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Übersetzungen und Letteratour

 

 

Hin und wieder schreibe ich gerne kleine Geschichten oder Gedichte. Hier einige Leseproben.  

 

Da war doch noch was…

 
© Manuela Hoffmann-Maleki, 6.5.94
 
S. war dabei, seine dritten Zähne zu suchen, weil er ins Restaurant gehen wollte. Mühsam bückte er sich und ver­suchte, unter dem monströsen uralten Sofa etwas zu erken­nen. Dort roch es nach Urin. Hatte S. jemals einen Hund gehabt? War ein Besucher mit einem noch unerzogenen Welpen hier gewesen? Ganz sicher war er selber doch nicht für die Ursache dieses Geruches verantwortlich.
 
Über diesen Überlegungen war es S. entfallen, was er eigentlich vorgehabt hatte. Erschöpft von der für einen Greis höchste sportliche Leistungen erfordern­den körper­lichen Bewegung, versank S. auf dem durchgeses­senen Sofa. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stapel teils ungelesener, teils seit Monaten, ja sogar Jahren angesam­melter Briefe und Rechnungen.
 
S. begann gedankenverloren, die Papierstapel auf dem Tisch umzuschichten. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Rechnung: Hundesteuer. Seltsam. Wer hat hier denn einen Hund? Ich jedenfalls nicht. Und außer mir wohnt hier doch niemand. Moment mal, war da nicht doch noch jemand ande­res gewesen? Eine Frau, glaube ich, ja eine Frau war hier gewesen. Ein zärtliches, liebevolles Gefühl durchströmte S. Ja, seine Frau. Wo war sie denn, seine Frau?
 
Dann dachte er, dass seine Frau wohl verstorben war. Warum und wann, daran konnte er sich partout nicht erin­nern. Auf einmal knurrte sein Magen ganz vernehmlich. S. über­legte, ob er vielleicht etwas essen solle. Mit großer Anstrengung erhob er sich, wobei er sich an der Tisch­kante festhielt und schlurfte langsam in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank.
 
Dieser bot keinen angenehmen Anblick. Drei verkrustete Krüge standen darin mit altem Kaffee, Kaffeesatz und Milch (er kochte stets Kaffeepulver mit Milch und Wasser auf dem Herd, da dies die einzige für ihn vorstellbare Methode war, Kaffee zu machen). Außerdem waren fünf rätselhafte Metallbehälter zu sehen, von denen zwei aufgerissen waren. Etwas Hellgrünes war darin zu sehen. Der Kühlschrank stank grässlich. Eine braune Kruste be­deckte die untere Glasablage.
 
Enttäuscht schloss er die Kühlschranktür wieder. Dann schlurfte er zum Sofa zurück. Er war so müde. Hatte der lange Weg vom Restaurant ihn so viel Kraft gekostet? Nein, er war ja noch gar nicht hingegangen. Wo war das Restaurant überhaupt? Befand es sich überhaupt in diesem Stadtteil? Und wenn nicht, wo dann? Er überlegte ange­strengt, kam jedoch zu keinem Schluss.
 
Bedrückt über sein in letzter Zeit trostlos schlecht funktionierendes Gedächtnis begann er, die Stapel von Papier auf dem Tisch hin- und herzuschieben. Er fand eine bunte, fröhliche Karte, auf der offenbar Radrennfahrer sich einen Berg hinaufkämpften. Auf der Rückseite stand in riesenhafter Schrift: Lieber Vati, ich kann die Tour de France zwar mit 60 Jahren nicht mehr selber mitfahren, aber einige Strecken im Süden Frankreichs bin ich mitt­lerweile mit großer Begeisterung gefahren, und habe mich dabei an die guten alten Zeiten erinnert.
 
Erstaunlich. Wie kam jemand dazu, ihm eine Karte mit Radrennfahrern zu schicken? Es war sicher ein Irrtum. Diese Person kannte er nicht. Unterschrift: Dein Dich liebender Sohn. Er konnte sich nicht erinnern, einen Sohn zu haben. Das müsste er doch wissen!
 
Mit einem Seufzer legte er die Karte beiseite, besann sich dann jedoch anders und erhob sich, um die Karte zum Briefkasten zu bringen. Die Post hatte sicher einen Fehler gemacht. Der richtige Empfänger musste die Karte doch bekommen.
 
An der Garderobe kämpfte er sich mühsam in den Mantel, legte den Schal um, zog die Handschuhe an, nahm den Gehstock und öffnete die Tür. Draußen schien eine wunder­bare Mittagssonne. Ein herrlicher Junitag. Er ging zurück und nahm seinen Hut. Dann fiel ihm ein, dass er die Schlüssel brauchte, um die Tür abzusperren.
 
Aber wo waren die Schlüssel? Er suchte im Mantel, fand dabei ein großes Loch in der linken Tasche, suchte in der Westentasche, suchte in allen Taschen seines Sakkos, untersuchte schließlich die Hosentaschen.
 
Er ging zurück ins Wohnzimmer und bückte sich mühsam, um unter das Sofa zu sehen.
 
Dort waren sie auch nicht. Er ging zurück in den Gang, weil er zu dem Schluss gekommen war, dass er ohne Schlüs­sel nicht gehen konnte. Er legte Hand­schuhe und Hut zurück auf die Hutablage. Dabei streifte er einen Gegen­stand, der zu Boden fiel. Er bückte sich. Da lag ein rosafarbenes Etwas. Rosa mit weiß. Was das wohl war? Sah aus wie ein Gebiss. Merkwürdig, was die Leute so alles liegen lassen. Gedankenverloren steckte er es in die Manteltasche.
 
Er zog unter Jammern den Mantel aus und hängte ihn nach mehrmaligen Versuchen schließlich am Aufhänger an der Metallgarderobe auf.
 
Dann schlurfte er zurück ins Wohnzimmer. Dieser Spazier­gang war sehr anstrengend gewesen. Er war an einem See gewesen, davor hatten junge Burschen Fußball gespielt. Oder nicht? Er hatte Hausschuhe an, fiel ihm auf. Die waren jetzt sicher ganz verschmutzt. Er setzte sich auf die Couch, um seine Hausschuhe betrachten zu können. Eigentlich waren sie ganz sauber. War er überhaupt fort gewesen?
 
Er überlegte lange, und kam schließlich zu der Überzeu­gung, dass er den ganzen Vormittag auf der Couch zuge­bracht hatte. Er war ja beim Sortieren der Post gewesen. Auf dem Sofa lag noch eine bunte Karte. Rennfahrer auf dem Fahrrad waren darauf zu sehen. Wer ihm wohl solche Karten schickte?
 
Auf der Rückseite stand zu lesen: Lieber Vati, ich kann die Tour de France zwar mit 60 Jahren nicht mehr selber mitfahren, aber einige Strecken im Süden Frankreichs bin ich mittlerweile mit großer Begeisterung gefahren, und habe mich dabei an die guten alten Zeiten erinnert.
 
Diese Karte war sicherlich nicht an ihn gerichtet, denn er kannte keine Radrennfahrer. Dessen war er sich sicher. Er stand mühevoll auf, um die Karte zum Briefkasten zu bringen, damit sie an den eigentlichen Adressaten ge­lan­ge. Schließlich war sie von irgendeinem "Dich liebenden Sohn" geschickt. So eine Karte musste der richtige Vater doch bekommen. Er würde sich sicher freuen. Ach, wenn S. selber einen Sohn hätte, dann wäre er nicht die ganze Zeit so allein. Dann müsste er jetzt nicht selber zum Briefkasten gehen. Aber dabei hatte er nicht einmal eine Ehefrau.
 
Der Sohn würde sein Fahrrad nehmen, und voller Begeiste­rung in Rekordzeit zum Briefkasten fahren und die Karte einwerfen. Danach würde er heimkommen und drei ganze Brotlaibe und ein Pfund Butter vertilgen. Seltsam. Wieso kam ihm plötzlich die Vorstellung dieses fressgierigen Sohns?
 
Auf einmal sah er klar vor Augen, dass sein Sohn, ja er hatte ja einmal einen Sohn gehabt, mit leuchtenden Augen täglich vom Radtraining nach Hause gekommen war und sich immer mit enormem Appetit auf alles in der Küche befind­liche gestürzt hatte. Seine Frau konnte das Brot gar nicht so schnell schneiden und reichlich Butter darauf schmieren, wie dieser junge Mann, der ein berühmter Rennradler war, es verschlang.
 
Wie hieß er doch, dieser junge Mann? Er konnte sich nicht erinnern. Was war aus ihm geworden? Er konnte sich nicht erinnern. Wahrscheinlich war er schon längst tot. Was ging ihn überhaupt dieser fremde junge Mensch an, den er früher einmal gekannt hatte. Wie kam er überhaupt darauf?
 
In letzter Zeit hatte sich sein Gedächtnis ziemlich verschlechtert, meinte S. Aber was soll’s, man konnte das nicht ändern.
 
Sein Magen schmerzte. Er dachte nach und überlegte, ob er vielleicht Hunger hatte. Schließlich fiel ihm ein, dass er noch nichts gegessen hatte. Er stand mit wackeligen Beinen auf, um ins Restau­rant zu gehen. Dabei bemerkte er, dass er seine Zähne nicht im Mund hatte. Wo die wieder waren?
 
Mühsam bückte er sich, und sah unter das Sofa. Nichts als Staub und ein penetranter Ammoniakgestank. War er denn undicht? Das konnte doch nicht sein. Das musste sicher ein Hund gewesen sein. Aber wer hatte denn einen Hund?
 
Ihm fiel ein, dass lange Zeit hier eine Frau gewohnt hatte, die hatte einen Hund. Ja, einen schwarzen Hund. Den hatte sie fast so geliebt wie ihn, S., selbst. Moment, wieso sagte er sich, dass diese Frau ihn geliebt hatte? Wie kam er darauf? Er konnte sich nur sehr verschwommen an diese Frau erinnern. Sie hatte ein weiches, zärtliches Gesicht, er hatte sie Liebestraum von Liszt genannt. Aber warum? Er konnte sich nicht entsinnen.
 
Er konnte doch nicht gut eine fremde Frau so genannt haben. Nein, ausgeschlossen. Er hatte sich sicher geirrt. Wie war er darauf gekommen, überhaupt an diese Frau zu denken? Ach ja, sie hatte wohl ein Rennrad. Das war es. Jetzt fiel es ihm ein: er musste diese verfluchte Karte zum Briefkasten bringen, um einen armen Vater glücklich zu machen.
 
Er besah die Karte nochmals und dabei stach ihm ins Auge, dass eine sehr schöne bunte Briefmarke darauf war. Eine mit kleinen Figuren darauf. Wahrscheinlich auf Fahrrä­dern. Er überlegte, wo die Lupe sein könnte. Schließlich sammelte er Briefmarken. Er schob den Berg von Papieren auf dem Tisch durcheinander, um die Lupe zu suchen. Dabei fiel im eine alte Rechnung in die Hände, von 1973. Hunde­steuer.
 
So was, da hatte man ihm sicher fälschlicherweise eine Rechnung geschickt. Natürlich hatte er sie auch nicht bezahlt, denn es war kein Vermerk darauf, dass dies der Fall wäre. Und dabei war er immer sehr gewissenhaft. Auch recht, nach so langer Zeit, war die Rechnung längst verjährt.
 
Aber warum Hundesteuer? Diese Frage beschäftigte ihn geraume Zeit, bis er vom lauten und schmerzhaften Krachen seines Magens aus diesen Überlegungen gerissen wurde. Er hatte wohl Hunger. Er ging in den Gang, um seinen Mantel anzuziehen, da er beschlossen hatte, ins Restaurant zu gehen. Es war immerhin schon vier Uhr nachmittags. Wirk­lich Zeit. Hoffentlich gab es noch etwas.
 
Er drückte die Tür hinter sich zu, stellte kurz fest, dass daneben eine metallen aussehende Blechschachtel stand, und machte sich daran, die Treppe hinunterzugehen. Auf der letzten der drei Stufen stehend, sich mit zitternder Hand am Geländer festhaltend, fiel ihm ein, dass er ja seinen Gehstock brauchte. Er drehte sich um und wühlte in allen Taschen nach dem Schlüssel.
 
Der war nirgends zu finden. In der Manteltasche fand er nur sein Gebiss, das er, ohne es weiter zu besehen, in den Mund steckte. Jetzt sah er wenigstens ausgehfertig aus. Aber der Stock? Er stolperte auf den Steinplatten im Garten bei seinem Weg um das Haus, so dass er beinahe hinfiel. Der Schreck brachte ihn durcheinander. Er klopfte an die Küchentür.
 
Liebestraum von Liszt, machst Du auf, ich habe was ver­gessen! Keine Antwort. Vermüttung, wo bist Du, rief S. Keine Antwort. Er ging zur Hintertür. Zum Glück stand diese sperrangelweit offen. Er ging hinein, holte den Stock, ging zur Hintertür wieder hinaus und beschloss, einen Spaziergang zu machen. Komisch, wo seine Frau wohl war?
 
