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Au
Das Blatt der Kastanie
30.08.2023 10:21

Unzufrieden saß Else in ihrem Rollstuhl. Ihre Tochter hatte ihr einen Ausflug verordnet. Sie wollte aber doch das Haus gar nicht verlassen. Was sollte sie denn da draußen? Das ganze letzte Jahr war sie drinnen geblieben, jeder Tag genau wie der Vortag. Zum Glück. Keine Unwägbarkeiten, keine unangenehmen Überraschungen. Höchstens die Konsistenz des Stuhlgangs, die variierte.

Morgens bezwang sie sich, mühsam die Beine aus dem Bett zu schwenken. Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie aufstehen und dann aus dem Stehen ins langsame Gehen übergehen konnte. Der Rollator stand bereit, mit ihm schob sie sich langsam in den Toilettenraum vor, bewältigte diese unerfreuliche Angelegenheit mit Bravour und hatte somit den Start in den Tag gemeistert. Ins Bad gerollert, rücklings auf dem Rollator sitzend die Zähne putzen. Ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzen, nicht zu viel, denn wenn man den Kopf so tief gesenkt hielt, erhöhte sich das Risiko, aus dem Gleichgewicht zu geraten.

In den Spiegel konnte sie nicht mehr sehen, der hing zu hoch. Die Bürste lag auf dem Waschbeckenrand. Mit der vollführte sie einige routinierte Bewegungen. Vermutlich sah sie nun also aus wie immer. Mit den wenigen Haaren war ohnehin nicht mehr viel Staat zu machen. Ihre Tochter hatte ihr einen praktischen Kurzhaarschnitt machen lassen, da musste nicht ewig mit Lockenwicklern und Trockenhaube hantiert werden. Auch die großen Mengen Haarspray brauchte sie nicht mehr.

Im Schlafzimmer zurück zog sie die geliebte Leopardenleggings von der Tochter an und den Scotch-Terrier-Pulli, ebenfalls von der Tochter mal ausgeliehen. Beide waren eine Verlegenheitslösung gewesen, weil gerade nichts Besseres zu kaufen war für einen Rehaaufenthalt, und so war es geblieben. Die Schränke im gesamten Haus waren voll mit Kleidung. In jedem Zimmer stand ein Kleiderschrank. Jeder war überbordend gefüllt. Aber die Sachen aus den Schränken hinauszubefördern hätte Else nicht hinbekommen. Dazu müsste man stehen und mit einer Hand sich festhaltend wühlen und hantieren. Viel zu mühsam. Tüpfelhose und Hundepulli waren gut genug.

Ihre Tochter legte ihr immer andere Kleidung auf den Stuhl, wenn sie wieder nach Hause zurückfuhr, aber Else liebte diese beiden Kleidungsstücke und zog sie allem anderen vor. Sie befühlte den warmen weichen Stoff. Sie roch an ihm. Er roch gut und heimatlich. Sie mochte das.

In der Küche kreierte sie sich ihren Kaffee wie all die Jahrzehnte – mit Filtertüte, mit akribisch weggefalteten Nähten, dem silbernen Kaffeemesslöffel und – zu ihrem Leidwesen – dem Messbecher voller Wasser, den vom Waschbecken zur Kaffeemaschine zu transportieren mit dem Rollator ihr größtes Problem war. Dann setzte sie sich erstmal und lauschte dem endlosen Röcheln der Kaffeemaschine, bis diese eine ausreichende Menge Kaffee ausgespuckt hatte.

Diesen von der Maschine auf den Tisch zu manövrieren und die Tasse samt Untertasse aus dem Schrank zu holen und zu füllen war nun die nächste Prüfung, der sie sich stellen musste. Auch dies gelang Else, und nun war sie heute also schon 2fach siegreich. Von unnötigem Schnickschnack hielt sie nichts. Und der Kaffee musste Kaffee sein. Rein, stark und natürlich schwarz. Über einen längeren Zeitraum sann sie über ihrer Kaffeetasse und bildete Dialoge in ihrem Kopfe ab, die so oder ähnlich vor geraumer Zeit stattgefunden hatten. Wahrscheinlich hatte das Gedächtnis deren Inhalt noch verschärft, so gehässig war es damals gar nicht zugegangen. Aber Else genoss es, bittere Worte zu ihrem bitteren Kaffee in ihr bitteres Herz zu träufeln.

