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Der Geschmack von Regenbögen
10.10.2023 13:01

***Der folgende Text kam häppchenweise nachts als Fortsetzungstraum zu mir. Ich wachte zu absolut unzivilen Zeiten auf und hatte den Text im Kopf und musste ihn nur noch auf meine App diktieren. Das passierte am 10. und 11.10.22, 27. und 28.10., 18.12., 10. und 18.1.2023. Dann war die Geschichte fertig. Ich habe später noch ein kleines Detail hinzugefügt, aber ansonsten habe ich den Text so belassen, wie der Hyde, mein Nacht-Ich, ihn mir diktiert hat. Ich bin nur das Sprachrohr. Auch wenn es anfangs vielleicht so wirken mag, ist der Text für Kinder nicht geeignet. – Nehmt Euch bitte Zeit zum ungestörten Lesen, der Text ist 7 Seiten lang.***

 

In den Nächten, wo das Panderu schweigt, leuchtet ein großes Y am Ende. Der Horizont ist weit und hört niemals auf, und es wird Morgen.

Das Panderu rasselt und kreischt. Es tremoliert. Manchmal knattert oder flötet es.

Man weiß nicht, wo es hintreten wird. Fest steht, am Morgen fehlen viele. Und das Tal sieht anders aus. Das Haus zu verlassen gilt als ein Zeichen der Schwäche. Man wartet und hofft.

In den stillen Nächten schläft alles voller Erschöpfung. Kaum einer sieht das Y. Aber man hört darüber von den paar, die es schon sahen. Es flammt und ist riesig. Es ist das Zeichen, dass die Welt noch steht. Es ist das Zeichen, dass das Panderu nicht alles kann und nicht alles darf. Und der Wunsch, es zu sehen, ist stark. Doch der Drang, die Augen zu schließen und sich dem Schlaf hinzugeben, der so lange fehlte, ist noch stärker.

Man sagt, da wo es flötet, schlägt es zu. Doch auch das kann keiner belegen, denn wer es flöten gehört hat, ist nicht mehr da. Vielleicht ist auch das nur eine Geschichte. Die meisten Geräusche, die das Panderu von sich gibt, sind richtig unangenehm. Vielleicht soll man noch froh sein, wenn es nur grässlich lärmt und nicht flötet. Vielleicht soll einen diese Vorstellung beruhigen. Sie funktioniert bloß nicht besonders gut. Es gibt nicht wirklich jemanden, der nachts beruhigt ist, während draußen das Panderu trampelt und tobt.

Wie soll das weitergehen? Wird das Panderu eines Tages alles plattgestampft haben, wird einfach nichts mehr da sein? Oder werden neue Häuser schnell genug nachgebaut, so dass man es noch lange vertuschen kann, was hier passiert?

Wie lässt sich das Panderu stoppen? Die alten weisen Männer und Frauen zerbrechen sich täglich ihre Köpfe, um eine Lösung zu finden, doch es fällt ihnen nicht ein, was helfen könnte.

Das Panderu jedoch dachte gar nicht daran, sich an irgendwelche Regeln zu halten. Einmal hatte es ungefähr 30 Häuser links und ungefähr 30 Häuser rechts dem Erdboden gleich gemacht, und in der Mitte, da blieb ein feiner Grat von sechs Häusern stehen. Am nächsten Tag hatten deren Bewohner schlohweißes Haar und es waren sie, die von dem Flöten berichteten.

Die Bewohner dieser sechs Häuser dankten jeden Tag voller Inbrunst dem Himmel, der sie offenbar errettet hatte. Aber in einer Nacht - als hätte es einen Fehler begangen - kehrte das Panderu zurück und beendete das Leben in zwei weiteren dieser Häuser.

Während die Nachbarn daneben in Panik in ihren Mauern schlotterten. Und wieder war da dieses Flöten.

Eine der in dieser Nacht Überlebenden war Maluka. Wer sie sah, vergaß sie nicht mehr. Ihr von den strahlend weißen Haaren umrahmtes Gesicht wurde von einer krummen Nase überschattet, die irgendwie von jeder Seite anders wirkte. Insgesamt teilte die Nase das ansonsten ansprechende Gesicht in zwei inegale Hälften, oder noch genauer eigentlich fast in eine Zweidrittelseite und eine Eindrittelseite.