Auf seinem Weg kam er beim Briefkasten vorbei. Er hatte das dumpfe Gefühl, etwas vergessen zu haben. Den ganzen Weg lang dachte er nach, was es wohl sein könnte. Unter­wegs kam eine Reihe gebeugter Radrennfahrer an ihm vor­beigeschossen, die verbissen in die Pedale traten. Offen­sichtlich trainierten sie für die Tour de France. Ja, das kannte er gut von seinem Sohn. Und hinterher kamen sie heim, und die Mutter musste für jeden drei ganze Brotlaibe und ein Pfund Butter auftischen. Jaja, sehr gut kannte er das.
 
Es war ihm heiß. Hut und Handschuhe, Mantel und komplet­ten Anzug mit Jackett und Weste hatte er an. Eigentlich war dieser Tag für einen Januartag viel zu warm, fand er. Die jungen Leute auf der Straße hatten alle kurzärmlige unterhemdenartige Bekleidungsstücke an, die aus einem miserablen Material gemacht zu sein schienen. Sie starr­ten ihn verwundert an. Keinen Anstand hatten die jungen Menschen, einen alten Mann derart anzuglotzen. Er hörte sie lauthals auflachen, als er vorbeischlurfte und über­legte, wieso sie wohl über ihn lachen mochten. Immer lachten die jungen Leute, wenn er vorbeiging. Unerhört.
 
Schließlich fand er sich vor einer Gartentür ein, die ihm bekannt vorkam. Er glaubte, da wohne ein alter Freund von ihm, den wolle er, jetzt, wo er schon da sei, mal besu­chen. Am Klingelschild stand "S." Er wusste nicht mehr, wer S. war, aber er dachte, sobald er ihn sähe, würde er sich wohl erinnern.
 
Er klingelte mehrmals, aber nichts rührte sich. Vor der Tür stand etwas, das in der Sonne glänzte. Das ging ihn aber nichts an. Er öffnete die Gartentür und ging über die Steinplatten im Garten um das Haus herum. Dabei stolperte er beinahe. Auf der Terrasse angelangt, bemerk­te er, dass die Hintertür sperrangelweit offen stand. Er trat ein. Offenbar keiner zu Hause.
 
Da stand eine Couch gigantischen Ausmaßes. Darauf lag eine bunte Ansichtskarte. Radrennfahrer waren auf dieser abgebildet. Eine Tortur, dachte er bei sich. Verstohlen las er den Text auf der Rückseite, den ein "Dich liebender Sohn" ge­schrieben hatte. Er zog den Mantel aus, der ihm nun wirklich zu warm geworden war und ging zur Garderobe, um ihn dort aufzuhängen. Dabei sah er an der Tür einen Schlüsselbund hängen. Ein großes Schild hing daran mit einem Namen. "S." stand darauf.
 
Wie kommt denn mein Schlüssel hier her? Er steckte ihn gedankenverloren in die Tasche, und da sein Freund nicht zu Hause war, verließ er das Haus wieder. Durch die Hintertür. Die bunte Ansichtskarte nahm er mit. Er hatte den Eindruck, als hätte er diese Karte selbst mitge­bracht. Also konnte er sie ja auch wieder mitnehmen.
 
Unterwegs kam er an einem Briefkasten vorbei. Es fiel ihm ein, dass er ja eine Karte verschicken wollte. Wie durch ein Wunder fand er sie auf Anhieb in der Tasche seines Jacketts.
 
Wieso eigentlich war er ohne Mantel unterwegs? Er kam sich lächerlich vor, so einfach ohne Mantel, nur mit Anzug, Stock und Hut auf der Straße herumzulaufen. Die jungen Leute lachten schon über ihn. Überhaupt waren diese jungen Leute nicht nur unhöflich, sondern auch noch sehr schlecht angezogen. Ihre Oberarme waren nackt, sie hatten Hemdchen an, die an Unterhemden erinnerten. Keiner der jungen Burschen trug überhaupt eine Krawatte. Eine wahre Schande war das.
 
Nach einiger Zeit kam er an seiner Gartentüre an. Er trat ein, steckte die Hand in die Tasche und da war der Schlüsselbund und der größte Schlüssel passte in die Tür. Er schloss auf und ging hinein, vorbei an einem silbrigen Behälter, den jemand wohl auf dem Boden vergessen hatte. Er legte den Hut ab und nahm gedankenverloren sein Gebiss aus dem Mund und legte es ebenfalls auf die Hutablage.
 
Er wollte die Hausschuhe anziehen und bemerkte, dass er sie bereits anhatte. Er konnte sich aber nicht entsinnen, wann er sie eigentlich angezogen hatte.
 
Er ging ins Wohnzimmer. Irgendjemand hatte die Terrassen­tür sperrangelweit aufge­lassen. Wahrscheinlich sein Sohn, der Rennradfahrer. Der machte immer solche Sachen. Und er würde sich dann wieder erkälten. Er wollte nach seinem Sohn rufen und ihn schel­ten, aber da fiel ihm dessen Name nicht ein.
 
Nun gut, diesmal kommt er eben davon, dachte er sich. Er setzte sich auf das Sofa und begann, in dem Stapel von Post auf dem Tisch zu wühlen. Eine alte Rechnung fiel ihm in die Hände. Nur Rechnungen, niemals schreibt mir jemand auch nur eine Karte, dachte er bei sich.
 
Am Abend brachte ihn das verzweifelte Knurren seines Magens auf die Idee, ins Restaurant zu gehen. Vor der Tür stellte er fest, dass da eine metallene Schachtel lag. Ein Zettel lag darauf. Er nahm beides und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Er wühlte auf dem Tisch, um die Lupe zu suchen. Sie war nicht da. Er stand auf, bückte sich unter Schwierigkeiten, um unter dem Sofa nachzusehen. Da war sie auch nicht. Er bemühte sich, den Zettel auch ohne Lupe zu lesen.
 
Tatsächlich war der Zettel mit riesigen Buchstaben be­schriftet. Herr S., sie waren nicht da (12:00 Uhr), deshalb haben wir das Essen vor die Tür gestellt, stand darauf.
 
Oh, das Essen, tatsächlich, er hatte ganz vergessen, dass er mittags immer Essen gebracht bekam. Essen auf Rädern hieß das. Beim Anblick der Schachtel fiel ihm auf, dass er Hunger hatte. Komisch, den ganzen Tag hatte er überhaupt nicht ein einziges Mal daran gedacht, etwas zu essen. Er öffnete die metallische Verpackung zum Teil und holte eine Gabel. Langsam begann er zu essen. Das Essen war kalt.
 
S. schmeckte es gar nicht. Er nahm den Behälter und stellte ihn in den Kühlschrank. Wenig später ging er zu Bett. Der Tag war sehr anstrengend gewesen. Er erinnerte sich genau, er war an einem See gewesen und da hatten junge Leute in billigen Unterhemden Tennis gespielt. Es war ein langer Spaziergang gewesen. Und dann hatte er sogar noch einen Freund besucht.
 
Am nächsten Morgen sah er als erstes in seinen Brief­kasten. Voller Freude zog er eine bunte Ansichtskarte hervor. Auf ihr stand in riesigen Buchstaben: Lieber Vati, ich kann die Tour de France zwar mit 60 Jahren nicht mehr selber mitfahren, aber einige Strecken im Süden Frankreichs bin ich mittlerweile mit großer Begei­sterung gefahren, und habe mich dabei an die guten alten Zeiten erinnert. Dein Dich liebender Sohn.
 
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Das Armband

 – © Manuela Hoffmann-Maleki, 1998
veröffentlicht in leicht veränderter Form bei dtv unter dem Titel: Mutter-Kind-Bindung
 
 
5. Juli
 
Meine Eltern haben mir heute aus ihrem Vorrat an 38 Jahre lang sorgfältig aufbewahrten Kin­dersachen ein Geschirr aus ledernen Riemen einschließlich diverser Schnallen zum Anbinden des Nachwuchses überreicht. Sie meinen, es sei langsam an der Zeit, unser zweijähriges Söhn­chen Dario in seinem Kinderwagen festzuzurren. Unglaublich! Ich wehre unter Hinweis auf nie wieder gut zu machende Schäden an der kleinkindlichen Psyche empört ab. MEIN Kind wird niemals wie ein Hund an die Leine gelegt werden! Wenn man bedenkt, was für traumatische Zeiten ich damals wohl durchgemacht haben muss... Mir schwant Fürchterliches! Entsetzt und verstört fahre ich zurück nach Hause.
 
6. Juli
 
Mit meiner Freundin und deren fünfjährigem Sohn Michi streifen Dario und ich über das Ge­lände, auf dem gerade das alljährliche Festival stattfindet - Dutzende von Ständen mit Klei­dung, Schmuck und Krimskrams, Buden mit Gerichten aus aller Herren Länder, Zelte mit Musikdarbietungen, Clowns, Gauklern und noch viel mehr ist geboten. Michi passt sehr gut auf meinen Kleinen auf und fängt ihn mir ein, sobald er aus dem Kinderwagen ent­wischt. Das beherrscht Dario nämlich schon aus dem Effeff - einmal kurz gerutscht, eine ge­konnte Windung des Oberkörpers unter der Haltestange hindurch und draußen ist er. Ein ziel­sicherer Griff von Michi an Darios Kragen, ein gestrenges "Hierbleiben, Bürschchen! Das darfst Du nicht!" - und schon klettert Dario beleidigt wieder in den Wagen. Das klappt doch fabelhaft! Auf mich hört er nie so gut.
 
Ich probiere ein ägyptisches Armband an, das aber leider unerschwinglich sind, da der Händler beim Feilschen keinen Spaß versteht. Dario grölt: "Auch Aaamband habnn!!!" Darauf gehe ich gar nicht erst ein. "Hör mal, die schöne Musik!", bekommt er stattdessen zur Antwort. Dann zeigt mir meine Freundin glückstrahlend einen schauderhaft mit Klunkern besetzten Bauch­tanzgürtel, den sie soeben zu einem Wucherpreis erstanden hat.
 
Beim Weiterschieben bewegt sich der Kinderwagen sonderbar mühelos. Dario ist nämlich nicht drin! Michi ist ebenfalls ver­schwunden, taucht aber gleich wieder auf. Weinend. Untröstlich. Dario sei ihm davongelaufen, er habe keine Ahnung wohin. "Der ist viel schneller als ich", jammert der "Große" mit den viel längeren Beinen.
 
Wir sehen uns genauer um, und entdecken mit Entsetzen, dass wir uns am Knotenpunkt von fünf Abzweigungen befinden. Mein Puls beginnt zu rasen, mein Gehirn setzt aus. Ich lasse den Kinderwagen mit meinem prallgefüllten Geldbeutel stehen und bahne mir mit Ellbogen und Hüfte einen Weg durchs Gewühl, kopflos voran stürmend, wobei meine Augen in irrwitziger Geschwindigkeit jeden Stand abtasten, insbesondere solche, an denen Spielsachen angeboten werden oder zigeunerhaft aussehende Verkäufer stehen. Fieberhaft überlege ich währenddes­sen, womit der "Vermisste" eigentlich "zum Zeitpunkt seines Verschwindens" zuletzt bekleidet war.
 
Nach circa einer halben Stunde Hetz- und Herzjagen finde ich den Bengel schließlich im Gedränge vor einer Musikbühne, quietschvergnügt und ohne jegliche Anzeichen des Verloren­seins. Im Gegenteil, er protestiert lautstark, als ich ihn von dort wegschleppe und versteht überhaupt nicht, wieso ich so übelgelaunt bin... Einige Festgäste beäugen mich argwöhnisch, so als ob sie zu ergründen versuchten, ob ich mit meinen dunklen Haaren tatsächlich die Mutter dieses brüllenden, sich windenden blonden Knaben bin oder etwa eine Kidnapperin.
 
Den guten Rat meiner erfahrenen Freundin befolgend, erzähle ich meinem Mann von unserem Ausflug nur, dass Dario besonders von der Musik fasziniert war. "Mama war er sauuuuuer" berichtet Söhnchen eifrig. "Ja, weil dieser Halsabschneider mir das Armband einfach nicht billi­ger geben wollte", erkläre ich seinen Kommentar.
 
7. Juli
 
Ich beschließe, dass Dario endlich neue Schuhe braucht, da ich seine Füße nur noch mit Gewalt in seine blauen Lieblingsschuhe quetschen kann.
 
Wir verlassen die Wohnung im Partnerlook, damit ich für alle Fälle noch weiß, was Dario heute anhat.
 
Als er mein Silberarmband am Handgelenk entdeckt, kreischt er "Auch Aaamband habnnn!!!", aber ein Kinderarmband, noch dazu für einen Jungen - das muss doch nun wirklich nicht sein.
 
Im Schuhladen in der Einkaufspassage legt mein Sohn dann vor allen Leuten einen Tobsuchts­anfall wie er im Buche steht hin. Nicht einmal einen seiner geheiligten Schuhe darf ich zum Größenvergleich hernehmen - ob mit Fuß drin oder ohne (die Nummer auf den Schuhen ist schon völlig abgetreten). Während ich beschämt eine Verkäuferin um Hilfe ersuche, nutzt der Range die Gelegenheit zur Flucht. Schließlich finde ich ihn ein gutes Stück weiter in einem offenen Cafe, wo er sich gerade - offenbar ohne irgendjemandes Argwohn zu erregen - an ei­nem stehengelassenen Kuchenteller delektiert.
 