Schließlich schob sie ihren Stuhl nach hinten und stand, ganz ohne Rollator in der Küche, die an dieser Stelle sehr eng war. Auf der Küchenzeile lag das Brot in einer blau-weiß-gestreiften Stofftüte, damit es länger hielt. Es war nun ungefähr sechs Tage alt. Mit zitternder Hand schnitt Else eine sehr dünne Scheibe auf einem Brett herunter. Das Brett mit dieser Scheibe stellte sie sich auf ihren Platz, indem sie sich waghalsig auf der Ferse drehte. Diese Hürde war also genommen. Danach plumpste sie wenig elegant auf ihren Holzstuhl, der empört knarzte. Eigentlich wackelten auch bereits alle seine Streben. Aber da noch etwas zu unternehmen war ja nun auch nicht mehr nötig.

Else kaute missvergnügt auf ihrer Scheibe Brot. Sie hatte keine Lust nochmals aufzustehen, und aus dem Schrank über der Kaffeemaschine die Marmelade zu nehmen. Alles war so unpraktisch. Immer musste man Türen öffnen, in luftiger Höhe, etwas herausnehmen, immer mit der Angst, etwas anderes könnte mit hinunterfallen. Später alles wieder zurückstellen. Mit einer Hand am Rollator, der manchmal eine unverhoffte Bewegung machte, einen Ruck in die falsche Richtung – und ins Kreuz schoss ein plötzlicher hässlicher Schmerz, um den Fehler noch bewusster zu machen. Die Tochter hatte ihr einige Gebrauchsgegenstände nach unten gestellt, die Lieblingstasse, den Lieblingsteller. Else jedoch hasste es, wenn Dinge nicht auf ihrem Platz waren. Mühsam hatte sie alles wieder zurückgetan.

Alles war anstrengend. Nichts machte sie mehr gerne. Wozu musste sie immer noch da sein? Warum konnte sie nicht einfach eines Morgens aufwachen und nicht mehr da sein. Wozu diese ganze Quälerei? Freudloses Essen, freudloses Toilettengehen. Freudloses Herumsitzen. Freudloses Zeitunganschauen (lesen konnte sie nicht mehr wirklich, sie sah nur noch die Überschriften durch). Freudloses Fernsehen, denn zwischendurch schlief sie ein, und so machten all die früher so interessanten Traumschiff- und Pilcherfilme keinen Sinn mehr. Heutzutage war die Handlung so unverständlich. Am Anfang hassten sich die Leute, nur um in der nächsten Szene sich überglücklich zu umarmen. Oder sie liebten sich von Herzen, nur um gleich darauf zu erklären, wieso es doch ohnehin nie mit ihnen geklappt hätte und dass sie so froh seien, jemand anderen kennengelernt zu haben, von dem aber zuvor noch nie die Rede gewesen war. Alles völlig unverständliches Zeug, völlig aus der Luft gegriffen. Von der schönen Landschaft Schottlands wurde auch fast nichts mehr gezeigt. Naja, ohnehin hatte Else bereits alles gesehen.

Nun war also heute die Tochter gekommen, natürlich mit viel geheuchelter Freundlichkeit und einem Haufen überflüssiger Dinge im Korb. Angeblich leckere Sachen in Gläsern, die sie nie würde aufmachen können, weil ihre Hände die Deckel nicht aufbekamen, bunte Bilder, die die Tochter aus Heften ausgeschnitten hatte, und die ihr eine Freude machen sollten. Eine gebastelte Grußkarte von den beiden Enkeln, der man schon von Weitem ansah, dass die Enkel an der Karte kaum beteiligt waren, sondern vielmehr die Tochter sich hier kindlich verkünstelt hatte. Gesunde Säfte, die aber sicherlich wieder nur dazu führten, dass sie weitere Toilettenbesuche einplanen musste, da die Säfte eine durchschlagende Wirkung haben würden.

