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An Tagen wie diesen...
27.10.2023 21:09

Als Drea aufwachte, fühlte sie sich seltsam unwohl. Irgendwas war komisch. Sie streckte ihre Beine ein wenig und zog die Arme mit verschränkten Fingern über dem Kopf hoch, weit über die Ohren bis hinters Kopfkissen. Das gewohnte wunderbare Gefühl, das sie sonst erschaudern ließ, wenn sie sich räkelte, blieb aus – das Gefühl, das es nicht öfter als einmal am Tag wohl aus einer fernen instinktbasierten animalischen Reflexzeit ins Leben des modernen Menschen hinüberschafft. Ihr Kopf fühlte sich irgendwie benebelt an, wie von einem Ohr zum anderen mit Watte ausgepolstert hinter der Stirn. Vielleicht doch ein bisschen viel Wein gestern beim Netflix-Schauen…

Ihre Augen wollten gar nicht aufgehen. Naja, mussten sie ja auch nicht, es war bestimmt noch früh, und außerdem Sonntag, wäre ja egal, wie lange sie noch im Bett bliebe. Es gab heute nichts, das unbedingt getan werden musste, keine Veranstaltung stand an, niemand wollte sich mit ihr treffen, ein ganz normaler Lottertag also.

Die Blase drückte aber leider, und irgendwie so heftig, dass es einfach nicht klappte, nochmal in Ruhe weiterzudösen. Drea musste raus. Mit geschlossenen Augen hievte sie sich über den linken Bettrand, schwankte, stabilisierte sich mit der Hand am Regal neben dem Bett und schlurfte steif und staksig Richtung Klo. Irgendwas war da extrem ungemütlich. An ihrem linken Bein passte die Pyjamahose überhaupt nicht, so als wäre das Bein doppelt so dick.

Auf der Toilette öffnete sie dann erstmals die Augen, während sie da hockte und stumpf vor sich hinstierte. Um das Papier abzureißen, musste sie ja sehen, wo die Abrisslinie war, und da entdeckte sie etwas, das sie von jetzt auf gleich völlig wach werden ließ. Das Grauen fuhr ihr durch alle Glieder und sie stieß einen gellenden Schrei aus, der in dem bis zur Decke gekachelten Raum laut widerhallte. Das kann doch nicht sein! Das ist doch nicht möglich! Schlafe ich immer noch, ist das ein Traum?

Die Haut an ihren Beinen war völlig blau. Ein schönes Blau. Aber blau sollte da doch nichts sein! Auch ihre Hände waren blau, außer den Handflächen, die waren deutlich heller, fast weiß. Und ihr Bein war nicht dicker als sonst, aber in der Hose hatte neben dem Bein ein fetter Schwanz gesteckt, der nun hoch erhoben hinten gegen den Toilettendeckel drückte und bewirkte, dass sie auf der Brille weiter nach vorn gerückt sitzen musste als sonst.

Sie hatte Gefühl in diesem Schwanz, er fühlte den kühlen Deckel und den harten, leicht vorstehenden Rand und verlief über den Rand hinaus nach hinten, wo er sich gegen die noch kühlere Kachelwand drückte. Es war möglich, den Schwanz willentlich zu bewegen, aber nicht intuitiv richtig. Das musste Drea offensichtlich erst lernen. Der Versuch, den Schwanz nach unten zu bewegen, schlug erstmal fehl. Er hatte ein gewisses Eigenleben und peitschte ein wenig hin und her, ohne dass Drea sich erklären konnte, warum er das tat. Sie griff ihn mit der linken Hand und zog ihn nach vorne und entdeckte, dass er sehr feine, leicht silbrig glänzende Schuppen aufwies, ungefähr wie bei einem Fisch, aber keine großen, rauen wie bei einem Krokodil. Ihr graute vor sich selbst.

Bestimmt war das doch ein Traum. Sie ließ den Schwanz außerhalb der Hose hängen, wodurch auch ihr Gesäß zu einem Teil außerhalb der Hose hing und schlich mit unguten Gefühlen zurück zum Bett, jedoch in der Hoffnung, weiterzuschlafen und ungeschwänzt und normalfarbig wieder aufzuwachen.

