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Die Zuversicht ist ein scheues Reh
03.12.2023 23:55

Es wird bald Winter, und der Garten ist völlig verwuchert. Alles ist dieses Jahr fantastisch gewachsen, sollte aber eigentlich nicht ganz so wild und unbändig sein. Emilia-Rosas ehemaliger Gärtner hat nämlich letztes Jahr schon gekündigt. Er hat Depressionen. Er ist überarbeitet. Er hat keine Lust mehr. Ihm ist alles zu viel. Vor allem Emilia-Rosas Garten, der hat ihm zu viel Inhalt. Sie möchte aber den Inhalt behalten, nur in verschlankter Form. Einen langweiligen Rasen mit drei Bäumen möchte sie nicht haben. Selbst kann sie die Vielfalt aber nicht in den Griff kriegen. Schon seit letztem Jahr bräuchte sie also jemanden, der sich drum kümmert. Da sind so viele Bäume und Sträucher. Es müsste so viel getan werden! „Mehr als zwei Stunden arbeite ich für niemanden mehr“, hatte der Gärtner zu ihr gesagt. Ihr Garten braucht aber eher ein paar Tage Fürsorge am Stück. Die anderen angefragten Gärtner hatten keine Termine mehr.

An zwei Sträuchern versucht sie sich selbst, und auch an der Hecke schneidet sie die längsten Triebe, die über den Gehweg hängen, aber ihr Rücken lässt sie wimmern. Nach jeder Stunde Arbeit muss sie eine Stunde im Bett liegen, damit ihr Rückgrat wieder einwilligt, sie zu tragen. Also gibt sie schließlich auf, und der Garten genießt in überbordender Lebenslust seine Freiheit.

Eines Tages klingelt es an der Tür. Ein Mann steht draußen. Der war früher mal der Gehilfe von ihrem Gärtner, erinnert sie sich. Er arbeite schon lange nicht mehr bei ihm, sagt er. Aber er suche dringend Arbeit, er sei arbeitslos geworden. Und eine Operation stünde an. Er brauche unbedingt Geld. Emilia-Rosa spürt seine Dringlichkeit, seine Verzweiflung. Damals hat er gute Arbeit geleistet. Sie sieht ihn fest an und sagt: „Sie schickt der Himmel. Ich habe genug Arbeit hier für Sie!“

Am nächsten Tag fängt er an. Zwei Tage arbeitet er da, macht es hervorragend. Sie zahlt ihn aus. Sie identifizieren weitere Tätigkeiten, die noch vorgenommen werden könnten. Dafür erbittet er sich einen Vorschuss. Wider besseres Wissen bezahlt sie ihn im Voraus, weil er es so wichtig hat. Es regnet, er arbeitet ohne Unterlass den ganzen Tag. Er arbeitet ohne Jacke und Kopfbedeckung.

Am nächsten Tag ist er krank, kommt nicht, obwohl das Wetter wunderschön ist. Sie ärgert sich. Ihre Hoffnung, dass der Garten vor dem ersten Wintereinbruch noch fertig wird, zerschlägt sich. Die nächsten Tage verbringt er angeblich im Bett. Wenn sie nachfragt, wann er denn weitermache, kommt keine Antwort. Zwei Tage ist er nicht mehr online.

Endlich kommt eine Nachricht: „Machen Sie sich gar keine Sorgen, Ihren Garten mache ich noch 1A, ich werde mich drum kümmern, sobald ich wieder kann!“ schreibt er im Chat. Als sie das liest, geht es ihr etwas besser. Ihr Herz wird leichter. Wahrscheinlich ist er doch ein rechtschaffener Mensch. Immer lässt sie sich so schnell verunsichern, erwartet immer gleich wieder das Schlimmste.

„Vielen Dank, ich vertraue drauf!“ schreibt sie optimistisch zurück.

Pling – da kommt seine nächste Nachricht schon, eine Sprachnachricht: „Ich schwöre beim Grab meiner toten Mutter, dass ich alles tadellos machen werde.“

Das ist wie ein Schlag in die Magengrube! Wenn man etwas nicht halten kann, darf man es gar nicht erst versprechen. Und schon gar nicht schwören! Das hatten ihre Eltern ihr beigebracht, und sie würde niemals solche Schwüre abgeben - und dann noch so pietätslos! Wahrscheinlich ist seine Mutter nicht einmal tot! Nach ihrer bisherigen Erfahrung sind jedenfalls Leute, die einem irgendetwas leichtfertig schwören, völlig unzuverlässig und unwahrhaftig.

Ihre ganze Zuversicht ist auf einen Schlag komplett dahin, wie ein Reh mit hohen Sprüngen in seinen Wald zurückverschwunden. Zuversicht ist ohnehin nicht gerade ihre Stärke. Auch ihre Eltern hatten ein eher skeptisches Naturell.

Dann kommt der Gärtner doch für einen Tag wieder, schnibbelt herum, verpasst Eiben und Thujen einen coolen Look. Emilia-Rosa freut sich sehr, dass es voran geht, und vor allem, dass ihr Bauchgefühl nicht Recht hatte.

Leider hat der Mann jedoch nichts dazugelernt, er arbeitet wiederum ohne Jacke und Mütze, obwohl ein eisiger Wind geht. Am nächsten Tag hat er angeblich einen Rückfall, liegt mit Fieber im Bett. Emilia-Rosa hat inzwischen wieder so ein komisches Gefühl, dass dieser Kerl vielleicht nicht wirklich so viel tun möchte für sein Geld. Er vertröstet sie stetig weiter. An ein paar Tagen ist das Wetter wieder gut, aber er kommt nicht. Wenn sie ihn fragt, was los sei, hat er jedes Mal eine andere Ausrede. Der Tag der Operation rückt in greifbare Nähe. Emilia-Rosa hat das Gefühl, der Gärtner versuche, Zeit zu schinden. Sie in Sicherheit zu wiegen, bis es zu spät ist. Wenn er erst unter dem Messer liegt, kann er nichts mehr bei ihr arbeiten.

