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Drei Mal Unendlichkeit
02.10.2023 09:49

Angekommen in Berguenau, einem kleinen Ort im Elsass, von dessen Existenz ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Wir sind hier, weil mein Partner geschäftlich etwas zu erledigen hat. Unser Hotel versprüht den Charme eines in die Jahre gekommenen Motels. Das Rollo muss man herunterlassen, ansonsten schaut einem ein jeder direkt ins Bett. Da wir das allererste Zimmer am außen entlangführenden überdachten Gang haben, wirklich jeder. Wir beschließen, dass um diese Zeit alles besser ist, als im verdunkelten Zimmer zu sitzen. Also fahren wir in den Ort. Mit Mühe umfahren wir eine Demonstration. Tausende von Menschen in diesem winzigen Ort! Alle mit einem dunkelgrünen Oberteil mit einer Nummer drauf.

Ach, ja, ein bisschen was essen könnte man schon. Auch wenn wir nicht so großen Hunger haben. Wir finden einen Parkplatz außerhalb der wegen der Demo gesperrten Strecke, ein paar Schritte weiter ein Lokal. Irgendwas wird es schon geben, das uns zusagt.

Es ist ein Monat mit R. Ich bestelle Pfahlmuscheln. Wenig später stellt man mir einen riesigen Topf hin. Da mein Partner etwas anderes geordert hat (und Muscheln gar nicht mag) muss das wohl alles für mich sein. Eine unglaubliche Menge! So etwas habe ich noch nie gesehen. Dazu noch ein großer Teller Pommes Frites.

Gut sind die Tierchen ja, ganz frisch, weich und zart. Etwas kleinere Schalen als die, die man im Supermarkt in Deutschland bekommt. Eigentlich sehr sehr lecker. Ich pule mit einer Muschelschale als Zange im Akkord Muschelfleisch aus den schwarzen Schalen und lasse es mir schmecken. Bald häuft sich ein großer Stapel im schüsselförmigen Deckel des Muscheltopfes. Er wird abgeholt und gegen einen frischen eingetauscht. Unsägliche Mengen enthält der Topf. Ich habe das Gefühl, als sei ich irgendwo mit versteckter Kamera, und man will sehen, wie ich reagiere. Ob ich nach der Hälfte aufstecke, ob ich versuche alles zu essen, ob die Muscheln unten durch den Tisch irgendwie im Topf nachgefüllt werden? Ich verschiebe den Topf. Es ist kein Loch drunter in der Tischplatte.

97, 98, 99, 100. Und kein Ende in Sicht. Wie war das noch mit Eiweißschock? Und wenn jetzt eine Muschel schlecht wäre? 135, 136… Eine sieht etwas verrunzelt aus, die sortiere ich weg und lege sie an den Rand des Schalenabfalls. Tapfer kämpfe ich mich durch die Muscheln in der roten Sauce, während mein Partner ungläubig mit dem Kopf schüttelt. Sein Steak-Frittes hat er längst verzehrt. Er macht Fotos von meiner Fressorgie. Mir läuft die Muschelsauce übers Kinn, meine Hände sind voller Sud, die große Serviette, die ich mir um den Hals geknotet habe trägt deutliche Spuren der Schlacht. Ich habe mir ein paarmal in die Haare gefasst, so dass rote Strähnen in mein weißes Haar geraten sind. Er zeigt mir die Fotos. Ich lache.

An anderen Tischen haben weitere 7 Personen dieselben Töpfe geliefert bekommen. Ich schaue genau, es sind jeweils Einzelpersonen, die in die Muscheltöpfe langen. Niemand isst zu zweit aus einem Topf. Die meisten essen mit der Gabel. Manche stippen Brot in die Sauce, wodurch sie noch zusätzliche Probleme gekommen werden, weil sie schneller satt sein werden. Jedenfalls ist es korrekt, dass hier jeder isst, soviel er kann. Das ist kein blöder Scherz, das gehört so. Wenigstens bei den Pommes Frittes habe ich aufgesteckt.

189, das Ende ist endlich in Sicht. Die 189 ist schlohweiß. Ich sortiere sie aus. Nach kurzem fische ich nur noch Muscheln aus der am Topfboden befindlichen Kochflüssigkeit. Die sind alle so weiß. Ich greife noch mal zu 189 und schlucke sie hinunter. 202, 203, 204. Es ist richtig mühsam. Gottseidank - immer noch kein Kribbeln im Körper, kein Fieberschub, kein Bauchgrummeln, kein Ekelgefühl.

