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Ja
A horse with no name
29.01.2024 00:47

Elena stand in der Küche und ärgerte sich gerade über ihre durch diesen Virus seit Wochen bewirkte unerklärliche Fehlriechigkeit. Das Spülmittel, das normalerweise Orangenblütenduft verströmte, so dass sie es am liebsten in Softeisform lutschen wollte, erinnerte heute eher an Kloputzmittel. An dem würde sie sich bestimmt nicht vergreifen.

Nach der Beseitigung des Küchenchaos setzte sie sich an ihr altes, verstimmtes liebes Klavier, das sie niemals für ein neues eintauschen würde, auch wenn sein Lack noch so verlockend schwarz glänzte. Ihr lieber alter, kastanienbrauner Freund war nämlich ein großartiger Partner für Ragtime und Barmusik, ganz besonders, weil er so verstimmt war. Da klang jedes Plink und Plonk wie ein halbes Konzert, wunderschön schräg. Sie passten perfekt zusammen. Auch Elena war schräg. War sonderlich. Etwas in ihr hatte sich seit langem verzogen. Saiten waren gerissen. Töne verstummt. Andere krächzten oder brummten.

Nach mehreren Stücken war sie bei etwas ganz anderem angekommen – ein Song von George Harrison galoppierte plötzlich durch ihre Gedanken, wollte raus. Musste erst mühsam entstehen, die Töne wollten gefunden werden und sich verbinden. Dark Horse hieß das Stück. Wenn ein schwarzes Pferd in die eine Richtung losläuft, läuft laut esoterischen Sprüchen auf der anderen Seite der Welt ein weißes Pferd in die Gegenrichtung. Vielleicht bin ich das schwarze Pferd. Oder das weiße, und das schwarze kommt mir entgegen. Einmal um die Erde herum führt letztendlich zueinander.

Andere Impressionen aus dem Song sprachen ebenfalls von ihr. Schemenhaft war ihr der Text im Gedächtnis geblieben. Ein Blue Moon bin ich, jawoll. Sowas wie mich gibt es nur "once in a blue moon", was soviel bedeutet wie, so gut wie gar nie, denn das passiert nur, wenn zweimal innerhalb eines Monats Vollmond ist. Sie fühlte sich gut als blauer Vollmond. Das Lied Dark Horse hat allerdings unpassenderweise eher eine dunkelviolett-schwarze Melodie, mit beigen fransigen Bändern, die aus den Obertönen hängen und Wellen schlagen.

"I’ve been a cool jerk" war die nächste Zeile. Auch das stimmte. Für die anderen war sie immer ein bisschen seltsam, aber sie war immer noch eine coole Socke! Für ihr Alter jedenfalls. Auch wenn ihr Sohn eher der Meinung war, dass Frauen in diesem Alter schon quasi geschlechtsneutral würden, war das mitnichten der Fall bei ihr. Auch nicht mit Tanten. Sie war immer noch attraktiv und nicht wie andere ältere Herrschaften heimelig-süß umweht vom jedem Praxisbesucher vertrauten Geruch des Diclofenac. Sie griff lieber zu erdigen Tönen gemischt mit Thaibasilikum und einer Spur Zitronenschale. Diese Mischung hatte sie selbst komponiert, und über die Jahre hatte sie das Geheimwissen der Parfümeure geknackt und sich zu Diensten gemacht.

Wenn nur die Nase bald wieder gut funktionieren würde! Allein mit Farbenhören war das Leben doch etwas schal. Die Auswirkung dieses blöden viral disease war definitiv ein dis-ease, also eines Leichtigkeitsentzugs, eine Beschwernis, daher auch das Wort Beschwerde, dachte Elena.

Wortkreationen und das genaue Schauen auf Kleinode, die sich in Wörtern klammheimlich versteckt hatten, waren ihr täglich Brot geworden. Sie hatte keine Lust mehr auf sprachliche Unkreativität und Lebenswürzeentzug. Bei ihr musste Farbenpracht und extra viel Salz! Ein Wort folgte dem anderen, ein Geistesblitz überrollte den vorhergehenden. Und was nicht passend war, wurde passend in Form geklopft. Brachial und gnadenlos. Mit spitzer Zunge oder dem Zeigefinger auf dem Display. (Mit dem kleinen Zeh ginge es ja nicht so gut, es sei denn man trüge Beatles boots, sogenannte Winklepicker. Über dieses Wort hatte sie nachgedacht und zunächst vermutet, es handle sich bei den überlangen Stiefelspitzen im Stil der Leningrad Cowboys um Winkelputzer, mit denen man in jede Ritze kam, aber es stellte sich raus, dass ein Winkle eine Strandschnecke ist, und man also wohl mit den Stiefeln diese Schnecken aufspießt. Oder vielleicht Schnecken checkt.)