Eigentlich empfand sie die Besuche stets als eine Art Ruhestörung. Zwar in gewisser Weise eine Abwechslung, aber hinterher standen Dinge nicht mehr an ihrem angestammten Platz und sie musste diese mühsam unter Überwindung des Handikaps mit dem Rollator zurückstellen, und andererseits waren neue Sachen hinzugekommen, die herumstanden und für die es keinen guten passenden Platz gab. In den Keller konnte Else nicht mehr hinunter, da war eine Glastür und eine Treppe dazwischen. Im Keller waren weitere Vorräte. Sie schickte die Tochter hinunter, dass sie ihr Fotos von diesen machen sollte.

Die Tochter kam zurück und zeigte ihr etliche Fotos von sehr vielen Vorratsdosen und relativ vielen Weinflaschen. Es gab jedoch nur noch 3 Packungen Toilettenpapier. Sie schickte die Tochter einkaufen, 2 weitere Toilettenpapierpackungen und 2 weitere Kartons Wein, außerdem fehlten doch noch verschiedene Bohnensuppen- und Linsensuppendosen. Die Tochter brauste davon, und dankbar genoss Else die sich anschließende kurze Stille.

Leider hörte sie schon bald die Tochter mit Geklapper Dinge ins Haus schleppen und im Keller versorgen. Einen ausreichenden Vorrat von Papierrollen am Örtchen und Dosen und Weinflaschen in der Küche stellte sie auf. Gut, danke. Erleichterung machte sich breit. Für eine Woche war sie nun wieder versorgt.

Ein kurzes Mittagessen schloss sich an, die Tochter hatte bereits zu Hause für sie gekocht und wärmte nun ihre Kompositionen für sie beide auf. Die Mutter aß wie ein Spatz. Sie wollte nicht zugeben, dass es eigentlich alles wirklich lecker war. Viel zu lange aß sie nun schon immer Dinge aus Dosen. Ein spezieller Dosenöffner machte es möglich. Eine Mikrowelle sorgte für laue Wärme. Das reichte. Man musste nicht ausgefeilt kochen, wie die Tochter das tat. Überflüssig. Zeitverschwendung. Teuer obendrein.

Nach dem Essen und dem obligatorischen Weinglas für die Mama beschäftigte sich die Tochter mit den Medikamenten, sortierte alles ordentlich in die Pillenschachteln. Fünfeinhalb am Morgen, drei am Mittag, vier am Nachmittag, sechseinhalb am Abend. Mama, die in der blauen Schachtel sind bald aus, die reichen nur noch zehn Tage! - Dann fahr halt zur Ärztin und hol ein neues Rezept. Ich ruf sie an.

Wieder war die Tochter weg. Else blätterte ohne Begeisterung durch einige neue Hefte und starrte auf die Titelzeilen der Zeitung von heute. Sie versuchte sich an dem Kreuzworträtsel, aber die Brille tat irgendwie nicht mehr ihren Dienst. Alles war immer verschwommen. Else putzte die Brille mehrfach mit dem Putztüchlein, aber es änderte kaum etwas. Immerhin war ihr Verstand noch sehr klar, denn nach einiger Zeit hatte sie es geschafft, bis auf den letzten Buchstaben alle leeren Felder aufzufüllen.

Da war die Tochter wieder, legte Quittung und Medikament vor und richtete einen schönen Gruß von der Ärztin aus, die sie seit langem nicht mehr persönlich gesehen hatte. Und da kam von der Tochter diese harmlose Frage, die Else in schiere Verzweiflung stürzte: Ob man nicht mal hinausgehen sollte? Es habe aufgehört zu regnen.

Else schnaubte verächtlich. Starrte die Tochter an mit einem Blick, der sagte: Bist du nun völlig verrückt geworden! Hinausgehen! Wie sollte das denn vonstatten gehen? Hatte die Tochter vergessen, dass sie gar nicht mehr wirklich gehen konnte?

Doch die Tochter ließ sich nicht beirren. Sekunden später kam sie mit dem Rollstuhl aus dem anderen Zimmer daher. Mama, du setzt dich in den Rollstuhl und ich schieb dich, du wirst sehen, wie einfach das geht. Da können wir in den Park nebenan.

Else sträubten sich die Haare. Alles in ihr sträubte sich. Nein! Keinesfalls! Das geht doch nicht! Ich kann doch nicht im Rollstuhl nach draußen! Wie sieht man denn da aus! Wenn mich die Nachbarn so sehen! Die denken ja dann, ich sei alt und schwach! Wenn mich die Leute sehen, die früher unsere Patienten waren! Was sollen die denn glauben!