Sich hinzulegen mit dem neuen Körperteil unter sich, war etwas kompliziert. Er wollte nicht so recht ruhig liegen oder knickte in einem seltsamen Winkel ab, was weh tat. Schließlich legte Drea, die eine leidenschaftliche Rückenschläferin war, sich auf die Seite, um den Schwanz nicht zu zerdrücken oder sich bis dato ungekannte Schmerzempfindungen zu verschaffen. Sie sah sich ihre blauen Hände im Dämmerlicht noch einmal ganz genau an, da sie vermutete und hoffte, dass sie beim Erwachen nie wieder blaue Hände haben würde.

Dann schloss sie die Augen und versuchte, einzuschlafen. Schlaf mal schneller zu sich zu sagen, funktionierte nicht wirklich, und so bemühte sie sich, ihre Ungeduld zu bezähmen und sagte sich selbst die Formeln des autogenen Trainings vor, die sie selbst so weiter ausgebaut hatte, dass sie für sie förderlich und hilfreich waren. Insbesondere auf „mein Gesicht ist vollkommen faltenfrei“ war sie stolz, denn diese Formulierung bewirkte auch, dass sie dauerhaft jung aussah.

Nach geraumer Zeit gelang es ihr endlich, trotz der ungewohnten Stellung, einzuschlafen und sie träumte wildes Zeug, das wenig Zusammenhang mit ihrer Situation hatte und diese auch nicht widerspiegelte.

Jemand besuchte sie und fraget: Wozu hast du eigentlich diese Kästchen, die Schubladen sind alle leer! Woraufhin sie antwortete: Ja, weil ich aufgehört habe, alles und jeden in Schubladen zu stecken.

In einem anderen Traum fuhr sie mit einem Mann auf einer schmalen Straße hinter einem riesengroßen LKW, der vor allem ungefähr so breit wie vier Fahrzeuge war. Das Navi zeigte, dass sie nach rechts abbiegen sollten und auch bei dem LKW blinkte der Blinker. Sie sagte: fahr lieber geradeaus vorbei, diese Kurve packt der ja sowieso nicht. Da sagte er: Woher willst du das den wissen, wir kennen den Fahrer doch gar nicht!

Wiederholt wachte sie auf. Ihre Träume hinterließen leere Hülsen. Wenn sie hineinschaute, war nichts darinnen. Sie stand am Tor und schaute hinaus. Die leeren Hülsen waren vielleicht blaue Eimer, in denen Farbe war. Ihr Träume hatten mit dem Träumen von Träumen zu tun und mit dem Feldweg, der zu gehen ist, und mit den leeren Hülsen, mit dem Verpacken, dem Einpacken und dem Auspacken, dem Umpacken.

An diesem Punkt wurde auf die Leinwand, auf der ihre Träume stattfanden, ein Werbebanner eingeblendet, auf dem stand: "Du hast eigentlich selbst eine farbenprächtige und bildgewaltige Fantasie und möchtest deine Netflix-Serie nicht mehr bis zum bitteren Ende ansehen? Mach dir keine Sorgen, wir haben das für dich erledigt und deinen Netflix-Account für dich mit Stichtag heute gekündigt."

Im nächsten Traum war sie ein Kirchenfenster aus Celluloid, entzündete sich selbst und verbrannte.

Als sie endlich schweißgebadet aufwachte und auf den Wecker sah, war es bereits halb elf. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe, schlurfte ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Ihre weißen Haare fielen hilfsbereit über ihre noch fast geschlossenen Augen, um die grellen Strahlen des Tageslichts von ihr fernzuhalten. Mit ihren bereits wachen Fingern quetschte sie sich etwas Zahnpasta auf die Bürste und fing an, sich die Zähne zu schrubben, wie sie es seit Jahr und Tag völlig automatisch tat. Beim Anblick ihrer Hand fiel ihr der Text von Autumn Leaves ein: I see your lips, the summer kisses, the sun-burned hands I used to hold…

Nachdenklich zog sie mit der anderen Hand die Pyjamahose mit einiger Anstrengung bis zur Taille hoch, da der Bund so seltsam weit unten hing. Der Tag konnte beginnen. Erstmal einen Kaffee!

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Stille Wasser
Her Majesty

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