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Eine unmöblierte Geschichte
15.11.2023 19:58

Alfons war ein sehr chaoslebender Mensch, insbesondere seit die Pandemie alle zum Fußgängertum und ansonsten zum Zuhausebleiben verknackt hatte. Da nun ohnehin keiner mehr zu Besuch kam, türmten sich seine geheimen Schätze, die er stetig auf der Suche nach neuer Inspiration durchwühlte, ungeniert im letzten Raum, der vom sogar in dieser Krisenzeit unvermeidbaren Auszug noch verschont geblieben war, und so sah inzwischen auch sein Seelenleben aus – voller seltsamer Bilder, durchwühlt und wild.

Er wachte auf, den Geschmack von Haaren auf der Zunge. In einem unendlich langen Traum hatte er Herrn Hahnemann samt Globuli mit Haut und Haar und vermengt mit Fleckenteufel und Vanillin verschlungen, um den Effekt der Pilze, die er bei einem Nachtspaziergang unter einer Laterne selbst gefunden hatte, zu vertreiben. Durch das grässliche Pilzragout hatte er eine Halluzination gehabt, in der eine graue Eminenz im Hintergrund die ganze Welt mittels Wechselstrom und einem schaurig-traurigen Funkenregen entsäuert und entsteint und mit einem neuen Kern versehen hatte. Im nächsten Schritt wurde das Redukt gebrannt, und zum Weltbrand destilliert. So wurde also den Menschen der Rausch ein Muss. Mit einer Taste, die sich hinter dem Ohr befand, konnte man eine Rausch-Unterdrückung erwirken, und mit einer anderen wurde das Suchtpotential verschoben auf den nächsten Zungenkuss mit der Muse. Da tat ein bisselchen Hahnemann echt gut und war Balsam auf die Wunder der Nacht, insbesondere da Alfons keine Lust auf eine weibliche Muse hatte.

Erwacht war er von einem sehr lauten Geräusch, möglicherweise aus seiner eigenen Kehle. Tatsache, vor lauter selbst verursachtem Lärm fühlte er sich richtig leer geschnarcht. Er erinnerte sich, dass er vor dem Hahnemann-Traum noch eine U-Boot-Reise durch den Marianengraben gemacht hatte, wo er einen Liebsten, von dem er zwar wusste, dass es ihn gab, aber zu dem er kein Gesicht hatte, im Traum verpasst hatte, weil er am falschen Pol gewartet hatte. Er träumte den Liebsten, und der träumte ihn. Alfons packte den ungesehenen Liebsten, der sich im Wachtraum verirrt hatte, am Schlafittchen, um ihn in seinen eigenen Halbschlaf hineinzuziehen, was nicht gelang.

Sein Hals schmerzte nach der durchsägten Nacht. Der Gedanke “Silence is sexy“ durchkreuzte sein Gehirn. Er konnte die Buchstaben lesen, als wären sie eine aufleuchtende Neonreklame. Auch so ein Phänomen das ihn heimsuchte, seit er dieses nutzlose, genverändernde Zeug bekommen hatte. Schwer beschämt erinnerte er sich daran, wie der letzte Liebste ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht nur zeitweise, sondern die ganze Nacht so unattraktiv vor sich hin lärmte. Er würde bestimmt keine weitere Nacht mit ihm freiwillig verbringen, da sei Allah vor, waren seine Worte.

Des Traummanns Haare schmeckten nach ranzigem Fett und faulen Eiern. Wenigstens hatte er nicht auch noch einen dicken Schnurrbart gehabt, wer weiß, ob Alfons nicht sonst noch Essensreste einer Abendmahlzeit mit hintergeschluckt hätte.

In dem Moment klopfte es im Schlafzimmer extrem laut an der Tür. Sofort verstärkte sich sein Tinnitus. Die Tür ging nicht auf. Es gab ja nur diesen einen Idioten. Mit teutonisch abgeklärtem Blick schnipste er meist lässig mit dem Hosenträger und ähnelte Alfons irgendwie, wenn er so aus dem Spiegel grinste. Der ließ ihn einfach nicht allein - seine Anwesenheit ließ sich nicht verhindern. Das Erstschlimmste an der Situation war: Wer geteilt ist, hat nicht mitzuteilen. Sein Denken war übernommen worden. Wo auch immer Alfons hinging und verblümt darauf hoffte, mal selber denken zu können, ohne von diesem ständigen Begleiter Vorschläge zu bekommen, ließ der sich einfach nicht abhängen. Alfons wünschte oft, er wäre auch sonst nur ein halber Mensch und irgendwer würde verhindern, dass die zweite Hälfte ihn jemals träfe. Aber dem war nicht so. Mit dem Spiegelalfons war er immer zu zweit. Im Leben außerhalb des Spiegels war er auch geteilt, aber blieb nur halb, wie sehr auch immer er sich hier wünschte, dass es anders wäre, aber die sich findenden Hälften ergaben mit ihm kein Ganzes. Das Zweitschlimmste war: der andere machte immer wieder dieselben Fehler - bis auf die 5. Stelle hinterm Komma! Wenn der große Zampano ihn endlich mitnimmt, komm ich mit, ob ich will oder nicht, musste Alfons denken.

In ihren Gräbern würden sie dann leise rotieren, neben dem Grabstein stünde ein Obstbaum, und sie würden sich dort gegen die Newton’sche Apfelfalle wehren müssen. Ein von Ribbeck’scher Birnensturz wäre ihnen unter der weichen Erde lieber, sinnierte Alfons. (Er mochte keine Äpfel, insbesondere deren schrecklichste Ausprägung künstlicher Aromen in türkischem Apfeltee, und hasste Gedichte, die aufgrund erlittenen Ungemachs durch den strengen Vater lange nach der Schulzeit immer noch in seinem Gedächtnis nachklangen. Nach jeder Runde Prügel war er deutlich besser gescheitert, einige Zeilen weiter hinten nämlich.)