Zu Hause erfährt der Papa von Dario "Kuchen war er guuuut". Den Ausflug ohne Mama lassen wir lieber unerwähnt.
 
Am Abend ruft meine Freundin an und erzählt, im Einkaufszentrum sei erst letzte Woche ein Kind abhanden gekommen. Man habe es kurz darauf in anderen Kleidern und mit kurz gescho­renen Haaren wiedergefunden. Mir wird plötzlich furchtbar übel.
8. Juli
 
Ich kriege die Schuhe unseres Sprösslings nicht mehr zu. Ausgestattet mit einem Kofferetikett um den Hals, auf dem seine genaue Adresse und Ansprechpartner im Notfall verzeichnet sind, betritt Dario mit mir das per Kinderwagen am besten zu erreichende Kaufhaus. In der Schuhabteilung erbricht er sich diesmal vor Wut auf dem Fußboden, so dass ich resigniert auf gut Glück einfach zwei unterschiedlich große Paar Schuhe mitnehme.
 
Da im Erdgeschoss desselben Kaufhauses eine Spielzeugabteilung ist, und wir demnächst zu einem Kindergeburtstag eingeladen sind, machen wir noch einen kurzen Abstecher dorthin. Sofort kapert Dario sich ein Polizei-Rutscherauto und flitzt durch den Laden. Ich flattere krei­schend hinterher. Die Verkäuferin beruhigt mich und meint, das sei schon in Ordnung, ich solle mich nur in Ruhe umschauen. "Er fährt aber vielleicht hinaus!" wende ich ein. Kein Problem, dann ginge der Alarm an, schließlich hätten sie eine erstklassige Diebstahlsicherung.
 
Ich beobachte also mit einem Auge einigermaßen beruhigt, wie der Knirps seine Runden dreht, doch plötzlich ist er weg.
 
Ich renne durch den Laden, frage jeden. Alle haben ihn gesehen, aber wo er hin ist? Da das Bobbycar auch nicht zu sehen ist, flitze ich mit Panik in den Eingeweiden (Kinderwagen mit meinem Geld und aller Habe einfach stehen lassend) aus dem Laden hinaus, sprinte etwa 500 Meter die Fußgängerzone entlang. Kein Dario in Sicht! Wieder zurück, durch den ganzen Laden. Mein Ansturm scheucht die Kunden aus den engen Gängen zwischen Stän­der und Gestelle. Beim Herausstürzen aus dem Geschäft am gegenüberliegenden Ausgang sehe ich zwei U-Bahn-Polizisten, die mit dem Lausbub bzw. seinem Vehikel im Arm gerade in den Lift zur U-Bahn einsteigen wollen.
 
Ich kann sie gerade noch aufhalten. Sie erklären mir freundlich, an der U-Bahn finde gerade eine Fahrscheinrazzia statt. Sohnemann habe die Sperre durchbrochen und sei mit dem Polizei­auto auf die Rolltreppe gefahren, sie hätten ihn gerade noch greifen können. Was für eine grandiose Vorstellung - entweder bricht er sich auf der Treppe das Genick oder kommt unten vor einen Zug oder aber er steigt ein und fährt in eine von 4 Richtungen irgendwo hin! Abge­sehen von Kinder klauenden Irren oder Kriminellen!
 
Ich bedanke mich völlig aufgelöst und bringe das Polizeiauto in das Kaufhaus zurück. Die Ver­käuferin, die den "guten" Rat mit der Diebstahlsicherung für mich gehabt hatte, lasse ich wut­entbrannt wissen, wie ineffektiv dieses System sei. Eigentlich sollte ich das unentdeckt nach außen gelangte Fahrzeug gleich unbezahlt mitnehmen! Da mischt sich ihre Kollegin ein. "Kein Wunder, dass da nichts gepiept hat, der Bub fährt doch unter dem Detektor durch." Schließlich ist der für Erwachsene und nicht für Dreikäsehochformat vorgesehen.
 
Zu Hause erstattet Junior wie immer, Bericht: "Polizei war er liiiiieb!" - Ein Polizeiauto könne "schön" sein, aber doch nicht "lieb", beeile ich mich, ihn zu berichtigen. Wir hätten da nämlich ein tolles Polizeiauto im Geschäft gesehen. "Polizei hat er Aaamband für zwei Hande", erzählt Dario zu unserer Überraschung. "Wo ist Dein Bagger?", frage ich zur Ablenkung. Das hilft. Er düst davon.
 
9. Juli
 
Bei unserem heutigem Einkauf in der Drogerie (ausgerüstet mit einigen Fotos unseres Stamm­halters für den Fall, dass ein Phantombild erstellt werden müsse) habe ich zwischen Steckdo­sensicherungen und Fensterstoppern gegen unbeabsichtigtes Fingereinklemmen des lebhafteren Nachwuchses ein "Bleib-Hier-Band" entdeckt. An der einen Seite wird es dem Kind per Klett-Verschluss am Handgelenk angelegt, auf der anderen Seite schlüpft die Mama in eine Schlaufe. Dazwischen befinden sich knapp eineinhalb Meter elastisches Band. Einen Versuch soll es mir wert sein... Gedacht, gekauft!
 
Unbeirrt von den entsetzten Blicken der Passanten marschieren wir aneinandergekettet hinter dem Kinderwagen nach Hause. Einige Leute bleiben stehen und schütteln den Kopf. Einer ruft mir nach "Legen Sie sich doch lieber einen Dackel zu!" - "Was ist ein Dackel?", fragt Dario. "Ein Wauwau", antworte ich. Als wir gleich darauf an einer alten Frau vorbeigehen, bellt Dario so laut er kann.
 
Zu Hause angekommen führt unser Sohn dem Vater stolz seine neueste Errungenschaft vor: "Schau mal, Aaamband, Papa! Ist er schööööön, Aaamband". - "Ist er praktisch, Armband", beschwichtige ich zermürbt den aufbrausenden Ehegatten.
 
10. Juli
 
Mit Dario im Supermarkt. Während die Verkäuferin die Preise unserer Einkäufe eintippt, will ich mit Dario den Kinderwagen holen, um die gewaltige Menge an Sonderangeboten einzula­den. Es gibt nichts Bequemeres für den Transport als so einen Kinderwagen! Vor Betreten des Ladens lasse ich ihn immer vor der Sperre stehen und lade den Herrn Hosenmatz in einen Ein­kaufswagen um. - Aber wo ist denn nur der Kinderwagen? Nicht mehr da! Weg! Geklaut! Und mit ihm der Geldbeutel! Mit meinen Ausweisen und Papieren drin! Mir wird auf einen Schlag hundeelend.
 
Da beißt mich Dario wie ein verspielter Welpe durch die Jeans in den Oberschenkel und plötz­lich fällt mir ein, dass ich mit Dario zu Fuß hergekommen bin, weil er unbedingt das "Aaamband" anziehen wollte. Und der Geldbeutel liegt zu Hause noch im Kinderwagen.
 
Wieder daheim klebe ich einen Zettel von innen an die Wohnungstüre: "Kinderwagen und Geld mitnehmen" steht drauf.
 
Meine Mutter ruft gleich darauf an, um mir zu erzählen, sie habe das Ledergeschirr heute für meinen Sohn eingefettet, es glänze jetzt wunderbar und sei ganz weich geworden. Schnell gebe ich den Hörer an Dario weiter, der glücklicherweise von dem, was in meinem Kopf vor sich geht, nichts ausplaudern kann. Statt dessen verrät er der Oma: "Mama hat er kein Geld. Kann er den Essen nicht bezahlen."
 
© Manuela Hoffmann-Maleki, 1998
 
 

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Passt überall durch…

Werbevorschlag für ein Auto - © Manuela Hoffmann-Maleki

 
Heute Vormittag im Einkaufszentrum: Ich schiebe gedankenverloren meinen Einkaufswagen durch die Gänge, da höre ich von rechts ein fröhliches Hupen. Und was sehe ich da: zwischen dem Regal mit den Windeln, Badeölen und Schminkutensilien und dem mit dem Hundefutter kommt mir tatsächlich ein kleiner grüner Flitzer entgegen – nein, kein Kindereinkaufsauto und ohne Zweifel kein Einkaufswagen, sondern ein Auto! Wenn mich nicht alles irrt: der neue MINI Cooper!
 
Geschickt umfährt es eine im Weg stehende, noch unaufgebaute Palette mit Zwerghasenstreu, blinkt vorschriftsmäßig dabei, kreist einmal um eine große Gitterbox mit leeren Pappkartons - die Tür öffnet sich, heraus springt ein schwarzhaariger Mann mit einer unglaublich großen Nase, und dicken schwarzen Augenbrauen, greift zielsicher nach einem Deo und schwingt sich wieder auf den Fahrersitz! Ebenso flink und geschickt wie er gekommen ist, fährt er in Schlangenlinien wieder rückwärts um die beiden Hindernisse, nicht ohne dabei wiederum vorschriftsmäßig den Blinker zu setzen und verschwindet im nächsten Quergang.
 
Bis ich mich gefasst habe und neugierig hinterher haste, hat er bereits bei der um diese Uhrzeit normalerweise unbeschäftigten Kassiererin durch das heruntergekurbelte Fenster bezahlt und den Laden durch die selbstöffnende Türe verlassen. Verwundert reiben sich die Kassiererin und ich die Augen und sehen uns sprachlos an.
 

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Die Chaotin

 
(© Manuela Hoffmann-Maleki - November 1993)
 
 
Kapitel I
 
Er hatte kaum seinen Satz beendet und wollte gerade wieder ansetzen, da konterte sie schon: Woher soll ich denn wis­sen, dass Du ausgerechnet heute Leute einlädst! Wo Du doch sonst chronisch rausgehst und mich hier alleine rumhocken lässt.
 
Überhaupt zählte es seit neuestem zu ihren Unarten, andere nie ausreden zu lassen. Sogar ihre beste Freundin hatte sich schon neulich darüber beschwert, und das war für Elena überraschend, denn die redete sowieso immer so viel, dass Elena dazwischen eigentlich kaum je mal etwas anderes herausbrachte wie: Da hätte ich aber... und inzwischen hatte Tiffany schon wieder tief Luft geholt und überrollte sie einfach mit einem Redeschwall.
 
Naja, schließlich einigten sich Elena und ihr Mann darauf, dass die Gäste - der Freund ihres Mannes und dessen Frau und deren kleines Kind - kommen würden und Elena würde ko­chen, eine persische Spezialität, an deren genaue Zusam­mensetzung sie sich jedoch nur noch unklar erinnerte. Aber das war ja egal, man könnte immer noch sagen, dass es unga­risch sei oder so was, dann fiele es nicht weiter auf. Und die Gäste, die selber Perser waren, würden sagen, dass es in ihrem Lande etwas ganz Ähnliches gäbe, allerdings käme da statt Sellerie Lauch hinein oder so was.
 
Elena, die die Wohnung nur putzte, wenn tatsächlich mal jemand angekündigt war, aber sonst jegliche Art von Ord­nung verabscheute, machte sich mit dem üblichen Ungestüm daran, plötzlich alles Überflüssige wegzuwerfen, gleich­zeitig, sofern möglich, den Boden zu saugen, während sie zwischendrin sporadisch den Staublappen schwang. Ihr Mann räumte dabei zunächst einmal artig die rasch verschobenen Möbelstücke und Lampen wieder auf ihre angestammten Plätze, verhielt sich aber im übrigen passiv.
 
In wilder Eile stürmte Elena zwischendurch in die winzige Küche, riss den Gefrierschrank auf und knallte zwei Packungen eingefrorenes Gulasch auf die Arbeitsfläche, während der Staubsauger immer noch, gegen einen Schrank gestützt, summte. Voller Hektik räumte sie das schmutzige Geschirr aus dem Becken und stellte es auf den Herd, wobei um ein Haar wieder ein Glas gebrochen wäre. Flink ließ sie heißes Wasser ins Spülbecken und warf das Fleisch mit Schwung dazu, so dass sich ein Schwall Wasser über den Fuß­boden ergoss. Den beseitigte sie rasch mit dem Geschirr­tuch, dass sie dann, als sei es völlig unbenutzt, routi­niert an den Haken hängte.
 
Im Karacho stürmte sie zurück zum Staubsauger, der inzwi­schen auf den Boden gekippt war, und reinigte den Rest der Wohnung. Beim Saugen vor dem Fenster, schüttelte sie gleichzeitig mit der anderen Hand das Staubtuch aus, wobei sie mit der Hand gegen den Fensterrahmen krachte, was or­dentlich schmerzte.
 
Dessen ungeachtet, packte sie rasch den Staubsauger wieder weg, fetzte den Staublappen an seinen Platz zurück und rannte ins Badezimmer, das, genau wie die Küche, winzigste Ausmaße hatte.
 
