sie als Feenkönigin, und davor die Krone und der Reichsapfel!

Die Mutter sah sich das ganze kurz an und dann sagte sie: Und deswegen weckst du mich auf? Du sollst nicht mitten in der Nacht spielen. Räum jetzt wieder auf und geh nochmal ins Bett. Morgen kriegen wir Besuch, da kann ich so eine Unordnung nicht brauchen.

Sie machte das Deckenlicht an, damit die Kleine besser aufräumen konnte, und ging selbst wieder zurück ins Bett.

Melvi stand ungläubig vor dem wundervollen Königinnenthron, dessen ganze Magie durch das Deckenlicht verschwunden war. Nur noch ein mit Lumpen bedeckter Sessel stand da. In diesem Licht sah alles aus wie ein schlampiger Wäscheberg. Plötzlich wurde Melvi sich bewusst, dass ihr die Tränen über die Wangen kullerten. Sie setzte sich selbst auf den geschmückten Platz, schloss die weißen Vorhänge mit den Blümchen und der Sessel zuckte und vibrierte unter ihrem heftigen Schluchzen.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

An Tagen wie diesen...
Ein Quantum Wunder

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