Jedoch schien die Sonne sich auf eine Art in ihren Haaren zu verfangen, dass ein Leuchten von innen heraus Maluka auf erstaunliche Weise schön erscheinen ließ. Etwas Außergewöhnliches lag in ihrem Blick aus den dunklen Augen, die gegen das Licht jedoch plötzlich blassgrün wurden.

Nach der 2. Attacke direkt neben ihrem Haus hatte sie plötzlich einfach keine Angst mehr vor dem Panderu. Vielleicht war sie ja verrückt geworden, vielleicht hatte sie dem Tode zu tief ins Auge geschaut, um noch zu glauben, dass er ihr etwas anhaben konnte. Sie beteiligte sich nicht mehr an den gemeinsamen Bittveranstaltungen, in denen um Rettung vor dem Übel gefleht wurde, das sie befallen hatte. Sie lachte viel und oft. Auch, wie es schien, völlig grundlos, so als erzähle sie sich ihre eigenen Witze. Sie verhielt sich, als gäbe es noch Tausende von Morgen für sie und schlief gut in jeder Nacht, ob es draußen wütete und dröhnte, oder ob es ruhig blieb.

Bestimmt hatte sie das Y auch schon gesehen, doch es war ihr scheint's so unbedeutend, dass sie darüber kein Wort verlor.

Die weißgehaarten Bewohner der verschonten Nachbarhäuser hingegen sah man stets nur gramgebeugt und völlig verängstigt, als hätte das Unheil sie bereits ereilt und vernichtet. Allnächtlich harrten sie des vermeintlich Unausweichlichen, und ein geflüsterter Chor einer endlosen Litanei von "verschone uns, oh großes Panderu, in deiner unendlichen Güte, uns die wir unschuldig sind und bereit, alles zu tun, was du uns befiehlst" war leis aus ihren Häusern zu vernehmen, sollte ein besonders Waghalsiger sich bei Mondenschein in deren Nähe begeben, was allerdings kaum jemals vorkam.

Und wieder einmal war es soweit. Die Sonne schickte sich bereits an, in Kürze den Sprung ins kühle Nass zu wagen. Die Bewohner der Stadt verkrochen sich in ihre Häuser, ließen nichts auf ihren Höfen stehen, als könnten sie dadurch verhindern, dass das Panderu auf ihr Haus aufmerksam würde.

Ohnehin könnte man sich das Hereinholen der Dinge sparen, denn es hatte noch keinen Fall gegeben, in dem ein Haus nur halb zerstört wurde und ein Bewohner überlebt hätte. Alles oder nichts, etwas anderes schien es nicht zu geben.

Aber das Hereinbringen der Dinge hatte sich so als Tagesabschluss eingebürgert. Wenigstens würde man mit Mann und Maus, mit Sack und Pack, mit Hab und Gut ohne Abstriche untergehen. So wollte es das ungeschriebene Gesetz, so hatte es zu sein.

Man lieh auch nichts her, man half nicht, man gab nichts, man klammerte sich an jeden einzelnen Löffel, den man besaß. So erschien einem das eigene Leben wohl besser gesichert.

Als ob das etwas hülfe... Entweder das Panderu kam - dann war ohnehin alles egal - oder es verwüstete einen anderen Teil der Stadt.

Dann konnte man am nächsten Tag wieder seine Kaffeetasse samt Unterteller und Löffel auf ein Tischlein mit einer fein gewirkten Tischdecke auf dem Hof stellen und den Tag nochmal halbwegs unbeschwert angehen lassen. Noch war man davongekommen. Der Vater oder Sohn zwei Straßen weiter vielleicht nicht. Aber so war das Leben in dieser Gegend.

Wenn man dann die Nachricht erfuhr, war es natürlich vorbei mit der Unbeschwertheit. Aber die Bestandsaufnahme wurde immer erst am Mittag gemacht. Und bis dahin konnte der Tag noch friedlich wirken.