Sie kippte eine halbe Flasche Toilettenreinigungsmittel ins Klo und in die Duschkabine und begann sofort, das Wasch­becken zu reinigen und gleichzeitig den Spiegel blank zu wischen. Danach wischte sie rasch Duschabfluss und Klo, spülte beide oberflächlich nach und begann, aufgrund des ätzenden Geruchs des Putzmittels, grauenhaft zu husten, wobei ihr die Tränen kamen. Danach folgte einer ihrer üb­lichen Niesanfälle - sie nieste nur einmal, wenn sie wirk­lich fror, in allen anderen Fällen mindestens zehn, elf mal. Das war so seit der Nasenoperation, aber Gott sei Dank war die Nase jetzt wesentlich schöner als vorher, dass sie die Nieserei dankbar in Kauf nahm.
 
Nach dem Badezimmer musste noch das Schlafzimmer in Stand gesetzt werden. Das Bett kurz geglättet, eine Decke dar­über befördert, aus der Tonnen von Staub wirbelten, der Abfalleimer geleert. Man wusste ja nie, ob das Kind nicht müde würde, und dann vielleicht auf dem Bett abgelegt würde. Das heißt, man konnte es eigentlich hoffen, dass der Abend so verliefe, denn der kleine Quälgeist hatte schon letztes Mal sämtliche herumliegenden Fotos und Postkarten geknickt und abgelutscht und ein Chaos hergestellt, wie es vor der letzten Aufräumaktion bereits geherrscht hatte.
 
Folglich musste sie auch die herumstehenden kleinen Sachen wegräumen. Sie packte rasch entschlossen alles und ver­frachtete es in einen Schrank. Die Tür ging nur noch mit Mühe zu. Wenn man die Sachen wieder herausholen wollte, würde wahrscheinlich alles herausprasseln. Sofern die Sa­chen nicht bis zum nächsten Aufräumwahn überhaupt darin verblieben, da sie einem nicht fehlten. Das war auch schon mehrfach passiert.
 
Noch rasch die Blumen gegossen, wobei sie feststellte, dass einige seit langer Zeit eine Dusche nötig hatten, aber das wollte sie sich jetzt nicht auch noch antun, denn sonst müsste sie die Tropfflecken auf dem Fußboden auch noch weg­wischen.
 
In der Küche riss sie das inzwischen angetaute Fleisch aus dem Waschbecken, wo es bereits aus der Tüte herausblutete, beförderte das Geschirr ins Becken und begann, dieses im selben Wasser zu waschen, wobei einige Verkrustungen dar­auf haften blieben, was sie aber nicht weiter juckte.
 
Dann knallte sie sich, zu Tode erschöpft wie nach mehr­stündigem Tanzen, auf die schwarze Ledercouch im Wohnzim­mer, die sie vergessen hatte, abzustauben (man sah jedes Staubkörnchen darauf). Das wischte sie noch rasch mit der Hand sauber, dann griff sie zu einer Zigarette.
 
Ihr Mann saß die ganze Zeit nur teilnahmslos herum, und schüttelte jetzt entgeistert den Kopf.
 
Wie konnte man in knapp fünfzehn Minuten nur solch einen Wirbel veranstalten! Dabei sollten die Gäste ja erst in ca. drei Stunden kommen! Aber seine Frau würde wohl nie dazu lernen. Er jedenfalls machte da nicht mehr mit, soll­te sie sich doch so fertig machen, wie sie wollte, er schob lieber eine ruhige Kugel.
 
Er hatte inzwischen beschlossen, dass dies garantiert das letzte Mal sei, dass er Leute nach Hause einlud. Schließ­lich hätte seine Frau ja seit Monaten Zeit gehabt, aufzu­räumen, aber sie war stinkfaul, und tat überhaupt nie et­was, wenn sie nicht musste. dass er selber ab und zu mal ei­ne Kleinigkeit erledigen könnte, kam ihm schon längst nicht mehr in den Sinn. Haushalt war Frauensache, und seine Frau war eine erbärmliche Hausfrau. Das Essen würde bestimmt auch wieder wie Strümpfe und Schuhe schmecken und aussehen.
 
Er holte sich rasch das Telefon, rief seinen Freund an und sagte, dass ihm etwas dazwischen gekommen sei, und dass man die Einladung leider verschieben müsse. Er käme aber gleich bei ihm vorbei und würde ihn zum Billardspielen ab­holen.
 
Nachdem er aufgehängt hatte, stand er wortlos auf, zog seine Jacke an und verließ die Wohnung fluchtartig, ohne seiner Frau auch nur einen Blick zu schenken, die wütend mit geballten Fäusten auf ihn einschrie. Nachdem er fort war, ließ sie sich weinend hinter der Wohnungstür auf den Boden fallen.
 
Während sie von Schluchzen geschüttelt wurde, klingelte das Telefon. Sie hatte wirklich keine Lust hinzugehen und konnte auch nicht aufhören zu weinen, aber beim dreizehn­ten Mal Klingeln nahm sie doch ab und krächzte ein mühsa­mes "Ja?" in den Hörer. Es war ihre Mutter. Sie seien heute in München, beim Opa, und Elena solle vorbeikommen. Außerdem sähe die Wohnung von Opa schrecklich aus, Elena müsse unbedingt kommen, und putzen.
 
Diese beschwerliche Aufgabe hatte man ihr, ohne sie über­haupt zu fragen, vor ca. einem Jahr aufs Auge gedrückt, und seither war allen außer ihr klar, dass dies ein Dauer­job sei. Ausgerechnet sie musste das machen, wo sie doch die Putzerei so hasste! Jede zweite Woche sollte sie hinge­hen und alles saubermachen, aber die letzten sechs Wochen hatte sie zum Glück immer einen triftigen Grund, warum es verschoben werden musste. Jetzt holte das Schicksal sie ein.
 
Für ihre Mutter stand außer Frage, dass sie kommen würde. Sie hatte ihr kaum Zeit gelassen, auch nur drei Wörter zu äußern, da hatte sie mit einem forschen "Bis gleich" schon eingehängt. Von Elenas Zustand hatte sie gar nichts be­merkt.
 
Elena holte sich ein Taschentuch, und nachdem sie kräftig in dieses hineintrompetet hatte, überlegte sie sich, was sie jetzt tun würde. Das heißt, sie hätte gerne überlegt, aber in ihrem Kopf herrschte ein schreckliches Durcheinan­der, das keinen vernünftigen Gedankenschluss zuließ.
 
Sollte sie sich scheiden lassen? Was sollte sie mit dem aufgetauten Fleisch tun? Das Kloputzmittel müsse sie mit­nehmen, da das von Opa leer war. Aber ihr eigenes auch fast. Ihr Mann war ein ekelhaftes Scheusal. Erst ruinierte er ihre Gesundheit, denn sie war nicht besonders kräftig, und dann musste sie die ganze Wohnung alleine putzen, und er saß einfach faul da und sah zu, und dann ruinierte er noch ihren Tag. Was er sich einbildet! Ihrer Mutter musste sie die alten Zeitschriften mitbringen, nicht vergessen! Das Fleisch lege ich am besten in den Kühlschrank, dann koche ich es morgen. Aber es ist zuviel für zwei Personen. Und wenn die Wohnung jetzt geputzt ist, könnte ich ja je­manden einladen. Aber nicht den Freund ihres Mannes, son­dern ihre eigenen Freunde.
 
Die Leute, mit denen ihr Mann sich umgab, und ihr eigener Clan waren strikt getrennt. Fast niemals traf man sich ge­meinsam. Sie mit ihren Leuten, er mit seinen. Außerdem war sie nicht unbedingt scharf auf seine Freunde. Und er nicht auf ihre, was ihr aber ein Rätsel war. Der einzige, den man gemeinsam traf, war Jo, Elenas bester Freund.
 
Langsam beruhigte sie sich wieder. Umziehen musste sie sich auch und das Gesicht waschen und kräftig zuschminken, da­mit man nichts sah. Damit hatte sie Erfahrung. Fast nie merkte jemand, dass sie geweint hatte. Oder sie waren zu taktvoll, etwas zu sagen.
 
Was zog sie am besten an? Opa liebte bunte, fröhliche Far­ben und vor allem Röcke, auf keinen Fall Hosen. Anderer­seits musste sie auch noch putzen, und dazu zieht man nicht seine besten Sachen an.
 
Oh Gott, duschen musste sie auch noch, sie war ja schweißnass!
 
Gefrühstückt hatte sie auch noch nicht, dafür glimmte in­zwischen in ihrer Hand schon die neunte Zigarette, seit sie aufgestanden war. Aber beim Opa gäbe es bestimmt Ku­chen, der würde dann das Frühstück ersetzen. Hoffentlich halte ich solange durch!
 
Ihr war schwindlig, sie fühlte sich schmutzig und er­schöpft. Ihre Augen brannten, der Mund schmeckte bitter nach Rauch. Sie drückte kurz entschlossen die kaum begon­nene Zigarette im Aschenbecher aus. Aber so, dass man sie später weiterrauchen konnte.
 
Als sie aufstand, um zu duschen, wurde ihr ganz schwarz vor Augen. Sie musste sich plötzlich an der Wand festhal­ten. Trotzig tastete sie sich weiter ins Badezimmer und duschte ca. zwei Minuten lang. Verdammter Mist - das Hand­tuch hatte sie gestern in den Wäschekorb geworfen, jetzt war keines da! Nahm sie halt das von ihrem Mann. Es war nass und trocknete nicht gut. Außerdem roch es nach nassem Hund. Aber so rochen fast alle Handtücher bei ihnen, denn sie legte sie immer noch halbfeucht in den Schrank. Dann konnte man das Wäschegestell aus dem viel zu kleinen Schlafzimmer nehmen und wegräumen.
 
Die Augen wurden professionell übertüncht, der Mund pink­farben geschminkt. Danach zog sie rasch die Trainingshose und das rosa T-Shirt mit dem Elefant darauf, das ihre Mut­ter ihr vor Jahren geschenkt hatte und das immer unbenutzt im Schrank lag, an. Damit schlug sie mehrere Fliegen mit einer Klappe: den opa'schen Farbtick, den Beweis, dass sie die Sachen von ihrer Mutter tatsächlich einmal anzog und die geeignete Ausrüstung für die Putzerei. Der Rock musste für diesmal entfallen.
 
Rasch rief sie noch Jo an, der zum Glück Zeit hatte (normalerweise stand allabendlich eine andere Sauf- und Sifforgie auf dem Programm, seit seine Alkoholallergie sich gegeben hatte). Er sagte zu, am Abend zum Ragout vor­beizukommen. Sie müsse ihn aber danach wieder nach Hause fahren.
 
Wenn er kam, hatte das, abgesehen von der stets ungeheue­ren von ihm vernichteten Essensmenge (und das Gulasch würde bei der Hitze nicht lange halten) den Vorteil, dass ihr Mann Reza in seiner Gegenwart seine schlechte Laune nicht herauskehren würde.
 
Sie packte noch rasch drei Kiwis für Opa ein, der diese besonders liebte (bei ihr würden sie nur vergammeln) und stürmte die Treppen hinunter. Beinahe unten angekommen, fielen ihr die Hefte und das Putzmittel ein, so dass sie zu guter Letzt wieder schweißüberströmt im Auto saß und mit mörderischem Tempo (wie immer) durch die Straßen raste.
 
Ihr graute vor der Putzaktion. Das schlimmste an Opa wa­ren, abgesehen von seinem allgemein berüchtigten Alters­geiz, sein übertriebenes Misstrauen und die Tatsache, dass er chronisch alle möglichen Leute beschuldigte, etwas aus seinem Haus gestohlen zu haben (selbst wenn niemand seine mehrfach geklebten Schüsseln und schmutziges Salatgeschirr interessierten, aber wenn etwas davon nicht an seinem Platz stand, waren es stets die bösen Geister oder derje­nige, der ihn zuletzt besucht hatte). Aus diesem Grunde wollte er auch - zu Elenas Leidwesen - auf keinen Fall ei­ne reguläre Putzfrau engagieren, die ja alle als diebische Elstern bekannt sind.
 
Opa, der bereits steinalt war, war auch sonst leicht merk­würdig, wenn auch ein lieber Mensch. Zum Beispiel wollte er auf keinen Fall ein Hörgerät tragen, da er damit "alt aussehen" würde. Man musste auch immer vorsichtig sein, wenn man von irgendwelchen alten Knackern erzählte. Statt des landläufigen Terminus musste man dann beschönigend sa­gen, er sei eben nicht mehr unbedingt dreißig, denn sonst könnte Opa auf die Idee kommen, dass er selber ja sogar noch vierzig Jahre älter als der andere war.
 
Elenas Mutter öffnete die Tür mit dem Vermerk, dass sie sich ruhig etwas hätte beeilen können, man warte seit ge­raumer Zeit mit dem Tee. Die Begrüßung ihres Vaters ver­lief wie üblich äußerst kühl, während Opa sichtlich er­freut war und ihr wunderschönes rosa "Lalio" (wie er Kleider immer nannte) lobte, worauf ihre Mutter gleich Preis, Boutique und Kaufdatum angab. Bei der Übergabe der Kiwis brach Opa fast in Tränen aus.
 
