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Fe
Eine blaue Rhapsodie
29.02.2024 23:12

Es war schwer, so scheuverklappt wie man nach einem langen Tag mit der Kollegin zwangsweise wurde, noch irgendetwas zu machen, das tatsächlich einen guten Ausgleich zu den Qualen der Arbeitsstunden schaffen konnte. Heute hatte diese Schreckschraube sie begrüßt mit „Geh mir bloß aus den Augen mit diesem Mantel, da wird mir ja ganz schlecht von der Farbe!“ Den mondänen blauen Mantel hatte Henrike gestern voller Stolz in einer Boutique erworben und bis zu diesem Moment mit großer Freude getragen.

Sie wollte sich jedoch nicht ihr Leben vermiesen lassen, und so hatte sie mit sich selbst ausgemacht, an diesem Abend in die After Work Lounge zu gehen und sich ein bisschen Jazzmusik um die Ohren schwirren zu lassen. Nach etlichen Runden um das einbahnstraßendurchzogene Gebiet, in dem sich die fragliche Lokalität befand, musste sie aufgeben, dort einen Parkplatz zu finden und sich mit dem gebührenpflichtigen Großparkplatz begnügen. Im Trab und außer Atem traf sie in dem Gebäude ein, wo das Konzert stattfand.

Schon von draußen tönten ihr Trompetentöne entgegen. Sie hatte es wie üblich geschafft, zu spät zu kommen, und missmutige Bürger drehten sich ob ihrer hektischen Schritte um, um zu sehen, wer da die Vorstellung störte. Stühle gab es auch keine mehr. So entschied sie kurzerhand, sich ganz hinten auf den Boden zu setzen. Da würde sie niemandem auffallen, und ob sie gut sah oder nicht, war ja nun eher gleichgültig. Wichtig war, dass sie gut genug hörte, und das war der Fall.

Als ihre Atmung sich etwas beruhigt hatte, begann sie, sich den wehenden Klängen hinzugeben. Die Trompete übertönte das ziemlich unrunde Wirrwarr aus perlenden Klaviertönen, trocken, aber elegant angeschlagenen Bassnoten und harten Schlagzeugakzenten mal freudig schrill, mal melodramatisch abgleitend ins Bodenlose. Bereits nach dem ersten Stück strebten einige Hausfrauen enttäuscht dem Ausgang zu.

Von ihrem Platz aus hatte Henrike einen guten Ausblick auf jedwedes Geschehen vor der Bühne, wenn auch nicht auf die Bühne selbst, und konnte somit die frustrierten Gesichter des Freundinnentrios gut beobachten. Für sie kam deren vorzeitiger Abgang sehr gelegen, denn so konnte sie einen Platz im hinteren Drittel einnehmen und erfreulicherweise nun auch einen Blick auf die vier jungen Männer erhaschen, die sich an ihren Instrumenten verausgabten.

Und wie sie sich ins Zeug legten! Tatsächlich spritzte bereits nach dem dritten Stück sichtbar der Schweiß im Rampenlicht, als einer der kaum dreißigjährigen, gutaussehenden Musiker seinen hochgesteckten Dutt schüttelte, aus dem eine Strähne ihm genau vor den Mund gefallen war und ihn dadurch beim Spielen behinderte.

Auf graublaue Töne über einer Autobahn voller qualmender Auspuffe von Dieselfahrzeugen, die sich mühsam aneinander vorbeischoben, während die Landschaft hinter den Leitplanken sich kaum merklich veränderte, folgte endlich eine Flut von grellrot glühender Lava mit schwarzen Gesteinsbrocken, die im Dunkeln eine Flanke eines steilen Vulkans herunterquoll. So jedenfalls empfand Henrike die Musik, und sie war nicht sonderlich beglückt über diesen Verlauf. Unter angenehmer Feierabendmusik hatte sie sich eigentlich etwas anderes vorgestellt. Immerhin war der Abend aber kostenlos, da konnte man ruhig noch ein bisschen durchhalten und nicht, wie einige ältere Herren, empört den Saal verlassen.

Monet hatte versucht, so zu malen, wie ein Vogel singt, dieses Quartett hatte jedoch offenbar den Ehrgeiz so zu spielen, wie Sodbrennen riecht. Henrike versuchte, sich mit geschlossenen Augen in den Schmerz hinein zu entspannen, den die schrägen Töne ihrem Trommelfell bereiteten und die Farben zu genießen, die ihr Gehirn ihr bescherte.

