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Ap
Think about the bubbles
21.04.2024 02:38

Deine Werte durchtränken hier das Regal und die Zimmerecke! Sie rieseln vom Plafond und ziehen durch die Ritze unter der Tür hindurch. Und meine zögern schüchtern an der Eingangstür und überlegen sich, ob sie die Schuhe ausziehen sollen oder mutig hereinspazieren dürfen. Sind deine Werte die echten, oder sind meine werter und echter? Sind meine verkehrt oder unvollständig? Haben wir eigentlich je Zeit hineingesteckt, uns gewahr zu werden, was wir denken, oder was uns da denkt? Wurde uns in unserer Familie eigentlich die Freiheit gegeben, unsere Werte tatsächlich für uns selbst zu definieren? Wie würden wir die Leitgedanken, die die Fixpunkte in unseren Leben darstellen, eigentlich definieren, wenn wir uns ihrer völlig bewusst wären? Was davon ist uns wirklich so wichtig, dass wir es mit unserem Leben verteidigen würden, was bliebe da wohl übrig? Dass für uns ein Leben unantastbar ist? Oder mehr? Oder womöglich weniger?

Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten Fran an diesem Nachmittag in der Wohnung ihrer Freundin, mit der sie ein paar Urlaubstage verbrachte. Am Klo schloss sie pflichtschuldig den Deckel, weil ihre Freundin gesagt hatte, da könnten Ratten heraufkommen. Dann putzte sie die Zähne bereits zum fünften Mal an diesem Tag, da sie während des letzten Gesprächs eine Handvoll Nüsse gemümmelt hatte. Das war ihren Eltern immer sehr wichtig gewesen, dass Zähne immer geputzt werden müssten, wenn man auch nur so wenig wie eine einzige Nuss äße. Etwas Neues hatte sie heute gelernt und spontan als blödsinnig verworfen: Eierschalen müsse man auswaschen, wenn man ein Ei geöffnet hatte. In der Familie von Fran wusch man die Eier VOR dem Aufklopfen. Was war jetzt richtig, was war unnötig? Hatte jede Familie ihre eigenen Vorgehensweisen und Vorstellungen von richtig oder falsch? Worauf kam es denn überhaupt an? Auf solche Lappalien doch sicherlich nicht.

Freiheit war ihr ganz wichtig, überlegte sie sich. Die Freiheit, selbst zu entscheiden. Die Freiheit, zu wählen, wohin ihr Weg ging. Die Freiheit, andere Dinge zu tun als andere Menschen, auch andere als die beste Freundin oder gar der Partner. Die Freiheit, auch dieselben Dinge zu tun wie andere oder auch der Partner. Die Freiheit, ihren Umgang und ihren Partner selbst zu wählen. Was natürlich beinhaltete, diesen Menschen auch die Freiheit zu geben, damit einverstanden zu sein oder auch nicht.

Als vor Jahrzehnten ihre Freunde vorgeschlagen hatten, nach Berlin zu ziehen, hätte sie dies niemals tun wollen, weil sie sich dort zu Zeiten der Mauer eingezäunt gefühlt hätte. Sie hätte nicht überall hinfahren können, wo man auf der Landkarte weiterkäme. Und obwohl sie sich in ihrer eigenen Stadt eigentlich nur ganz wenige Male zu Ausflügen über die eigene Stadtgrenze hinaus motivieren konnte, wäre die theoretische Ummöglichkeit, in Berlin jederzeit davonzufahren ihr ein Graus gewesen, so als wäre sie in einer Haftanstalt untergebracht. Zum Ersticken!

Stetes Lernen war ferner für sie eine Prämisse für lebenswertes Leben. Das leuchtete in fluoreszierenden Neonfarben von ihrer geistigen Fahne, die nimmermüde im Wind der Geistesblitze und spontanen Impulse flatterte. Sprachen und Theorien, neue Sachgebiete und Hobbys, all das musste in ihrem wissenshungrigen Wirrkopf untergebracht werden. Hineingestopft in rasender Geschwindigkeit und schwuppdiwupp womöglich schon wieder vergessen. Aber neues Futter musste im Akkord geliefert werden. Hauptsache, es tat sich was. Nicht stehenbleiben!

Mit anderen Menschen, die genauso enthusiastisch und kreativ waren, brainstormen, neue Ideen entwickeln! Die geistigen Kräfte vereinen, Synergien schaffen, die womöglich zu aufregenden Projekten führen! Ja, das war auch etwas, das für sie von großer Wichtigkeit war. Leider hatte sie letztens nicht viel von Bedeutung mit anderen Menschen in die Wege geleitet, aber sie strebte eigentlich stets danach, so etwas zu finden. Wichtig war ihr bei genauerer Überlegung vielmehr, so etwas anzustoßen, als an der Durchführung selbst beteiligt zu sein. Das konnten andere besser. Ihre Stärke waren die Gedankensprünge, das rasche Kombinieren, die manchmal rasend komischen Ideen, die dabei aufploppten wie bunte Seifenblasen und genauso schnell als nicht realisierbar wieder in sich selbst zusammenfielen.