Eines Nachts hatte das Panderu wie sonst auch gewütet und getobt und gebrüllt, und es hatte sich vorgenommen, ein Haus zu vernichten und das Dach abgerissen. Doch im Inneren des Hauses brannte ein helles rotes Licht, und so war plötzlich der gesamte Himmel in dieses rote Licht getaucht - von links nach rechts und von vorne nach hinten war plötzlich alles wunderschön rot. Das brachte das Panderu aus dem Konzept. Niemand weiß wieso, aber in dieser Nacht hörten das Trampeln und der Lärm auf, und entgegen allem, was bislang passiert war, blieb ein Haus ohne Dach stehen und war weiterhin bewohnbar.

Hatte man da eine Schwachstelle des Panderus entdeckt? Rote Glühbirnen waren im Nu ausverkauft, als die Kunde von dem verschonten Haus publik wurde. Man behalf sich mit rotem Papier und schließlich mit Butterbrotpapier, das mit roter Farbe getränkt wurde, was allerdings schlecht hielt. Trotzdem - Hauptsache rot! Rotes Licht in allen Häusern! Man bebte und war gespannt, ob sich das Panderu aufhalten ließe. Plötzlich war da ein Funken Hoffnung.

Als es Winter wurde und der Schnee tief lag, dachte man, man könnte das Panderu vielleicht finden. Vielleicht würde es Spuren hinterlassen, vielleicht würde man am Schnee erkennen, wohin es ginge und überhaupt, wie es sich bewege. Jedoch wurden die Leute enttäuscht. Es befanden sich kleine Löcher im Schnee, jedoch sah es aus, als könnte es etwas Dreieckiges sein, mit dem es sich bewegte - unten spitz und oben breiter.  Und es sah nicht aus wie etwas Lebendiges. Aber die Abdrücke, die man fand, wenn man welche fand, hatten keine Reihenfolge, und man konnte auch nicht sehen, wie viele dieser merkwürdigen Stützen das Panderu brauchte, um sich fortzubewegen. Vielleicht lief es auf Stelzen, vielleicht klapperte es auf diesen entlang... Tatsache jedoch war, dass an ganz vielen Stellen, wo das Panderu unterwegs gewesen war und die Zerstörung rechts und links des Weges große Ausmaße annahm, der Schnee glatt war, als sei dort gar nichts gewesen. Man stand vor einem Rätsel, und schon gar nicht konnte man erkennen, wohin der Weg als nächstes führen würde. Nicht einmal die Zusammenhänge von dem, wo es gewesen war und wo es davor gewesen war, wurden aus den Spuren klar ersichtlich, obwohl die Zerstörung natürlich eindeutig zu erkennen war.

Drei Tage herrschte nun schon Ruhe. Was ging in den Köpfen der Bewohner der zerbröckelnden Stadt wohl vor sich? Plötzlich hatten sie den zarten Duft des nahenden Frühlings in der Nase statt der beißenden Rauchschwaden grässlich schwelender Bohlen und den erstickenden Nebel staubiger Backstein- und Mörtelberge, die einen dumpf-modrigen Geruch von sich gaben, sobald sie mit Feuchtigkeit in Kontakt kamen. Diese beiden Komponenten waren nämlich die Hauptbestandteile der nun gewohnten Duftszenerie.

Ganz zu schweigen von dem grässlichen Geruch, wenn es in den einstürzenden Gebäuden jemanden erwischte und er länger nicht gefunden wurde oder wenn einer zum Opfer der Flammen wurde.

Und nun plötzlich ein hellgrün-gelblicher Frühjahrshauch! Goldfarbene Sprenkel glaubten die einen mit ihrer Nase zu erfassen, andere schworen, dass sie das berühmte blaue Band wie einen matten Pudergeruch von weitem erkannt hätten.

In all dem Gräuel waren sie nämlich nur allzu geneigt, beim nichtigsten Anlass einen winzigen Hoffnungsschimmer zu entdecken, der sie sogleich in Hochstimmung versetzte.