Eines Morgens wacht sie auf, und draußen schneit es. Es schneit nicht ein bisschen, so ein paar Federn wie in all den anderen Wintern. Es schneit fette Flocken! Es schneit Frau Holles gesamtes Federbettreservoir aus mindestens tausend Touristenhotelburgen! Es schneit schon fast komplette Schneemänner, so dick sind die Flocken! Die Straßen sind unbefahrbar. Die Anwohner haben es aufgegeben, die Gehwege überhaupt zu räumen. Die Stadt bittet die Bürger darum, das Haus nicht zu verlassen, damit sie unbeschadet bleiben. Der Räumdienst kommt nicht mehr nach. So viel Schnee hatte es schon seit 17 Jahren nicht mehr gegeben.

Die Bäume sind unter ihrer weißen Haube nicht mehr zu erkennen. Glücklicherweise hatte der Gärtner mit den Baumkronen angefangen, so dass hoffentlich nichts abbrechen wird. Emilia-Rosa genießt die Aussicht auf ihr privates Winterwonderland aus den Fenstern. Aber in ihrem Inneren nagen böse Ahnungen: Der Gärtner hat mein Geld und jetzt kann er dieses Jahr bestimmt nichts mehr machen! Und übermorgen muss er erstmal ins Krankenhaus, seine Schulter wird operiert, und danach muss er in die Reha. Er hatte was gesagt von „sechs Monate außer Gefecht!“ Emilia-Rosa überfällt die Panik, dass er das Geld einfach behält und sich aus dem Staub macht. Er hatte ihr schon anvertraut, da wo er früher gemeldet war, wohne er nicht mehr, sondern einfach mal hier und mal dort. Alles etwas seltsam mit diesem Menschen.

„Ach Emilie-Doofi, du hast dein Geld schlecht angelegt. Er wird sich nie wieder rühren und du wirst auch nicht herausfinden, wo er wohnt!“ Diese Einsicht kommt ihr auf einmal mit großer Klarheit, und ihr ist zum Heulen. Wieder mal hat sie sich ausnutzen lassen. Hässliche Gedanken fluten ihr Gehirn. Ihr Magen zieht sich zusammen. Ihr ist ziemlich übel. Sie ist wütend auf sich selbst, wie sie so blauäugig sein konnte.

Anderntags reißt sie sich zusammen, versucht wieder, obenauf auf den Wellen des Lebens zu schwimmen und dabei kein Salzwasser in den Mund zu bekommen. Bei diesem Bild, das in ihrem Kopf entsteht, muss sie grinsen. Salzwasser friert erst bei tieferen Temperaturen ein als Süßwasser, aber an denen fehlt es gerade nicht. Dann also besser Mund zu! Salzeis ist bestimmt grässlich! Sie verzieht das Gesicht, als hätte sie dran geschleckt.

Wenn sie aufstehen kann, ohne den Druck zu haben, dass dies zu einer bestimmten Uhrzeit sein muss, ist sie meist relativ gut gelaunt. Und heute frühstückt sie also in aller Ruhe mit Blick auf die weiße Pracht. Danach räumt sie ein paar Sommersachen im Schrank nach hinten, die wohl eher nicht so bald gebraucht werden.

Plötzlich klingelt es. Sie geht zum Küchenfenster, schaut hinaus. Ein Fremder steht bescheiden am Tor, das eigentlich offensteht. Ein jüngerer Mann. Misstrauisch öffnet sie die Haustür. „Einen sehr schönen guten Mittag, ich bin der Neffe vom Gärtner. Ich soll Ihnen was bringen“, grüßt er freundlich. Sie sieht ihn verdutzt an. Was meint er? Sie erwartet nichts. Da zieht er aus der Hosentasche einen etwas zerknautschten Umschlag.

Sie will nicht, dass dieser unbekannte Mensch zu nah an ihre Wohnungstür kommt. Also bedeutet sie ihm, er solle bleiben, wo er ist, und zieht erstmal ihre Stiefel an, denn draußen liegt jede Menge Schnee auf der Treppe und dem kurzen Wegstück bis zum Tor. Dann geht sie vorsichtig, um nicht auszurutschen, zu ihm hinunter. Der Neffe überreicht ihr den Umschlag. „Mit besten Grüßen“ sagt er. Sie schaut hinein. Da drin sind die noch nicht abgearbeiteten 600 Euro.

„Mein Onkel hat sich überlegt, dass es zu lang dauert, bis er wieder gesund ist. Da müssen Sie vielleicht im Frühling jemand anderen bezahlen. Aber sobald er wieder fit ist, kommt er und hilft Ihnen im Garten. Das hat er ja versprochen. Und falls Sie bis dahin noch nichts im Garten gemacht haben, können Sie ihm das ja wieder zurückgeben.“ Der junge Mann grüßt und verschwindet geräuschvoll im knirschenden Schnee.

Als sie die Treppe zurück ins Haus hochgeht, sieht sie Spuren, die vom Tor aus im Schnee durch den Garten verlaufen. Zwei Reihen von Abdrücken, die ganz parallel nebeneinander verlaufen. Jeder Fußabdruck ist zweigeteilt. So laufen Rehe. Unwillkürlich stiehlt sich ein breites Lächeln auf ihr Gesicht. Ein Zeichen. Doch! Es gibt noch anständige Menschen!

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Ode an die Freude
Mein lieber Herr Gesangsverein

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