Die Tochter sagte völlig herzlos: Mama, die sind doch alle schon längst tot. Und die, die nicht tot sind, sitzen selber im Rollstuhl, also komm jetzt, wir machen das!

Else wollte nicht, aber eh sie sich versah, hatte die Tochter sie in eine warme Jacke gesteckt, ihr Stiefelchen angezogen und den Reißverschluss geschlossen, sie in den Rollstuhl gepackt und rückwärts über die Schwelle der Terrassentür geschleppt. Sie hatte sie durch den ganzen Garten gerollt und von vorne nochmals das Haus betreten, um die Terrassentür hinten von innen zu schließen. Die Haustür abgesperrt. Ihre Füße wurden rechts und links auf Fußstützen hochgelagert, und ab ging es durch das Gartentor die Straße entlang. Geschickt manövrierte die Tochter sie bis zur nächsten Absenkung im Bürgersteig und überquerte dort die Straße. Es ging an Häusern vorbei, die Else schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Menschen darinnen hatte sie ebenfalls seit Jahren nicht gesehen oder gesprochen, auch nie an sie gedacht.

Kraftvoll wie ein Bulldozer schob die Tochter sich und den Rollstuhl voran, unerbittlich, dachte Else. Hat sie mich überhaupt gefragt, ob ich will? Hat sie mir überhaupt zugehört, als ich sagte, ich will nicht? Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie es eigentlich, irgendwo ganz tief in ihr drinnen doch ein ganz kleines bisschen wollte. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war. Dass es vielleicht irgendwie ganz schön so war.

Sie atmete tief. Alles roch hier anders. Die kühle Luft ließ ihre Wangen sich glatt und jugendlich anfühlen. Wie bei einer Marmorstatue, dachte Else. Die Sonne kam plötzlich durch die Wolken und ließ alles in einem unwirklichen Licht erstrahlen. Und unwirklich kam sich auch Else vor. Sie ließ sich chauffieren, und tatsächlich fing es an, ihr Spaß zu machen. Sie glaubte, einen Vogel singen zu hören, sie glaubte, eine Telegrafenleitung sirren zu hören, sie glaubte, Steine am Boden aus dem Weg springen zu hören. Und hinter sich hörte sie das Rascheln der Kleidung ihrer Tochter und deren beständigen festen Schritt.

Sie kamen in den Park. Da standen all die vielen schönen alten Bäume. Es war offensichtlich Herbst geworden. Da waren so viele braune Kugeln am Boden. Else erinnerte sich. Früher hatte sie diese geliebt. Als Kind mit Leidenschaft gesammelt. Und als ihre Tochter später da war, hatte sie mit dieser die kleinen glatten, glänzenden Kleinode wiederum mit Leidenschaft gesammelt und mit Zahnstochern Figuren daraus gebastelt, um das Kind zu erfreuen.

Die Tochter bückte sich und reichte ihrer Mutter einen langen Stiel mit gelblichbraunen Fingern dran. Noch stolz in Form, vollständig, unbeschadet. Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben Stück zählte die Mutter. Die Mutter ließ den Stiel zwischen den Fingern wirbeln. Zärtlich streichelte sie über die paar weichen gelblichen und die rauhen, zum Teil bereits knisternden welken Finger. Das Blatt verströmte einen starken, herrlichen Duft nach trocknendem Laub, nach Natur, nach dieser Jahreszeit. Es war der Inbegriff alles Wundervollem am Herbst.

Else musste schlucken. Etwas in ihr war plötzlich erwacht. Dieser Geruch aus einer guten alten Zeit, diese Liebe zur Natur, die guten Erinnerungen an einst. Und sie heute mittendrin. Mit einer Träne im Augenwinkel sah Else zu ihrer Tochter hoch, die noch gebeugt vor ihr stand und sie anstrahlte, und über Elses Lippen kam, ehe sie drüber nachdenken konnte, ein leicht krächzendes: Danke, Winnimaus. Danke, dass ich dich habe. Was wäre ich ohne dich!

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Wenn das Un verloren geht

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