Doch diese Episode der Frühlingsgefühle war leider nur kurz. Am Freitag legte sich wieder eine Schneedecke über die Ruinen der Stadt und die vereinzelten dreieckigen Abdrücke des Panderu waren zu sehen, wo auch immer es sich ausgetobt hatte. Die roten Lichter, auf die die Menschen voller Verzweiflung vertraut hatten, und die findige Schlawiner ihnen zu einem Wucherpreis verkauft hatten, halfen nicht. Am Freitagabend wurden sämtliche Häuser, in denen rote Lichter brannten, in einem einzigen gewalttätigen Raubzug ausgelöscht, und mit ihm das Leben in den Häusern. Und das waren sehr sehr viele Leben. Viel mehr als in all den anderen Monaten davor ausradiert worden waren.

Der vorübergehende Frühlingsduft hatte das Panderu anscheinend noch wütender und gefährlicher gemacht. In den drei Tagen seiner Ruhepause hatte es wohl frische Kräfte gesammelt, um mit noch mehr ungebremster Zerstörungswut alles zum Einsturz zu bringen, was sich ihm in den Weg stellte.

Nichts konnte ihm Einhalt gebieten, kein noch so kleiner Geräteschuppen blieb verschont, kein Gartenzaun blieb stehen. Es schien sogar eine besondere Freude daran zu haben, Zaunlatten wie auch Fahrradspeichen mit einem kräftigen metallischen Rrrrrrrrrrrrrrt entlang zu fahren und sie dabei aus ihrer Verankerung zu brechen. Mit den Ziegeln auf Hausdächern geschah dasselbe, und die unterschiedlichen Ziegelarten zerbröselten in einer grausigen Symphonie, kontrapunktiert durch das Staccato der in sich zusammenstürzenden Hauswände, das Knallen, Klirren und Rieseln der zerberstenden Fenster und das Knacken und Knirschen der wie Streichhölzer nachgebenden Holzbauteile.

Am nächsten Morgen schlurften die Menschen zum ersten Mal nur noch mit hängenden Köpfen und Armen trost- und sinnlos von hier nach dort, hatte sich doch ihre kurz aufgekeimte Hoffnung vollständig zerschlagen.

Niemand war mehr dabei, der so tun konnte, als wäre sein Leben in irgendeiner Weise noch normal, als hätte sein Leben noch irgendeine Perspektive, einen Zweck, als könnte er irgendetwas planen, das über den Zeitraum der nächsten Nacht hinausginge.

Die Maluka half wieder bei den Aufräumarbeiten, doch im Schatten ihrer Nase rannen heimlich Tränen über ihr heute ganz grau erscheinendes Gesicht. Sie, die sonst allen anderen immer Mut machte und sie anspornte zu vertrauen, dass am Ende alles gut würde, und wenn es noch nicht gut wäre, dann wäre das noch nicht das Ende, und die allen immer versicherte, dass sich letztendlich eine Lösung finden ließe, wusste sich selber gerade nicht mehr gut zuzureden. Ihr Haar hatte urplötzlich einen gelblichen Ton angenommen und ihre befremdliche Schönheit ließ heute jedermann kalt, denn sie sah mit einem Schlag alt, mitgenommen und gebrechlich aus. Sie war heute einfach eine unter vielen - an diesem schrecklichen Freitag, an dem alles fröhlich Rote aus der Stadt getilgt worden war.

Tatsächlich waren ein paar Freunde gekommen, die etwas von ihr erbitten wollten, und sie fragten nach ihr. Sie standen vor ihr und fragten sie selbst, wo die Maluka sei, ohne sie zu erkennen. Die Maluka sah ihnen mit leerem Blick ins Gesicht und deutete mit dem Finger auf ihre Brust, und diese Bewegung war so ungelenk und fahrig, dass es aussah, als wolle sie sich mit ihrem Finger selbst erdolchen. Die Freunde waren betroffen von ihrer Veränderung, und keiner von ihnen wagte zu äußern, weswegen sie gekommen waren. Als hätten sie sich abgesprochen, trat einer nach dem anderen an die Maluka heran und umarmte sie kurz und ungeschickt. Da drehte sich die Maluka um und verschwand. Den Freunden fiel auf, dass sie noch niemals so klein ausgesehen hatte und so zerlumpt, und ihre Herzen krampften sich zusammen.