Mein Partner hat inzwischen im Internet gesucht, Muscheln sind quasi das ideale Essen, voller guter Nährstoffe, dabei aber sehr kalorienarm. Alles, was der Mensch braucht ist drin. Eigentlich würden sie schlank machen. Hätte ich keine Pommes dazu gegessen. Ich liege in den letzten Zügen. Zielgerade. Alles bedeckt von der Brühe. Wie viele wohl noch drin sind? 219, 220, 221… Geschafft! 222 ist die letzte. Ich lehne mich zurück, völlig erschöpft, aber glücklich.

Die Bedienung sieht, dass ich fertig bin. Sie kommt und schaut sich meinen Topf und meinen Topfdeckel voller leerer Schalen an. Sie sieht die eine aussortierte Runzelmuschel. Sie lächelt und sagt: perfekt! Sie gibt ein Zeichen zur Theke. Plötzlich erklingt eine Fanfare! Die Leute im Lokal applaudieren. Die Kellnerin greift meinen rechten Arm und reißt ihn für eine Jubelpose nach oben. Ich kapiere nicht ganz, was da geschieht. Ein Kellner kommt zu mir und überreicht mir ein grünes Trikot mit einer Nummer drauf. 8008 ist die Nummer drauf. Eine schöne Zahl. Jetzt weiß ich, wo die ganzen Grüngewandeten herkommen.

Mein Partner bekommt kein neues Outfit. Er ist aber auch nicht unglücklich drüber. Bei der Demo möchte er nicht mitmachen. Im Getümmel zwischen vielen Leuten zu stehen ist für ihn als Hochsensiblen eine grauenvolle Vorstellung. Er sagt, er hält sich am Rand, wenn ich mitgehe, er macht dann ein paar tolle Fotos von mir. Ich überlege, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, zu gehen. Mit einem Bauch voller 222 Muscheln fühlt man sich schon leicht abgefüllt. Ein Schnaps wäre recht, aber ich muss nachher noch Auto fahren, zum Hotel. Ich verzichte auf den Schnaps. Beim Bezahlen stehen nur sein Steak-Frittes und zwei Wasser auf der Rechnung. Wer die Muscheln alle aufisst, zahlt nicht.

Während wir bezahlen, ertönt wiederum die Fanfare. Ein weiterer Sieger ist gekürt. Wir applaudieren ein bisschen und verlassen dann das Lokal, nachdem ich mir die Hände und das Gesicht gründlich gewaschen habe.

Draußen ist die Demonstration immer noch im Gange. Ich umarme meinen Partner kurz und werde dann hinter die Absperrung gelassen. Er knipst mich in meiner grünen Montur. Ich grinse behäbig, denn voller Elan kann ich im Moment grade nicht dreinschauen. Ich trotte etwas schlapp den anderen hinterher, bin aber sehr gespannt, wo ich hingetrieben werde. Es geht ein paar Straßen weiter, einmal links, einmal rechts, einmal links, nochmal links, wieder rechts und nochmal rechts. Da ist ein großer Platz. Die Balustraden am Rand, die Flatterbänder, Metallgitter und auch mein Partner sind nicht mehr zu sehen, denn hier ist es unglaublich voll. Alles schiebt sich auf eine Kirche zu.

Die Kirche sieht im Dunkeln ziemlich außergewöhnlich aus. Sie wird von unten angeleuchtet und bietet einen dramatischen Anblick. In der Mitte ein großer sechs- oder siebeneckiger ziegelsteinroter Kirchturm, also irgendwie rund trotz der Ecken mit einem spitzen Hütchen auf, auf dem wiederum spitze Hütchen sitzen. An den Seiten verlaufen parallel zwei etwas niedrigere phallische Elemente, die neugierig in die Höhe ragen. Das Ensemble ist flankiert von mehreren Kirchenschiffen. Alles in allem sehr eindrucksvoll. Das Bauwerk erinnert mich an irgendwas. Es fällt mir aber nicht ein, was.