Der Rhythmus des aufgepeitschten Schlagzeugs hinterlegte die Bemühungen der anderen drei Künstler mit apokalyptischen Kaskaden, gemischt mit dem Kreischen einer Kreissäge als steter Untermalung. Ein mildes debussyhaftes Dahinplätschern frühlingserwachter Pianoklänge wurde hechelnd verfolgt von synergiesüchtigen Zupforgien des Bassisten. Von dem undurchdringlichen, gnadenlosen Geräuschteppich des Schlagwerkers prallten diese zarteren musikalischen Versuche jedoch hilflos ab und kugelten beiseite, wo der Trompeter sie sicherheitshalber mit stramm marschierenden Tonfolgen festtrat, so dass sie sich nicht mehr aufbäumen oder entwinden konnten.

Die Reihen 3 bis 14 hatten sich zusehends geleert. Henrike hatte die Gelegenheit genutzt, ganz nach vorne in die Mitte zu wechseln. In ihrem blauen Mantel bot sie dem groben Musikbrei rein optisch Paroli und ihr Anblick schien die Musiker sogar noch zu beflügeln. Sie bemühten sich, gegen die Farbgewalt des Filzmantels anzukämpfen und griffen zu immer klotzigeren Akkorden, um die Hauptattraktion im Saal zu bleiben. Die jungen Männer hatten die Phase von „zart, süß und unwiderstehlich melodisch“ definitiv schon lange hinter sich gelassen - der Tradition von wiegenliedgleichen Variationen hatten sie eindeutig schon vor Jahren abgeschworen. Sie träumten nach Leibeskräften vom großen Durchbruch. Vermutlich Alpträume. Und vermutlich ging es um den Durchbruch durch das steinerne Tonnengewölbe der alten Halle, die als Location für dieses Konzert diente. Zum Glück hielt sie stand, wie zuvor anno dazumal den Angriffen des Schwedenkönigs.

Das Konzert nähert sich dem Ende und Henrike entdeckt plötzlich zu ihrem Erstaunen, dass auch die Reihen 1-3 inzwischen abgewandert sind. Sie dreht sich um und stellt fest, dass sie als einzige verblieben ist. Die Band hingegen widmet sich mit brachialer Gewalt der Performance des letzten Musikstücks ihrer neuen CD (die sie sicherheitshalber in einem mindestens 200 Stück beinhaltenden Koffer mitgebracht hat, falls sie reißenden Absatz fände), und bemüht sich erfolgreich mit unvermindertem Elan, die Urgewalt ihrer Eigenkomposition monsunartig über Henrike herunterprasseln zu lassen.

Das Dsch-Dsch-Dsch des Schlagzeugs wird gefühlt immer noch lauter, der Klavierbändiger spielt nun im Stehen und springt dabei rhythmisch auf und nieder, der Bassist klettert fast wie ein Schimpanse auf seinem Instrument herum, auf dem er nun obendrein auch noch zwischen dem unmelodischen Reißen an den Seiten trommelt. Den Hals des armen Instruments wirbelt er hin und her, es ist ein Wunder, dass keine Holzteile dabei abbrechen und zu Boden rieseln.

Der Trompeter ist himbeerfarben angelaufen unter seinem dunklen Haarschopf und sein Schweiß spritzt inzwischen bis auf den blauen Mantel von Henrike in Reihe 4. Käme jemand auf die Idee, jetzt ein Foto zu schießen, ergäbe sich ein herrlicher Kontrast zwischen seinem vor Erregung ganz aufgedunsenen, vor Anstrengung zu einer grässlichen Fratze verzerrten Gesicht, das vorhin noch so kindlich gewirkt hatte, und dem kobaltblauen Panzer von Henrike, die lässig ein Bein über das andere geschlagen hat und leicht mit dem Fuß wippt.

Als das Stück in einer alles verschlingenden Kakophonie kumuliert und schließlich mit einem langen Tremolo mit Kettensägenuntermalung ausklingt, applaudiert Henrike pflichtschuldig. Ihr einsames Händeklatschen hat zum Glück keine Zugabe zur Folge, so dass sie ungehindert in die laue Nacht hinausgehen kann, wo sie ohrenbetäubende Stille empfängt. Im Licht der Straßenlaterne leuchtet der Mantel friedvoll und abgeklärt, als wäre nichts gewesen.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

Statt am See

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