Als es Abend wurde, kamen die Freunde zu Maluka. Den ganzen Tag hatten sie sich nämlich Sorgen gemacht, denn sie waren gute Menschen. Sie hatten Essen mitgebracht. Der eine brachte eine gelbe Suppe mit Safran drinnen, die er am letzten noch übrig gebliebenen Imbisskiosk für eine Unsumme erstanden hatte. Der andere brachte mit Grüßen von seiner Frau einen Auflauf mit Brokkoli und orangefarbenen Süßkartoffeln aus dem eigenen Garten in einer Schüssel mit violettem Deckel. Der älteste Freund hatte selbst einen Tomatensalat mit Zwiebeln gemacht, allerdings nicht gut aufgepasst beim Würzen. Der letzte in der Runde schließlich brachte schon ziemlich eingetrocknete Blaubeeren, weil er meinte, dass Maluka vielleicht die zu dieser Zeit überall wütende Magen-Darm-Erkrankung hätte.

Maluka, die ein inneres Auge für Farben hatte und für die es normal war, dass deren Anblick sich für sie in ein Gefühl, in einen Geschmack oder einen Ton umsetzte, und ebenso umgekehrt ein Klang oder ein Geschmack in eine Farbe usw., fühlte sich durch diese Liebesgaben von ihren Freunden in ihrer Schwäche verstanden und getröstet. Sie bemühte sich und griff unter den gestrengen Blicken der Freunde zu, obwohl sie keinerlei Appetit hatte. Die Safransuppe machte ihr warm, und ein Wohlgefühl durchströmte sie. In ihrem Innersten summte es den Kammerton A und sie fing an, sich auf den Auflauf zu freuen. Die Kombination aus Grün und Orange tat ihr gut, und zu dem A gesellten sich zwei weitere Töne, die einen schönen Akkord ergaben. Sie fühlte, wie ihre Kräfte ganz allmählich wiederkehrten, und als sie beim ersten Bissen von den sehr scharfen Zwiebeln im Tomatensalat plötzlich aufschreckte, öffneten sich ihre Augen weit, und auf einmal bemächtigte sich ihrer ein zaghafter Gluckslaut. Neben ganz viel Pfeffer, Essig und Öl war da auch ganz viel Zucker in den Salat geraten. Zucker und Salz kann man leicht verwechseln, besonders wenn man anderes im Kopf hat!

Maluka kippte kurz entschlossen auch noch die Blaubeeren in den Salat, denn gemäß botanischer Klassifikation zählen Tomaten ja ohnehin zum Obst. Das Blau und Rot ergänzte sich zu einer beruhigenden friedlichen Begleitmelodie. Und die Zwiebeln trillerten in grellen Synkopen oben drüber.

Die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, ihre Hände fassten wieder energisch zu Gabel und Messer und ein wildes Kichern hatte sie ergriffen. Ihr Innerstes war ganz erfüllt vom Geschmack des Regenbogens, und in ihr entwickelte sich, ganz ohne ihr Zutun eine Melodie, die betörend, lieblich zart, heimelig und voller Hingabe anschwoll und in ihr so laut wurde, dass sie sich nicht mehr zurückhalten konnte. Das Lied ohne Worte fiel und flatterte, schwang und drängte von ihren Lippen, und keiner der Freunde verstand richtig, was hier geschah. Sie waren Zeuge eines außergewöhnlichen Ereignisses, noch nie hatte jemand etwas ähnliches erlebt, keiner der Ahnen und keiner der Lebenden.

Das Lied schwoll an und wurde immer eindrucksvoller. Es zwang die Freunde in seinen Bann. Auf befremdliche Weise mischten sich Obertöne in die Melodie, so dass zweistimmige Klänge aus Malukas Mund erschollen.

Melodie und Rhythmus wurden immer bezwingender, und die Freunde fingen an, mit ihren Händen im Takt auf den Tisch zu trommeln und mit den Füßen zu stampfen. Bald sprangen sie auf und begannen zu tanzen, und die Tür ging auf, und herein kamen ganz viele Menschen, die Pfannen und Töpfe und Kochlöffel und ähnliche provisorische Instrumente dabeihatten und mit diesen lärmten. Und diejenigen, die singen konnten, folgten der von Maluka vorgegebenen Melodie, und der Chor wurde immer lauter und immer kräftiger und immer hoffnungsvoller.