Vor der Kirche steht ein Sprecher mit einem Megaphon, der Nummern ausruft. Offenbar gibt es etwas zu gewinnen. Bei jeder ausgerufenen Nummer drängt sich jemand durch die Menge zu ihm nach vorne und donnernder Applaus ertönt, Jubeln, Juchzen, Bon-Courage-Rufe, gellendes Pfeifen. Die Ausgerufenen freuen sich. Die Nummern werden auf Französisch und Deutsch ausgerufen. Es scheinen die Zahlen auf den grünen Hemden zu sein.

Plötzlich wird meine Zahl ausgerufen, 8008. Eine Glückszahl mit zwei Unendlichkeitssymbolen links und rechts, hatte ich gedacht, und auch in der Mitte: die beiden Nuller ergeben ja eine weitere 8. Und tatsächlich, ich habe gewonnen! Fantastisch! Ich bin sehr gespannt, was ich bekomme. Ich drängle durch die Menge nach vorne. Man macht mir einen Korridor frei.

Vorne angekommen, tauscht man mein Trikot gegen ein silbernes Trikot aus. Ich muss es sofort anziehen. Auch hier steht wiederum eine Nummer drauf. Auf meinem steht 29. Es scheint die vorletzte Nummer zu sein, denn nur noch einer wird ausgerufen. Und dann stellt man uns alle in eine Reihe. Wir sollen so in die Kirche einziehen.

Mein Partner ist leider nirgendwo zu sehen. Wie schade, da kann er ja gar nicht von meinem Gewinn berichten, ich werde keinen Beleg haben, wie ich da in der Reihe der Sieger stehe! Wir betreten die Kirche. Innen bemerke ich, dass das gar keine Kirche ist. Es ist ein Raumschiff. Nun fällt mir ein, woran mich das Äußere erinnert hat: an ein Spaceshuttle mit 2 Boostertriebwerken. Und so scheint es auch zu sein. Plötzlich erinnere ich mich an den Schrecken, den mein kleiner Sohn mit drei Jahren mir eingejagt hatte, als er plötzlich klar und deutlich zu mir sagte: Ich bin ein Sigigugau und komme mit der Rakete vom Mond. Dort sprechen wir Bergisch.

Aus dem Fernsehen konnte er sowas nicht haben. Aus den Vorlesebüchern auch nicht. Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Unerklärlich, und bis zum heutigen Tag hatte ich nichts finden können, woher er diese Idee haben konnte. Dass er überhaupt wusste, dass es noch andere Sprachen gibt.

Auf einmal wird mir alles klar. Da erkenne ich in der Reihe die Nummer 17 und die Nummer 7. 17 ist mein älterer Sohn, 7 mein Jüngerer. Tatsache, das sind ihre Geburtstage! Und 29 ist meiner. Eine Art Familienzusammenführung. Ich freue mich riesig, die beiden wieder zu sehen. Sie offenbar nicht ganz so sehr. Aber sie hatten natürlich schon mit mir gerechnet. Wie ich das alles vergessen konnte, fragen sie mich. Sie hatten schon seit Monaten für heute geplant. Und Muschelessen trainiert!

Ich sehe, jeder der Auserwählten trägt einen kleinen Rucksack. Doch ich habe nur meine Handtasche dabei. Darin liegen in wildem Durcheinander mein Portemonnaie, der Autoschlüssel, mein Handy, ein Kajalstift, ein Papiertaschentuch, zwei Schreibstifte, eine Coronamaske. Nicht wirklich die Top-Ausstattung, um diese Welt für immer zu verlassen! Ich versuche, meinen Partner auf dem Handy zu erreichen. Ich habe hier keinen Empfang. Das letzte, was ich in unserem WhatsApp-Chat sehe, ist ein Foto von mir mit rot verschmiertem Mund, strähnig abstehenden Haaren und einer total eingeferkelten Serviette um den Hals.

Ich werde nie wieder irgendwo Empfang haben, glaube ich. Also lege ich das Handy am Eingang des Raumschiffs ab. Es wird bestimmt für alles gesorgt sein. Trotzdem, nicht ohne Wehmut steige ich ein und werde an meinen Platz begleitet und in einer großen Blase aus durchsichtigem Material gegen eine senkrecht stehende Liege gestellt und festgeschnallt. Der Countdown beginnt. Jedenfalls klingt es so. Diese Sprache verstehe ich jedoch nicht. Es ist einfach zu lange her.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

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