Aber zwischen den vielen schillernden Seifenblasen gefüllt mit Luftschlössern und Phantasmen gab es immer mal wieder Ideen, die durchaus sehr zielführend waren. Man durfte nur nicht einschränken, was da auf sie zugestürmt kam. Alles durfte kommen. Alles war gut. Alles sprach sie aus bei solchen Gesprächen oder Ideensuchaktionen. Und wer mit ihr klar kam, profitierte wohl durchaus von ihrem geistigen Seifenblasengestöber und ihrer großen Prise Verrücktheit. Je mehr sich das Gegenüber von dieser Art zu arbeiten begeistern ließ, desto fruchtbarer der Austausch, so dass sich der Geist in luftige Höhen aufschwang und höchstens fallschirmgesichert mit einigen eleganten Kapriolen wieder gefahr- und reuelos auf dem Boden der Tatsachen landete.

Und Kunst musste im Leben eine Rolle spielen! Farben, Klänge, Formen. Die große Schwierigkeit bestand darin, die Welt der Mustererkennenden und der Farbenfühlenden zu vereinen. Die Musik der beiden Welten zu spielen. Schwarz-weiß-Kariertes bunt zu schraffieren - in changierendem Violettgrün über den weißen und den schwarzen Kästchen, aber so, dass dies weder schluderig noch perfekt wirkte, weder kleinlaut noch dominant. Harmonische Klänge mussten Worte und Emotionen untermalen. Theater und Museen, Tanz und Wortgeflecht, ungeschnörkelt oder aber kunstpelzverbrämt, Konzerte jeglicher Couleur, ja, auch der Klang der Farbgewalt von Mosaik, Leinwand und Papier. Ach was, die klingen doch nicht, was soll das denn wieder, sagst du? Dann lausche gerne dem Knipsen der Zange beim Fliesenzerteilen, dem ekstatischen Pinselstrich des von der Inspiration geleiteten Malers, dem feinen Schaben des Buntstiftes im Mandala, dem energischen Falzkniff beim Origamifalten.

Um das Ganze dann abzurunden, sei jedoch noch eine gute Portion Warmherzigkeit und Altruismus nötig. Die Bereitschaft, anderen ohne viel Wenn und Aber zu helfen, sie in Notsituationen zu unterstützen. Ohne Kalkül, ohne Ausrechnen, ob da auf Gegenseitigkeit zu bauen sei. Einfach weil es richtig ist.

Mit diesen Werten und Überzeugungen schuf Fran sich Harmonie in sich selbst, erkannte sie, das waren die Dinge, die ihr wichtig waren, so kam der Frieden aus ihrem Inneren. Ja, so konnte sie die Schöpferin ihres eigenen Lebens sein und beruhigt und zufrieden den Mittelpunkt in ihrem Universum einnehmen, ohne das Gefühl, irgendwo unrund zu laufen.

Bei diesen Überlegungen fühlte sich Fran nun nicht mehr so verunsichert und bewegte sich jetzt ohne Schuhe, aber im Wissen, von einer großen Energiekugel aus zufriedener Stabilität, Kraft und Bewusstheit umgeben zu sein durch die Wohnung der Freundin. Sie freute sich darauf, neue Gedanken kennenzulernen und die eigenen zu teilen. Gute Energie mitzubringen hebt immer die Laune der anderen. Und voller Lebenslust schlug sie vor: heute erzählst du mir mal deine Geschichte. Aber ganz anders als du sonst erzählst. Wir machen ein Experiment: Du darfst nämlich heute mal nur Dinge erzählen, die großartig waren! Ich werde aufpassen, dass du nur von den Sonnenstunden erzählst. Ich glaube, das wird ein besonders schöner Abend heute!

Und es funktionierte! Fröhliche Seifenblasen füllten den Raum, trudelten hinaus auf den Balkon und wehten davon über die Häuser der Nachbarschaft. Die Menschen in den Straßen deuteten mit dem Finger auf die vielen vielen großen und kleinen bunten farbenprächtigen Sphären, die sich im Scheine der Straßenlaternen langsam durch die Straßen und Parks verteilten und einfach unverwüstlich zu sein schienen. Wer sie sah glaubte für ein paar Stunden ausnahmsweise mal an ein Wunder.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

 

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