Der Tee wurde mit einem schrecklich abgewracktem Süß­stoffspender gesüßt, der seit etwa fünfundzwanzig Jahren dem Hause treue Dienste leistete. Der gekaufte Kuchen war alt, trocken und zuckersüß. Die Unterhaltung zwischen Opa und Schwiegersohn drehte sich um Aktien, die zwischen Tochter und Mutter um Mädchen, die einmal in derselben Schule gewesen waren und inzwischen anständige Männer ge­heiratet hatten, im Gegensatz zur missratenen Tochter.
 
Das Fehlen von Reza wurde ansonsten nicht bemerkt und schon gar nicht bedauert.
 
Nach dem Tee räumte Elena ab, wusch das Geschirr, während ihre Mutter sich einen Schnaps gönnte und die anderen in­zwischen über Bundesanleihen sprachen. Danach saugte sie die Hundehaare aus der Küche, wischte den Boden nass, putzte, während dieser trocknete, und die anderen sich über Steuerhinterziehung ereiferten und die Mutter noch einen Schnaps kippte, die beiden Toiletten, die Treppe und die Fenster in Küche und Wohnzimmer.
 
Während eine Maschine Wäsche in der Küche rotierte, gönnte sie sich eine kleine Verschnaufpause. Opa unterbrach kurz die angeregte Unterhaltung und vermerkte, dass der Hund schon seit drei Wochen nicht mehr in seinen Korb wolle, er wisse nicht wieso. Elena ging den Korb kontrollieren und stellte fest, dass der Hund sich darin übergeben hatte und alles eingetrocknet war. Sie zog die Decke heraus und wusch sie per Hand in der Badewanne aus, da die Waschma­schine ja bereits lief.
 
Danach kam ihre Mutter zu ihr und teilte ihr mit, dass die Klaviertasten unbedingt gereinigt werden müssten, man blie­be ja kleben. Also säuberte sie das Klavier, anschließend wischte sie die Kacheln im Badezimmer ab und entkalkte den Abfluss der Badewanne in der üblichen Hektik (wobei sie wiederum fast an einem Hustenanfall erstickt wäre) und während die anderen es sich auf der Bank im Garten bequem machten, saugte sie das Wohnzimmer und staubte an­schließend die Möbel ab.
 
Ihre Mutter wies sie freundlich noch darauf hin, dass im Schlafzimmer das Bett neu bezogen werden müsse, was sie dann parallel zum Wäscheaufhängen erledigte und an­schließend noch eine Maschine mit der Bettwäsche laufen ließ.
 
Nachdem sie das Gefühl hatte, endlich etwa ein Zehntel der erforderlichen Putzarbeiten erledigt zu haben (das war je­weils ihr Limit) verabschiedeten sich ihre Eltern, wobei ihre Mutter mehrfach grundlos in schrilles Lachen ausbrach (wohl der Alkohol) und ihr Vater sie darauf hinwies, dass sie die für die Putzaktion vom Opa erhaltenen fünfzig Mark auf keinen Fall mit ihrem Manne teilen solle.
 
Opa zeigte ihr noch eine Batterie von ca. siebzig leeren Weinflaschen, und einen riesigen Stapel von alten Zeitun­gen, die sie dann anstandshalber ins Auto schleppte und damit zu den jeweiligen Containern fuhr.
 
Als sie zuhause ankam, war ihr Mann noch nicht zurück. Sie machte sich sofort an die Zubereitung des undefinierbaren persisch-ungarischen Gerichts, briet Zwiebeln, Fleisch, schnitt Rhabarber und Sellerie dazu, vergaß auch die Ge­würze nicht und setzte den Reis auf. Für Jo mixte sie noch schnell eine Abart von Tiramisu zusammen und für ihren Mann zum Heben der Laune eine Hühnersuppe mit Zitrone. Ihr Mann liebte Suppen über alles und Zitrone über zweitalles.
 
Reza und Jo trafen fast auf die Minute gleichzeitig ein, so dass sich eine lange Voranödungsphase erübrigte. Die Stimmung war gut, Jo verdrückte wie stets eine sagenhafte Portion (erstaunlich bei seiner Figur - er hatte Streich­holzbeine und war auch sonst überdurchschnittlich schlank, obwohl er stets behauptete, viel zu fett zu sein), ihr Mann bemerkte, dass es bei ihm zu Hause ein recht ähnliches Gericht gab, das aber statt Sellerie Lauch enthielte, der Tequila kreiste, allerdings nicht bei ihr, da sie ja ver­sprochen hatte, Jo später heimzufahren.
 
Dann wurde der Computer eingeschaltet und Reza führte Jo das neueste Spiel vor. So ausführlich, dass Jo bereits seit dreieinhalb Stunden mit Elena ins Gespräch vertieft war, und Reza immer noch Cursortasten rauf und runter klimperte und nicht bemerkte, wie die Zeit verging.
 
Jo hatte wieder Kummer mit seiner weiblichen Umgebung. Mal wieder liefen ihm gleich drei Frauen nach, und er wusste nicht, wie er sie davon abhalten sollte, ihn ständig zu Hause zu besuchen, und sich dabei womöglich in die Quere zu kommen. Dabei hatte er doch den festen Vorsatz gefasst, mindestens zwei Jahre lang solo zu bleiben, seit dem Fias­ko mit seiner Freundin, die ihn verlassen hatte, weil er aufgrund der Haare ihrer Perserkatze, die bei ihm Asthma­anfälle verursachten, im Bett nicht mehr gerade über­zeugte. Im entscheidenden Moment glaubte er jedes Mal, zu ersticken, und das Damoklesschwert Notarzt hing stets über ihren intimen Begegnungen.
 
Der Wegfall von Freundin samt Perserkatze hatte das Ver­schwinden der Alkoholallergie zur Folge, und letzteres war ja wohl in höchstem Maße begrüßenswert. Wer weiß, ob künf­tige Freundinnen nicht etwa ein Meerschweinchen haben wür­den?
 
Auf jeden Fall wurden die in Frage kommenden Frauen als scharfe Hasen geschildert, was Elena nicht mehr wunderte, nachdem einer der Freunde von Jo sie selbst einmal, an ei­nem Tag, an dem sie gar nicht besonders hergerichtet war, als "saftigen Krapfen" bezeichnet hatte. Anscheinend war das ein Kompliment gewesen.
 
Schließlich wurde Reza zum Abschiednehmen unsanft unter­brochen, und Elena brachte Jo nach Hause.
 
Auf dem Rückweg hatte sie Zeit, drei Heavy-Metal-Stücke im Radio auf Volllautstärke zu genießen, was ihr wieder Kraft gab.
 
Zu Hause angekommen, holte sie rasch ihren Tequilabedarf nach, während Reza vor dem Fernseher im anderen Zimmer klebte und von einem Programm zum anderen schaltete. Schließlich blieb er an einem der üblichen amerikanischen Katastrophenfilme hängen.
 
Diesmal wurde die Welt von riesigen Ratten bedroht, und natürlich versagte die Regierung und natürlich brachte ein einzelner Wissenschaftler, dem wie üblich zwei Fernseh­stunden lang niemand geglaubt hatte, durch scharfes Über­legen nach vielen fruchtlosen Versuchen die Ratten zur Strecke und natürlich küssten und umarmten sich am Schluss der schlaue Vater, die treue Gattin und die zwei reizenden Kinder.
 
Nachdem ihr Mann den Fernseher ausgeschaltet hatte und unmissverständlich paarungsbereit grunzte, leerte Elena, die inzwischen aufgeräumt und das Geschirr gewaschen hatte, rasch den überquellenden Aschenbecher und begab sich un­lustig ins Schlafzimmer. Aber das Grunzen bedeutete auch, dass wieder alles normal sei. Morgen konnte sie ausschla­fen.

 

 
Kapitel II
 
Um 6:30 morgens klingelte das Telefon. Reza knurrte. Elena wankte schlaftrunken aus dem Bett, fiel über einen Hocker, rammte mit der Stirn den Kleiderschrank und kroch ins Wohnzimmer zum hartnäckig auf leiser Stufe schnurrenden Telefon. Es war Rezas Freund aus dem Iran. Anscheinend hatte er vergessen, dass es einen leichten Zeitunterschied von zweieinhalb Stunden gab zwischen dort und hier.
 
Persisch zu sprechen ist schwer, wenn man gerade aus den Träumen gerissen wird. Trotz der Schmerzen an Bein, Schul­ter und Stirn versuchte sie, Rezas Freund für den Ring zu danken, den er ihr nachträglich zur Hochzeit geschickt hatte. Dann brachte sie das Telefon ins Schlafzimmer, wo ihr Mann ächzend mit Tränen in den Augen und nach Luft japsend im Bett um sich schlug, und dabei kreischend immer wieder wiederholte, was sie Reza auf persisch über den Ring gesagt hatte: "Er schmeckt sehr gut".
 
Nach dem Telefonat konnte sie nicht mehr einschlafen. Sie ärgerte sich maßlos. Wie konnte ihr, als Übersetzerin, so ein grauenhafter Lapsus passieren! Mindestens für die nächsten fünf Jahre hatte ihr Mann jetzt eine Story, die er jederzeit vor seinen versammelten Freunden zum Besten geben würde.
 
Schließlich stand sie auf, versuchte sich, durch das Lesen einiger Zeitschriften wieder auf andere Gedanken zu brin­gen, zog anschließend das Persisch-Lehrbuch heraus und ar­beitete zwei neue Lektionen durch.
 
Danach setzte sie Kaffee auf, briet Zwiebeln und Pilze bis beides schön goldgelb war, ließ in einem anderen Topf To­maten einkochen, bereitete mit beidem ein Omelett, fügte klein gehackte Oliven und Petersilie hinzu, schnitt das Brot in gleichmäßige Scheiben, auf einer Seite dick, auf der anderen beinahe durchsichtig (nach all den Jahren brachte sie das immer noch nicht auf die Reihe), deckte liebevoll den Tisch und weckte ihren Mann um dreizehn Uhr zärtlich zum Frühstück.
 
Als dieser endlich aus dem Badezimmer kam, war das Essen kalt. Er stocherte in seinem Essen herum und brüllte plötzlich: Die Zwiebeln sind schlampig geschnitten! Wie oft soll ich Dir noch sagen, wie man Zwiebeln schneidet! Nichtskönner! Diese Sauerei kannst Du selber fressen, Schlampe! Danach stürmte er in die Küche, wo sie bald dar­auf ein großes Geschrei vernahm: Scheiße! Alles muss man selber machen! Kannst Du nicht aufräumen, wenn Du kochst! Kuh!
 
Er hantierte mit Pfannen und Töpfen, warf dabei einen Sta­pel Töpfe auf den Fußboden und schrie: Nie räumst Du hier anständig auf! Arschloch! Scheiße, kannst Du nicht das Salz nachfüllen? Komm sofort her, und füll das Salz nach!
 
Sie schlich in die Küche und tat, wie ihr befohlen. Wenn ihr Mann solche Laune hatte, widersprach man besser nicht, wenn man den Tag überleben wollte.
 
Inzwischen bereitete ihr Mann sich noch einmal genau das­selbe Omelett wie zuvor. Sie jedenfalls bemerkte keinen Unterschied.
 
Sie stellte sich im Wohnzimmer ans geöffnete Fenster und rauchte rasch eine Zigarette, um ihre Wut zu mildern. Dann gleich noch eine. Spinnst Du! gellte es aus der Küche, wie soll ich denn essen, wenn hier alles nach Rauch stinkt! Zum Kotzen ist das, wirklich...
 
Das Frühstück verlief schweigend bei kaltem Kaffee und dem kalten Omelett von vorher, sowie dessen Kopie.
 
Nach dem Essen keifte er sie an, dass wieder kein Aschenbe­cher auf dem Tisch stünde. Wie oft solle er denn noch...
 
Er telefonierte rasch mit seinem Freund und ließ sich in­nert zehn Minuten von diesem zum Fußball abholen, während sie die Verwüstungen des Morgens aufräumte, das Geschirr wusch und einige Scherben aufsammelte. Danach machte sie das Bett und füllte die Waschmaschine, die arbeiten würde, während sie die steuerlich absetzbaren Belege des Vorjah­res sortierte.
 
Draußen war grandioser Sonnenschein, aber diese blöde Steuersache musste unbedingt erledigt werden. Reza hatte von Steuern keine Ahnung.
 
Das Telefon klingelte. Es war ihr Mann. Fußball fiele aus, es sei zu heiß. Nachdem er das letzte Mal schon wegen der hohen Ozonwerte fast ohnmächtig geworden sei, würde er diesmal nicht spielen. Er sei bei den Freunden, die ge­stern nicht gekommen waren. Zwei weitere Bekannte seien auch da. Anschließend kämen alle zum Essen. Sie solle schon mal anfangen, zu kochen. Die Geschichte mit dem Ring habe er schon erzählt, sie hätten sich alle totgelacht (Gekicher im Hintergrund). Schöne Grüße von allen.