Auf einmal traten alle hinaus auf die Straße. Allen voran Maluka mit wehendem Haar in ihrer zerlumpten Tunika, jedoch mit hoch erhobenem Haupt wie eine Königin. Voller Inbrunst sang sie in grellen Obertönen, und in den Häusern, an denen Sie vorbeikamen, jaulten die Hunde, und die Katzen verzogen sich fauchend.  Es gelang Maluka, immer noch schrillere Töne hervorzubringen, bis sie schließlich in ein Tonspektrum übergingen, in dem die Menschen sie kaum mehr hören konnten. Der Chor der Leitmelodie jedoch ging weiter und das Getrommel war unerträglich laut geworden und unsäglich entschlossen. Am Himmel war auf einmal so etwas wie eine riesige Stimmgabel zu sehen. Konnte auch ein Ypsilon sein.

Ohne Vorwarnung gingen Risse durch die Luft. Es schien, als wäre die ganze Stadt in unsichtbares Glas eingebettet und nun bräche dieses. Große zackige Risse erschienen überall um die Menschen herum. Ein unglaubliches Knacken und Prasseln, ein Knirschen und Schaben und Rascheln und Reiben, ein Bitzeln und Krachen, explosionsartige Geräusche und feines Ploppen wie von aufgebrochenen Bläschen wechselten sich ab und sammelten sich zu einer Gegenmelodie, die zunächst genau entgegen den Tonfolgen anwuchs, die Maluka soeben die Bewohner der Stadt gelehrt hatte. Doch nach einiger Zeit ließ das Knacken und Knistern nach und die Luft war nur noch von haarfeinen Verästelungen und winzigen Haarrissen durchzogen und ganz grau und neblig wie nach einem ausufernden Neujahrsfeuerwerk auf engstem Raum.

Und ganz plötzlich fielen all diese grauen Staubpartikel zu Boden, so dass die Städter plötzlich knietief darin wateten. Achtung, Vorsicht! schrien die ersten, und da fielen ellenlange Metallstäbe wie in Zeitlupe zur Erde, die einen dreieckigen Querschnitt hatten. Viele waren es, unzählige, doch die Bewohner waren durch die gesungene Melodie so mutig, ja sogar tollkühn geworden, dass sie diesen nicht nur auswichen, sondern ihnen sogar mit Handkantenschlägen konterten und die Stäbe in den Staub hinunter zwangen. Und tatsächlich kam niemand zu Schaden.

Mit einem Mal war der Spuk vorbei. Der Gesang hörte auf. Die Bewohner blieben stehen und blickten sich ungläubig an. Keiner hätte beschreiben können, was eben passiert war. Aber alle hatten ein gutes Gefühl von Harmonie und Verbundenheit.

Sie zerstreuten sich, da es Nacht geworden war, und bei Nacht draußen zu sein, war im letzten Jahr undenkbar geworden.

Am nächsten Morgen schauten sie aus den Häusern. Ein kräftiger Sturm war über Nacht aufgezogen und hatte den gesamten Staub mit sich geweht. Der Himmel war klar und frei von Wolken oder Buchstaben. Die Metallstangen lagen noch hier und da am Boden. Es war ein Metall, das noch keiner gesehen hatte. Es wurde untersucht, aber man konnte nicht feststellen, aus welchen Elementen es zusammengesetzt war. Es handelte sich um etwas Unbekanntes.

In dieser Woche kam kein Panderu wieder. Und auch nicht in der nächsten. Und auch nicht in der übernächsten. Und in überhaupt keiner.

Die Haare der Maluka hatten sich ganz von selbst blau gefärbt. Schön und stolz sah sie aus. Und schön und außergewöhnlich sah die neue Fahne aus, die ein findiger Schneider für die Stadt über Nacht entworfen und genäht hatte. Ein Regenbogen, den eine schräg nach oben ausgestreckte Hand in zwei Teile zerschnitt, ein Drittel auf der einen Seite, und daneben die anderen beiden Drittel, in denen zwei Schalen mit weißem Inhalt zu sehen waren, denn Zucker und Salz sehen gleich aus.

Und wenn jetzt alles gut ist, dann wird dies wohl das Ende der Geschichte sein.

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

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