Auf dem Friedhof sah er jetzt von außen auf die Gräber. In den Rissen der neuen Tempel daneben, den künftigen Ruinen, wo bereits Gras anfing zu wachsen, leuchteten und blinkten die Sender der neuen Weltordnungsherrscher. Selbst in die Unterwelt drang durch Spalten Licht, versetzte die Toten in Angst und Schrecken. Der Himmel oben war zerflogen, die Götter spielten mal wieder Tik-Tak-Toe mittels Chemtrails.

Alfons ertappte sich, dass er schon wieder in einen Traum abgedriftet war. Sein Fieber war ziemlich hoch. Sonst war er aber noch relativ gesund. Außer das mit dem Tinnitus. Und dass das nächtliche Wandern ihn fast blind gemacht hatte. Er ging nämlich mit Vorliebe zu Zeiten auf die Straße, wo es verboten war. Aber er vertrug den Regen nicht. Seine ungeschnittenen, ergrauten Haarzotteln verzopften sich von dem novembergrauen Nieselregen und ein Schnupfen hatte ihn erwischt. Er wünschte Malevich-Schwarz könnte seine Farbe sein, wie das Schwarz der Haarpracht der stets so gutaussehenden Allah-Freunde. Dazu trüge er passenderweise die Strahlenkrone, eine Korona. Da waren sie wieder, die komischen Stimmen in seinem Kopf. Manchmal kam es ihm vor, sie kämen aus dem Wandschrank.

Dort, zwischen Hemden und Hosenträgern, in dieser kleinen Zelle, die er als letzte Zuflucht one-way präpariert hatte, schlug eine Faust immer schneller und eine Stimme kippte hässlich und verzweifelt im Versuch, lauter zu brüllen. Haha, geh doch weiter in jede Richtung, dachte sich Alfons, und verzog sarkastisch die Mundwinkel. Dem ehemals Stimmberechtigten da im Schrank hatte er seinen Herrgottswinkel leer geträumt. Aus der Traum! In Alfons‘ Haus durfte es um Himmelswillen keinen Gott geben!

Man musste dem anderen neue Suren geben, damit er endlich unendlich würde, so hatte Alfons entschieden. Nicht nur vielleicht, sondern unbedingt. Die verbrauchten Metaphern hatte er bereits im Giftmüll entsorgt und in der Makulatur die richtigen Zeilen gesucht, die er dem anderen eingeben wollte, damit er endlich verstünde. Ja, die Leviten hatte er ihm tatkräftig gelesen. Bei seinem Vater hatte er gelernt, worauf es ankam. Dabei war die große Schiebetür auf spektakuläre Weise zu Bruch gegangen und es waren Zähne geflogen. Denn ohne den Liebenden durfte es nur noch sprachlos flaches Land geben.

Im Reich der Hemden waren sechs Tage vergangen seither. Ohne Nahrungsmittel hatte Mustafa eingesehen, dass es relativ zwecklos war, sich bemerkbar zu machen. Nach einem letzten Aufbäumen hatte er sich völlig entkräftet in sein Schicksal gefügt. Sein Ich offenbarte sich ihm in jeder Zelle und zeigte ihm, dass sein Gott allerdings trotz aller Allah-Anflehung nichts wirklich Hilfreiches für ihn tun wollte. Mustafa hatte zuvor vollmundig verkündet, er sei viel mehr als nur die Summe seines genetischen Materials. Das wäre ja sonst so, als wäre die Musik im Schaltplan des Radios enthalten. Seine Musik würde von Allah gemacht. Der spiele ihn und leite ihn auf seinen Wegen.

Alfons zuckte zusammen, denn wieder sang dieser Allah leise, aber doch sehr störend aus dem Munde seines Dieners hinter der Wand, wie er es die letzten Tage wieder und wieder getan hatte.

Wenn der Lärm nicht endlich aufhörte, würde sich dieses Ich womöglich auch noch kopflos be-haupten. Alfons grinste selbstverliebt bei diesem schönen Wortspiel und in heimlicher Vorfreude auf die geplante Entmissionierung. Es würde einfach sein. Auf dem Holzklotz auf der Terrasse steckte das große Beil. Er müsste nur endlich mal aufstehen. Es war Zeit.

Mühsam setzte er sich auf. In seinem Kopf drehte sich alles in wirbelnden rot-gelb-schwarzen Kreisen bei dem Versuch, die Beine auf den Boden zu setzen. Immer an der Wand lang ist todsicher, sagte er zu sich selbst, nicht nur für mich. Dennoch hatte sich seine Vorfreude auf das Erlebnis stark abgeschwächt. Sein Kopf ließ ihn nicht in Ruhe. Die Haare des Hahnemanns verfädelten ihm die Zähne, er konnte den Mund nicht mehr aufbekommen. Und als er schließlich die Schlafzimmertür öffnete, war der Weg blockiert. Dort musste ein Kampf stattgefunden hatte. Da lagen Trümmer, als ob das Vordach abgerissen, einmal übers Haus und zurück durchs Fenster geschleudert worden sei. Eingestürzte alte Bauteile. Der Boden war außerdem voller Zähne und Haarbüschel.

Er verschob seine Pläne auf später und legte sich erstmal dazu. Nach 2 Wochen wurde er gefunden. „An Corona oder mit Corona“ war die Frage? Bei der Leiche des türkischen Möbelpackers im Schrank hieß es jedenfalls „an“.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Ein Quantum Wunder
Ode an die Freude

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