 

 
Kapitel III
 
Ein paar Monate später...
 
In einem Zustand schwebender Irrealität sah Elena auf die Leuchtziffern des Weckers, die in der erstaunlichen Hel­lig­keit des Schlafzimmers ohnehin gut sichtbar waren: 2:11 Uhr.
 
Hinter dem zur Hälfte vorgezogenen Vorhang quoll eine neb­lig blendende Weiße durch den Raum und, obwohl das Fen­ster ge­schlossen war, lag der Geruch von frischem Schnee in der Luft. Es war fast so hell, als wäre es Nachmittag.
 
Elena befreite sich aus der Wärme des schwer auf ihr la­sten­den Federbetts und vorsichtig, um ihren neben ihr un­gerührt dahinträumenden Mann nicht hochzuschrecken, was ihm si­cherlich Kommentare wie "Du Trampel! Kannst Du nicht aufpassen! Verdammte Scheiße!" entlockt hätte, schlich sie aus dem Schlafzimmer, um vom Wohnzimmer aus das unirdische Licht draußen zu ge­nießen.
 
Der Himmel war ganz weiß. Wie H-Milch mit einem Blaustich, dachte sie. Auf dem Dach lag der erste Schnee des Jahres. Der kahle große Baum im Hof trug lauter kleine weiße Käpp­chen. Aus dem Hof unten leuchtete eine dichte Schneedecke herauf, die noch keine menschlichen Spuren gestört hatten.
 
Elena überkam eine unbändige Freude. Und eine Sehnsucht nach dem Winter. Etwas bis dato völlig Unbekanntes regte sich in ihr, denn bislang war ihre Maxime gewesen: Ich bin wie eine Eidechse - nur wenn mir die Sonne auf die Haut knallt, bin ich lebendig.
 
Sie öffnete ganz ganz langsam, um kein Geräusch zu verur­sa­chen, das Fenster und lehnte sich weit hinaus. Gierig sog sie den klaren, unverwechselbaren, etwas staubigen Schneege­ruch ein. Ihre Nasenflügel bebten. Es lag etwas Weihevolles in der Luft.
 
Ohne überhaupt zu überlegen, was sie tat, zog sie den be­reits vor ein paar Tagen aus dem Keller geholten schwarzen Wintermantel über ihre Leggings und das Sweatshirt, mit de­nen sie immer schlief (ihre Tante sagte: Amerikanisch ins Bett gehen. Damit meinte sie, so lange wach zu bleiben, bis die Augen von selber zufallen, und sich dann, so wie man ist, ins Bett legen).
 
Sie nahm die ziemlich verstaubten Pelzstiefel aus dem Re­gal, raffte rasch Zigaretten und Feuerzeug zusammen, und verließ in großen traumtänzerischen Schritten die Wohnung.
 
Auf der Straße angekommen, wandten sich ihre Schritte unbewusst, scheinbar ohne jegliche Rückkopplung zum Gehirn, in Richtung Parkanlage. Der Schnee war weich und sah gar nicht aus, als könnte er irgendwie mit Wasser verwandt sein. Die Luft war so sauber, so gut. Sie atmete tief und genussvoll, dabei schlossen sich ihre Augen zu kleinen Schlitzen. Der Atem wolkte vor ihrem Gesicht.
 
Ihr Schritt beschleunigte sich, und plötzlich fing sie an zu laufen. Einfach so. Sie fühlte sich mit einem Mal so frei.
 
Kein Mensch war unterwegs, kein Auto störte den Frieden. Die ganze Stadt schien zu schlafen. Und dabei war es tag­hell. Wie bei einer UFO-Landung - schoss es ihr durch den Kopf. Alles weiß in weiß. Gleißend hell und doch irgendwie mild. Weder Mond noch Sonne noch irgendwelche anderen Ein­zelheiten waren da oben zu entdecken. Eigentlich war der Himmel körnig, pastig. Auf jeden Fall so hell, dass Elena sich wunderte, dass nicht mehr Leute wie sie auf die Idee gekommen waren, hinauszukom­men und zu staunen. Sicher schliefen alle tief und fest und bekamen gar nichts mit.
 
Inzwischen war der erste Energieschub etwas abgeflacht. Sie verfiel in einen langsameren Trabschritt, dann in ei­nen zeitlupenartigen ausfallenden Weitsprungschritt. Es war ihr, als könne sie fliegen. Wie in ihren Träumen. Aber diesmal nicht mit dem Bauch nach unten, sondern einfach so, im Lau­fen. Ihre Arme, wurde sie sich plötzlich bewusst, wehten etwa in Schulterhöhe an beiden Seiten. Es war so schön.
 
Plötzlich musste sie denken: Wenn mich so einer sieht! Der denkt, ich bin aus dem Irrenhaus entsprungen. Sie ließ die Arme fallen, steckte die Hände verschämt in die Taschen und verlegte sich auf normales Gehen. Der Schnee schleu­derte in kurzen energischen Bögen von ihren Stiefelkappen, die ebenfalls ganz weiß waren. Sie drehte sich um, und rückwärts gehend, be­trachtete sie ihre Spur im Schnee. Die einzige weit und breit. Sie war der einzige Mensch in die­ser großen Stadt. Ganz allein. Also keine Angst, dass dich einer sieht! Keiner ist da. Alles schläft! Niemand sieht dieses Wunder. Es ist nur für Dich da, Dich hat es geru­fen! Keinen anderen!
 
Sie erinnerte sich, als Halim, der gerade bei ihr wohnte und der aus einem heißen Land kam, sie in der Nacht weckte. Voller Begeisterung. Draußen schneite es. Der er­ste Schnee, den er wirklich sah, anfassen, fühlen, riechen konn­te.
 
Da musste auch er hinaus! Er riss sie mit sich, sie die auch damals kein Wort der Widerrede sprach. Er bewarf sie erst mit einer Salve von Schneebällen, juchzte und kreischte entzückt und drehte sich lange Zeit wie ein Irrer im Kreis. Dann war er auf sie zugeschossen und versuchte, ei­nen Tango mit ihr zu tanzen, mitten auf der Straße zwi­schen den rechts und links parken­den Autos, die ihrem Un­gestüm nicht ausweichen konnten. Sehr elegant war das si­cher nicht. Aber so viel Spaß hatte Elena schon lange nicht mehr gehabt.
 
Wenige Tage darauf hatte sie festgestellt, dass er vor dem Spiegel Selbstgespräche führte. Er beschimpfte sich als ei­nen miesen, ekelhaften Kerl, einen Verbrecher, ein Schwein. Er schlug sich mit der Hand mehrfach ins Gesicht.
 
Ein andermal ging er so weit, sich selbst vor dem Spiegel die Faust derart in den Magen zu rammen, dass er mit schmerz­verzerrtem Gesicht auf den Boden sackte. Danach war er wie­der ein lieber Kerl. Lammfromm. Er kochte und putz­te, wäh­rend sie in der Arbeit war.
 
Er durchsuchte aber auch, ohne sie zu fragen, sämtliche Schränke, sobald sie die Wohnung verließ. Eines Tages kam sie heim und fand auf dem Tisch, dem Fußboden, dem Bett, dem Plattenspieler, sogar im Bad auf dem Toilettendeckel Ölbil­der, die er in den neun Stunden, in denen sie nicht zu Hause war, fabriziert hatte. Ein Zettel besagte: Ist das nicht wunderbar? Ich habe mein Talent entdeckt. Komme heute erst spät nach Hause. muss im Schnee laufen, laufen, laufen...
 
Sie hatte sich nur maßlos geärgert. Drei sagenhaft teure Leinwandblöcke hatte er verbraucht, die Farbtuben lagen noch alle offen herum und trockneten ein, die Palette und Pinsel waren nicht gerei­nigt. Es roch zum Erbrechen nach Ölfarbe.
 
Als er wegen des Streits wegen dieser Sache die Stadt und kurz darauf sogar das Land verlassen hatte, erhielt sie die Telefonrechnung über knapp 700 Mark. Das war wirklich die Höhe! Sie schrieb ihm einen sehr bösen Brief.
 
Eine zuckersüße Antwort kam zurück. Er werde alles wieder gut machen. Inzwischen sei er weiter mit der Malerei be­schäftigt, es habe ihn wirklich erwischt.
 
Am nächsten Tag kam ein Paket. Es enthielt einen weißen Pulli. Dabei ein Zettel: Ich habe diesen Pulli, der mich an unsere Nacht im Schnee erinnert, zwar von Deinem Geld ge­kauft, Du hast es vielleicht noch nicht bemerkt, aber ich werde Dir alles bezahlen, sobald ich meine Bilder ver­kauft habe. Ich liebe Schnee über alles!
 
Eine Woche später erzählte ihr ein Freund am Boden zer­stört von Halim, er sei in Amsterdam aus einem Fenster ge­sprungen. Ganz oben aus einem Hochhaus. Er hätte "Schnee" genommen und wollte das Fliegen ausprobieren. Nun war er tot. Seine letzten Bilder, erzählte er, zeigten lauter ab­gehackte Frauenköpfe und literweise Blut.
 
In Tränen aufgelöst hatte Elena zu Hause alle seine Ölbil­der herausgeholt. Nun sah sie etwas ganz deutlich, was ihr vor­her im Zorn nicht aufgefallen war - auf fast allen Bil­dern lag Schnee. Und überall ein gestürzter, vom Blitz er­schlage­ner, verkohlter Baum oder eine zertrümmerte Egge oder Sense oder ein geborstenes Schiff am Ufer eines ge­frorenen Sees.
 
Das eindrucksvollste Bild war jedoch eines, das einen un­ge­stümen rosa Wasserfall inmitten eines erbsgrünen lianen­ge­säumten Urwaldes zeigte. Auf der Kippe an der reißend­sten Stelle des Wasserfalles trudelte hilflos ein Boot.
 
Hatte so seine Seele ausgesehen? Sie hatte es nicht be­merkt. Sie hatte sich nur über ihn geärgert. Hätte sie ihm damals helfen können? Es nagte in ihr. Vielleicht war die Tollerei im Schnee das letzte gewesen, das ihm wirklich Freude gemacht hatte.
 
Den Pullover hielt sie lange in Ehren und als sie einmal ih­ren Mann in diesem nach Hause kommen sah, schrie sie ihn an und gebot ihm, ihn sofort auszuziehen. Außer sich vor Wut. Irrational.
 
Elena wurde sich bewusst, dass es ihr recht kalt geworden war. Beim Laufen hatte sie geschwitzt, aber nun zitterte sie am ganzen Körper. Ihre Hände waren ganz rot und ge­fühllos. Ihre Nase fühlte sich an wie ein Stück Metall. Ihr Hals schmerzte vom Keuchen vorhin. Beim Atmen schnitt die Luft wie ein eisiges Messer durch ihre Kehle.
 
Sie beschloss, sofort wieder nach Hause zu gehen. Ohne es zu bemerken, hatte sie sich ein recht weites Stück von dort entfernt. Auf dem Rückweg war sie sich, im Gegensatz zu ih­rem Fortlaufen, genau des Weges bewusst. Es hatte wie­der an­gefangen zu schneien. In dicken weichen Flocken, die in alle möglichen Richtungen wirbelten und es sich lange zu überle­gen schienen, wo sie denn landen wollten.
 
Die frohe Stimmung war verflogen, ernüchtert bemerkte Elena, dass ihre Nase angefangen hatte, zu tropfen. Wie im­mer hatte sie kein Taschentuch dabei. Die Flüssigkeit hin­terließ sofort gefrierende Streifen auf dem Mantelärmel.
 
Wie dumm von mir, einfach so von zu Hause wegzustürmen! Mit­ten in der Nacht! In der dünnen Leggings und dem Sweatshirt - ohne was darunter. Ich werde mir noch eine Lungenentzün­dung holen. Sie fing an zu husten.
 
Das erinnerte sie daran, dass sie seit sie hinausgegangen war, noch keine geraucht hatte. Mit vor Kälte zitternden Fingern zündete sie sich eine Zigarette an. Der Rauch tat gut nach all der frischen Luft. Ein Stückchen Zuhause, dach­te sie bei sich. Aber wärmer wurde ihr nicht.
 
Warum zündet man immer eine Zigarette an, um sich zu wär­men? Das ist doch wieder alle Vernunft. Rauchen verengt die Blut­gefäße, dann friert man noch mehr, dachte sie und umklam­merte die Zigarette mit ihrer gefrierenden Hand, die sie jetzt nicht einmal mehr in die Manteltasche stecken konnte.
 
Endlich erreichte sie ihr Haus. Noch immer war ihr kein Mensch begegnet. Noch immer waren nirgendwo Lichter zu se­hen. Ihre Nacht. Aber jetzt war es genug. Obendrein musste sie morgen im Büro sein. Jetzt war es schon gegen 4 Uhr mor­gens.
 
Als sie vor der Haustür in ihren Taschen wühlte, fiel ihr ein, dass sie den Schlüssel gar nicht mitgenommen hatte. Auch das noch. Oh Gott, jetzt musste sie ihn rausklingeln und sich seine Schimpftiraden anhören. "So blöd kannst auch nur du sein, was für einem Trottel habe ich da gehei­ratet. muss man auf dich aufpassen wie auf ein klei­nes Kind! Aussperren sollte ich dich! Gibst du wenigstens zu, dass keine andere so bescheuert wie du ist, mitten in der Nacht auf der Straße 'rumzurennen?" usw.
 
Sie nahm Abschied von der friedlichen Nacht, in der nur sie existierte und keiner ihren Weg kreuzte und drückte gotter­geben auf den Klingelknopf.
 
Schon ein paar Sekunden später summte der Türöffner. Be­drückt und in übelster Erwartung schlich sie leise die Treppen in den vierten Stock hoch.
 
Er stand an der Tür, voll angezogen und strahlte sie an: Unglaublich schön draußen, gell? Ich wollte gerade auch rausgehen. Ich dachte mir, ich gehe deinen Spuren nach und dann können wir zusammen ein bisschen durch die Straßen laufen und irgendwas Blödes anstellen. So eine herr­liche Nacht darf man sich doch nicht entgehen lassen!

 

 
Kapitel IV
 
Sofort als Elena das Licht im mit allen möglichen Kartons, Stiefeln und leeren Flaschen voll gestellten Gang ange­knipst hatte, stach ihr dieser widerwärtige, fischig-süß­liche Geruch aus der überheizten Wohnung in die Nase.
 
Die Türe ließ sie gleich offen, mit ein paar Schritten (fast wäre sie dabei auf einer mitten im Weg liegenden No­tiz ausgerutscht) war sie im Wohnzimmer, am Fenster, das sie mit wenig Geduld für den ewig klemmenden Rahmen sperr­angelweit aufriss.
 
Ihre Lungen arbeiteten nach 68 Stufen, die sie, noch dazu mit einem weiteren Karton Getränkeflaschen (diesmal vol­len) und mehreren Tüten beladen, zwar im Schneckentempo, jedoch ohne stehenzubleiben bewältigt hatte, auf vollen Touren, weit aufnahmebereit für jedes noch so kleine Aro­mapartikelchen. Der Geruch war so abscheulich, dass es sie würgte und sie den Kopf japsend so weit es ging, in die schneidend kalte Winterluft vor dem Fenster vorstreckte.
 
Als sie nach einiger Zeit den Eindruck hatte, jetzt hätte sie sich wieder gefangen und könne es wagen, wieder einen Schritt zurückzutreten, wurde sie schnellstens eines bes­seren belehrt. Der penetrante Gestank hatte sich noch nicht im mindesten verflüchtigt.
 
Die Hand vor dem Mund, näherte sie sich wild entschlossen der voraussichtlichen Quelle dieses Desasters, dem Müllei­mer in der Küche. Todesmutig schleuderte sie den Deckel beiseite, packte die Tüte mit zwei Fingern am obersten, noch halbwegs sauberen Zipfel und beförderte das ganze im Sprint quer durch die Wohnung (ein Weg, der wegen der kreuz und quer stehenden Hocker und des riesenhaften Ti­sches leider nicht abgekürzt werden konnte) und schleu­derte den Beutel bereits mit Tränen in den Augen und immer krampfhafter auf den Mund gedrückter Hand hinaus auf die schneebedeckte Brüstung vor dem Fenster.
 
Der Trick mit dem Kopf-aus-dem-Fenster-Stecken klappte nun nicht mehr, denn da stank es noch bestialischer als in der ganzen Wohnung.
 
Da half nur eins: Fenster zugeschmettert und raus vor die Wohnungstür. Am besten gleich raus vor die Stockwerkstür.
 
Als diese sich mit Schwung schloss, schlug auch noch eine andere Tür zu - na klar, die Wohnungstür. Und der Schlüs­sel lag sicher brav im Gang neben dem Getränkekasten, den Einkaufstüten und der Handtasche, irgendwo auf dem Fußbo­den, da wo er in vollster Hektik fallengelassen worden war.
 
dass sie nicht mal Zeit gehabt hatte, den Mantel auszuzie­hen, erwies sich nun als Glück, denn im Treppenhaus war es nicht gerade angenehm warm.
 
Nachdem sie alle Taschen des Mantels und ihrer Hose er­folglos durchwühlt und die Wohnungstür gründlich auf lei­der nicht vorhandene Schwachstellen in Schlossnähe inspi­ziert hatte, beschloss sie, auf ihren Mann zu warten, der jeden Moment nach Hause kommen würde.
 
Falls er ihr nicht immer noch böse war wegen der kleinen Ungeschicklichkeit gestern, als sie beim Durchqueren des Zimmers sein Frettchen übersehen hatte, das gerade fröh­lich über den Fußboden witschte.
 
Vielleicht hätte sie den kleinen leblosen Körper doch auch lieber im Gefrierfach lagern sollen, bis man im Frühling die Erde wieder ausheben konnte.

 

 
Kapitel V
 
Ein unscheinbarer Umschlag im Briefkasten. Kein Absender drauf. Auf dem Weg nach oben riss Elena achtlos den Um­schlag auf und fing an zu lesen. Plötzlich erstarrte sie, dann fing ihr Herz an, wie wild zu jagen. Die Luft blieb ihr weg, obwohl sie erst gerade im 1. Stock angekommen war. Das ist doch! Das gibt es doch nicht! Mit knapper Be­herrschung unterdrückte sie einen lauten Juchzer. Ich... gewonnen... den zweiten Preis! Eine TRAUMREISE! Ihr drehte sich der Kopf. Ohne überhaupt zu wissen wie, stand sie schon vor der Tür im vierten Stock, sperrte auf, ließ sich aufs Sofa fallen und las den Brief wieder und wieder. Tat­sächlich! Nach all den Postkarten mit richtigen Lösungen, jahrelang der Post in den Rachen geworfenem Portogeld end­lich mal gewonnen!
 
Sie versuchte sich zu erinnern, bei welchem Preisaus­schreiben dies wohl gewesen sein könnte. Sicher nicht bei dem mit dem Deokristall, wohl auch nicht bei der Zigaret­tenfirma, ganz bestimmt nicht bei dem mit dem Dampfstaub­sauger. Langsam dämmerte es ihr. Das war doch das Preis­ausschreiben gewesen mit den 500 Bettdecken. Was wollten die doch gleich wissen? Wie viele Gänse gerupft werden, da­mit eine gefüllt wird? Oder wie alt die Gänse waren? Oder mit was sie gefüttert worden waren? Jedenfalls musste es das gewesen sein. Die Antwort stand riesenhaft im Preis­ausschreiben, was also jeder noch so Blöde sehen musste und somit das Rätsel lösen konnte. Auch Elena. Und nun hatte sie nicht eine der Bettdecken, sondern sogar den 2. Preis gewonnen!
 
Eine Reise in die Schweiz, 4 Tage in einem SPORTHOTEL. Wo sie doch noch kaum je irgendeine Art von Sport betrieben hatte. (Außer sich täglich in den 4. Stock hoch zukämpfen.) Der Termin war vorgegeben. Himmel, das war ja schon näch­ste Woche!!!
 
Sie rief sofort im Büro an, ob sie Urlaub bekommen könne. Sie habe eine Reise gewonnen. Der Chef persönlich gratu­lierte ihr und meinte, obwohl da zwar mehrere Kolleginnen in der Woche schon frei hätten, könne man in diesem Fall ja wohl nichts anderes tun, als ihr Glück wünschen. NATÜR­LICH könne sie fahren.
 
Elena konnte es immer noch gar nicht fassen. Die Knie wa­ren ganz weich und ihre Hände zitterten vor Freude. Gott segne die Gänse!
 
Bis ihr Mann nach Hause kam, hatte sie sich wieder eini­germaßen auf dem Boden der Tatsachen eingefunden. Was sie gewonnen hatte, war eigentlich nur die Übernachtung in ei­nem 4-Sterne-Luxushotel, nicht jedoch die An- und Abfahrt und auch nicht das Essen. Und das ganze für nur eine Per­son. Wer hatte schon je von einem Gewinn über eine Reise für nur eine Person gehört? Das war doch seltsam. Wenn sie jemanden mitnehmen wolle, könne sie das, allerdings zu ei­nem Unkostenbeitrag von DM 360.- stand da ganz klein zu lesen. Die An- und Abfahrt mit dem Bus koste DM 200.-
 
Na gut, dachte sie, Reza muss natürlich mitkommen, d.h. die Reise kostet uns DM 760.- plus Essen. OK, immerhin hatte sie endlich mal was gewonnen und das musste man auch aus­nutzen.
 
Reza fand den Gewinn gar nicht so toll, außerdem war er nicht besonders von der Idee des Mitkommens begeistert. Als sie aber spontan sagte: Alles was über DM 200 kostet, übernehme ich, gelang es ihr, ihn zu überzeugen, dass er mitfahren würde.
 
Ein Anruf bei der Firma, von der der Brief kam, bestätigte ihr, dass es tatsächlich kein Aprilscherz war und sie gab gleich an, dass sie zu zweit kommen würde. Nein, einen Pro­spekt des Hotels hätten die dort nicht und Näheres würde sie noch rechtzeitig erfahren.
 
Weitere Anrufe an den folgenden Tagen ergaben auch nichts Näheres, aber einen Tag vor dem geplanten Termin war end­lich ein Brief im Briefkasten, der die genaue Abfahrtszeit nannte.
 
Die gab sie Reza als 10 Uhr an, in Wirklichkeit stand da zwar 11 Uhr, aber sie kannte ja seine ewigen Trödeleien. Wenn sie ihn um eine Stunde beschummelte, würden sie wohl kurz vor 11 am Bus sein.
 
Und so kam es, dass sie am nächsten Tag tatsächlich schon um 1/2 11 in der U-Bahn saßen. Unterwegs suchte ihr Mann jedoch in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, wobei ihm der Brief der Preisausschreibenfirma in die Hand fiel. Bevor Elena es ihm unauffällig wieder abnehmen konnte, hatte er schon entdeckt, dass da mit fetten Lettern stand: 11 Uhr Abfahrt. Voller Wut fauchte er sie an, wieso sie ihn hintergangen habe und er sich künstlich abhetzen musste. Eine Gemeinheit sei das.
 
Mit übelster Laune kamen sie am Bahnhof an, wo er sie als Rache die beiden voll bepackten Koffer (schließlich wusste Elena nicht, wie oft man sich in einem Luxushotel umziehen muss, um nicht unangenehm aufzufallen) schleppen ließ, wäh­rend er in aller Gemütsruhe die in allen Kiosks feilgebo­tenen Waren betrachtete, einen Abstecher zur "Internationalen Presse" machte, und dort nach eingehendem Studium verschiedener iranischer Zeitungen den Laden ohne etwas zu kaufen wieder verließ. Mittlererweile war es be­reits kurz nach 11. Elena war vor Panik, dass der Bus ohne sie fahren würde, schon ganz gerädert und versuchte mit der Hand, die den rechten Koffer schleppte, eine Zigarette und mit der anderen kofferbeladenen Hand ein Feuerzeug haltend, die beiden zur Zusammenarbeit zu bewegen, was je­doch ziemlich schwierig war, aber der einzige Rettungsan­ker in ausweglosen Situationen.
 
Völlig abgekämpft kam Elena einige Schritte vor Reza am Doppeldeckerbus an, den sie sofort an dem großen Werbe­schild der Preisausschreibenfirma erkannt hatte. Reza, in­zwischen wieder bester Laune, fragte den Busfahrer, wo er das Gepäck hintun solle und erhielt als Antwort, dass es egal sei, in welchem der drei Busse.
 
Um Viertel vor 12 ging die Fahrt endlich los, da auch an­dere zu spät gekommen waren. Ob das wohl auch jeweils we­gen des Mannes war, grübelte Elena. Immer heißt es, die Ehefrauen stünden ewig vor dem Spiegel und wechselten zig­mal die Kleidung, bevor der arme geplagte Mann mit ihr endlich das Haus verlassen konnte. Bei uns ist alles umge­kehrt!
 
Nach fünf Stunden Schleichfahrt über die Autobahn, bei der der Bus nur am Zoll hielt, wo es zwar wenigstens eine Toi­lette, aber nichts zu essen gab, trafen die Busse endlich am Bestimmungsort ein. Beim Aussteigen rutschte Elena so­fort auf der spiegelglatten Eisfläche aus. Ein toller An­fang! Zum Glück hatte sie sich nicht weh getan.
 
Als sie an der Rezeption Aufstellung nahmen, erkannte Elena, dass alle diese Menschen den 2. Preis gewonnen hat­ten! Elena fühlte ihren Gewinn immer mehr an Wert verlie­ren. Das durfte doch nicht wahr sein!
 
Reza rauchte inzwischen seelenruhig eine Zigarette und be­deutete ihr, sich ebenfalls hinzusetzen. Wenn alle anderen fertig wären, würden sie ihren Zimmerschlüssel holen, ohne die ganze Zeit herumstehen zu müssen.
 
Als nur noch etwa zehn Leute an der Rezeption standen, ge­sellte sich Elena dazu und bekam gerade mit, wie die ge­schniegelte Dame dort voller Verzweiflung den Reiseleiter um Hilfe rief. Sie hätten bereits alle Zimmer vergeben, und es seien keine mehr frei. Es seien einfach mehr Leute als Zimmer mit den Bussen gekommen. Vier Leute vor ihr wurden dann in ein Doppelzimmer gepfercht und machten ih­rer Wut lautstark Luft. Nach einer langen Tuschelei gab es plötzlich wieder Schlüssel. Elena bekam Gott sei Dank auch noch einen mit einer detaillierten Beschreibung, wie sie zu dem Zimmer kommen sollte.
 
Nachdem Reza und sie diverse Korridore durchquert hatten, etwa eine Viertelstunde im Untergrund des sehr noblen Ho­tels herumgewandert waren, und schließlich wie befohlen den Lift Nummer 12 genommen hatten, standen sie endlich vor dem ihnen zugewiesenen Zimmer.
 
Wie groß war ihre Überraschung, als ihr Blick bei Eintre­ten auf eine riesige Zimmerkluft mit vier Betten, einer enormen, voll ausgestatteten Küche und zwei edle Badezim­mer fiel! Sie hatten eine Suite bekommen! Jedes der Zimmer hatte einen Balkon mit einem, wie bei der sich herabsen­kenden Dunkelheit gerade noch erkennbar war, wohl fan­tastischen Blick in die Berge.
 
Begeistert durchwanderten sie die Zimmer, die zusammen wohl dreimal so groß wie ihre Wohnung waren. Wie schade, dass sie hier nur 3 Nächte bleiben sollten!
 
Vom Fernseher bis zur Mikrowelle war alles vorhanden. Die Küche war sogar mit einem marmornen Nudelholz und einem Fondueset ausgestattet.
 
Da der Kühlschrank jedoch gnadenlos leer war, bis auf ei­nige schon stark ergraute Eiswürfel, und der Magen ihnen dank Elenas üblicher Umsicht, mit der sie keinerlei Le­bensmittel in den Bus mitgenommen hatte, schon nahezu in Fersenhöhe hing, beschlossen beide, schnellstens zu erkun­den, wo es was zum Essen gäbe.
 
Von fünf Restaurants auf dem Hotelgelände war nur eines geöffnet. Eine Pizzeria. dass das Essen in einem Luxushotel teuer sein konnte, hatten sie sich vorher schon so in etwa gedacht, aber so teuer? Trotzdem bestellten sie zwei Piz­zen und fielen wenig später völlig ausgehungert darüber her, so dass die Leute an den Nebentischen indignierte kleine Bemerkungen über die beiden austauschten. Es war hier wohl nicht üblich, die Pizza einmal gefaltet in der Hand zu halten und einfach abzubeißen. Naja, aber essen mussten sie, und zwar schnell. Nach der Hälfte der Pizza bemerkten sie, dass sie wohl ausschließlich mit Knoblauch belegt war, aber das bereitete ihnen keinen Kummer.
 
Erst am Abend, als beide sich auf dem Grundstück gut umge­sehen hatten und dabei festgestellt hatten, dass außer dem Schwimmbad und der Sauna so ziemlich alles saisonbedingt geschlossen war, empfanden die beiden den kaum gekauten Knoblauch als etwas schwer verdaulich, denn in der Ver­sammlung aller Gewinner, denen der Reiseleiter einen Vor­trag über die Geschehnisse des Folgetages hielt, wurden erschütternde Geräusche aus ihren Bäuchen laut und sie hatten selbst den Eindruck, wohl noch selten einen derart penetranten Knoblauchgeschmack im Munde gehabt zu haben.
 
Am nächsten Tag war ein Ausflug geplant. Erfreulicherweise war dieser im Gewinn eingeschlossen und es sollte zu Luis Trenkers berühmter Schlucht (der größten Schlucht der Schweiz), zu einer berühmten Kirche (der ältesten Kirche der Schweiz) und nach Davos (dem berühmtesten Kurort der Schweiz) gehen. Außerdem wurde ihnen erklärt, dass sie sich im größten Hotel der Schweiz befänden. Eigentlich bestand die Rede des Reiseleiters nur aus Superlativen.
 
Noch schlimmer wurde es, als die Rede auf die sagenumwobe­nen Bettdecken kam, die es im folgenden nun zu einem noch nie da gewesenen, einmaligen Sonderpreis (nur für die "paar" Gewinner) zu kaufen gäbe. Nach einer Aufzählung sämtlicher Heilkräfte, die eine solche Decke abgesehen von einer umwerfenden Wärmewirkung und selten ausgeprägten schlaffördernden Eigenschaften aufweise, und es waren nicht gerade wenige, wurde es Reza zu bunt und er und Elena verließen abrupt den Saal, von den strafenden Blicken des Reiseleiters und an die Hundert sehnsüchtiger Augenpaaren begleitet.
 
Den Rest des Abends verbrachten sie in der Sauna, deren übrigen Nackedeis, wohl aufgrund der stechenden Knoblauch­wolke, die von ihnen ausging, nach kaum zwei Minuten je­weils die heiße Grotte verließen. Der glühenden Hitze in der kleinen Zelle boten sie Kontra mit mehreren ausgedehn­ten Schwimmgängen in einem der zahlreichen Swimmingpools, der in mattem Schummerlicht eher mitternachtsblau vor sich hin wogte.
 
Am nächsten Morgen mussten sie zu haarsträubend früher Stunde aufstehen, denn Frühstück war um Punkt halb acht angesetzt worden. Das Hotel hatte immerhin 1700 Betten und alle diese Leute mussten schichtweise nacheinander in einem kleinen Frühstücksraum essen. Ihre Schicht war die erste. Aber am nächsten Tag, so wurden sie getröstet, durften sie sogar eine halbe Stunde später aufstehen.
 
Das Frühstück war unerwartet schlecht und mickrig. Um das auszugleichen, ließ sich Elena die Kaffeetasse auch ein sechstes Mal auffüllen und litt dann den Rest des Tages unter einem Tatterich. Bis der Bus um Viertel nach 12 die Ausflügler mitnehmen sollte, machten sie einen kleinen Spaziergang durch die Berge und spielten dabei vergnügt mit einem Schneeball, der schließlich gerade noch Reis­korngröße hatte, sie aber einen langen Weg begleitet und dabei allerlei Abenteuer bestanden hatte.
 
Die Aussicht war grandios, die Sonne strahlte auf die ver­schneiten Fichten nieder und erfüllte die beiden mit Hoch­stimmung. Elena fühlte sich wie frisch verliebt. Nachdem um elf Uhr das obligatorisch verfrühte Mittagessen (schlecht, wenig, aber reichlich teuer) eingenommen worden war, machte es sich Reza nochmals auf dem Zimmer bequem, so dass sie, nach Elenas Rechnung superpünktlich um sech­zehn nach zwölf vor die Hoteltür traten. Kein Bus zu se­hen. Sie umwanderten das Gelände, aber immer noch keine Spur von einem Bus und obendrein herrschte auch sonst gäh­nende Leere. Kein Mensch war unterwegs. Seltsam. Der Bus war doch nicht etwa ohne sie gefahren?
 
Er war. Elena bekam fast einen Tobsuchtsanfall, denn die­ses eine Mal waren sie pünktlich gewesen und die anderen hatten nicht einmal eine Minute gewartet! Und dabei hatte sie sich so auf Davos gefreut, den Zauberberg von Thomas Mann, das Lungensanatorium aus den Erzählungen vom Opa, in dem so viele lustige kleine Geschichten passiert waren, die sie, als er noch ein Gedächtnis hatte, immer und immer wieder von ihm gehört hatte.
 
Den alternativen Nachmittagsspaziergang mit ihrem Mann würzte sie mit beißenden Bemerkungen, obwohl Reza gar nicht schuld gewesen war. Als er plötzlich an einem schneebeladenen Ast über ihr zog, so dass sich eine ganze Lawine über sie und in ihren Anorak ergoss, platzte ihr endgültig der Kragen. Dieser Urlaub war für sie gelaufen. Warum musste sie ausgerechnet mit so einem Gewinn geschla­gen sein! Alle anderen gewannen Reisen auf die Malediven oder nach Florida oder jedenfalls irgendwohin, wo es warm war, und sie musste in diese beschissene Schneewüste. Und dann ging noch alles schief!
 
In Tränen aufgelöst taumelte sie nach einer wüsten verba­len Attacke auf Reza diesem nach ins Hotel, wo er sich be­reits um zwei Uhr nachmittags ins Bett legte. Wenn er sich ärgerte, ging er stets zu den unmöglichsten Zeiten schla­fen und Elena blieb alleine mit ihrem Frust.
 
Eine überflüssige Nachfrage beim viel zu teuren Friseur, der obendrein diese Woche keinen Termin mehr hatte (und ihre Haare waren sowieso gerade erst geschnitten worden), und zwei stinklangweilige Fernseh-Kindersendungen später, kam Reza wieder zum Vorschein und stellte fest, dass sie sich immer noch die Seele aus dem Leibe heulte.
 
Fest entschlossen, diesmal trotzdem noch das Beste aus al­lem zu machen, willigte er schließlich ein, zur Happy Hour mit an die Bar zu kommen, wo Elena zwei Karaffen ekelhaft süßen Wein mit Todesverachtung hinunterzwang und schließ­lich den Reiseleiter bei dessen Rückkunft mit einer unflä­tigen Rede über missverstandene Überpünktlichkeit und Treu­losigkeit am Reisegewinner belämmerte. Als dieser von ih­rem lauten Gemäkel schließlich unangenehm berührt meinte, sie könnten statt dessen am morgigen Ausflug, der eigent­lich pro Nase DM 100.- kosten würde, kostenlos teilnehmen, um das Geschehene wieder gutzumachen, versiegten ihre Trä­nen, so plötzlich wie sie gekommen waren, und der Tag war doch noch gerettet.
 
Am nächsten Tag warteten Elena (mit dröhnenden Kopf dank des Weinkonsums vom Vorabend) und Reza bereits eine Vier­telstunde vor der angekündigten Abfahrtszeit bereit und jetteten zielstrebig als erste in den Bus. Nach ca. zwei­einhalbstündiger Fahrt bei dichtestem Nebel gelangten sie an der ersten Attraktion an - dem Wilhelm Tell-Denkmal. Drei Minuten Zeit zum Fotografieren! Dann ging es weiter nach Schwyz, der zweiten Sehenswürdigkeit. Achtung - jetzt aus dem Fenster sehen! Eine buntbemalte Häuserwand tauchte für Sekunden im Blickfeld auf und war bereits verschwun­den. Nach einer weiteren Stunde hielt der Bus auf einem großen Busparkplatz außerhalb von Luzern. Eineinviertel Stunden Zeit, sich alles anzuschauen, dann wieder am Bus! Aber pünktlich! Der Bus wartet nicht! verkündete der Fah­rer.
 
Im Trab erreichten sie die Brücke in die Stadt, von dort aus eilten sie durch die Fußgängerzone mit wunderschönen, sündteuren Schweizer Uhren zum Ende des verkehrsberuhigten Stadtteils. Kaum waren sie dort angekommen, schlossen wie auf Kommando alle Läden. Oh nein! Es war Samstag, das hat­ten sie überhaupt nicht bedacht! Wo sollten sie jetzt eine billigere aber trotzdem noch schöne Uhr finden, die sich Reza in den Kopf gesetzt hatte (als Nummer 9 in der Samm­lung) und wo sollte Elena ihrer Freundin die Goldsucher­karte kaufen, die diese bestellt hatte? Das einzige, was noch verkauft wurde, waren heiße Maroni. Die waren aller­dings ausgezeichnet. Die übrige Stunde schlenderten sie tapfer durch die eiskalten Straßen, die zwar im Lichter­glanz erstrahlten, aber leider nichts Kaufbares boten.
 
Sie waren als erste am Bus und verbrachten dort die drei­stündige Rückfahrt in düsteren Gedanken verloren ohne ein Wort zu sprechen auf ihren angestammten Plätzen.
 
Am nächsten Morgen um zehn Uhr fuhren sie schon wieder gen Heimat. Um elf Uhr machte der Bus eine Pause an einer Raststätte, da man sich allgemein beschwert hatte, man hätte auf der Hinfahrt fast verhungern müssen. Elena und Reza zogen es vor, spazieren zu gehen und nichts zu essen. Viel zu früh.
 
Gegen Abend kamen sie endlich, dank Elenas üblicher Um­sicht, mit der sie keinerlei Lebensmittel in den Bus mit­genommen hatte, vollkommen ausgehungert und deprimiert zu Hause an.
 
Am nächsten Tag schickte Elena mal wieder eine Postkarte auf die Reise. Diesmal war ein Set mit allen möglichen Ba­dezusätzen zu gewinnen. Machte ja nichts, dass Elena keine Badewanne besaß. Der erste und zweite Preis waren schließ­lich eine Reise nach Köln für 2 Wochen bzw. Nächte.
 
(leider unvollendet!)
 

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