Plötzlich läutete es an der Tür. Als sie öffnete, stand ein grauhaariger Mann mit einem seltsam fragenden Ausdruck im Gesicht da. Ein bisschen ängstlich, aber charmant und irgendwie altbekannt. Als er sprach, erinnerte sie sich an eine Zeit, als sie noch in die erste Klasse ging. Er war früher der Watschenboy der Nachbarskinder gewesen, dann war er mit seinem Vater weggezogen. Nun sah er beinahe aus wie Richard Gere, aber ein klein wenig tolpatschig und etwas knuddeliger. Er vergass, seinen Namen zu nennen, lächelte sie an und klapperte huldvoll mit den unmännlich langen Wimpernjalousien vor hypnotischen Augen. „Ich habe gehört, dass hier jemand Dark Horse spielt. Mein Lieblingssong. Ich hab draußen vor der Tür gestanden und die ganze Zeit zugehört. Wollte mal sehen, wer hier so schön spielt, drum hab ich geklingelt. Hatte gehofft, dass es du bist! Darf ich überhaupt noch Du sagen? Ich bin jetzt hierher zurückgezogen, weil ich das Haus von meiner Ma geerbt habe.“

Auf den ersten Blick hatte er sie erkannt, obwohl sie jetzt weiße Haare trug, die außerdem etwa einen halben Meter kürzer als früher waren. Damals war sie die Rothaut der Siedlung gewesen. Sonnenverwöhnt und federgeschmückt. Etwas anderes als Indianerbücher hatte sie nicht interessiert. Trotzdem hatte sie ihn damals immer vor den anderen Jungs beschützt. Er war sanft und lieb gewesen, und die anderen hatten ihn gern schikaniert. Sie hingegen hatte sich gern unlieb Kind gemacht. Das war ihr Markenzeichen. Sie war ernst, spitzfindig, herb und apart gewesen.

Sie bat ihn herein. "Willst du was zu trinken?" fragte sie höflich mit unerwartet weicher Stimme. "Ja bitte, Milch der frommen Denkungsart aus dem Becher der Erkenntnis, wenn's geht", antwortete er und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das gefiel ihr. Sie redeten lang und breit. Sie lachten und flirteten. Es war, als würde eine Fessel gesprengt, die lange auf ihrer beider Brust gelegen hatte. Er hatte sie schon immer insgeheim bewundert und sie hatte ihn schon immer insgeheim gemocht. Sie stellten fest, wieviel sie eigentlich gemeinsam hatten, außer dass sie ihm einmal aus Versehen zu ihrem unendlichen Bedauern einen Stein auf die Stirn geworfen hatte, woraufhin er umgekippt war. Beide waren Synästhetiker, und das war schon eine sehr seltener Berührungspunkt.

Elena fühlte, wie durch die Begegnung ein Heilungsprozess stattfand. Die Lebenslust kehrte zurück, und sie fühlte sich plötzlich wieder wie ein Edelstein ohne Knacks in der Mitte, der das Licht vollkommen reflektiert in alle Richtungen und ganz und gar durchsichtig und klar ist. Keine Einschlüsse, kein Geriesel im Inneren, keine Blasen, keine Fehler, einfach makellos strahlend und wunderschön.

Sie sandte Licht aus, und der groß gewordene Nachbarsjunge partizipierte an ihrem Strahlen. Er fühlte diesen hellen Schimmer und begann, sich selbst von allen bösen Gedanken zu erlösen, die aus seiner Kindheit in einer Kiste hinter sieben Vorhängeschlössern im finsteren Verließ seines Unterbewussten schlummerten. Seine Vorstellung von sich selbst veränderte sich von bitterem karminrotem Radicchio zu sanftem, klebrigem gelbem Honig mit einer Prise duftendem Curry. Er wurde süßer und milder. Groll über jahrelang erlittene Bosheit war plötzlich gewichen, es fühlte sich an, als sei das Gift all der Jahre vertrieben und ausgeschieden.

Später an diesem Nachmittag entschieden sie sich, wie früher einen Spaziergang durch die umliegenden Getreidefelder von Irgendhausen zu machen. Es waren in der Tat nur wenige Felder übriggeblieben, wo früher weite Flächen voller durchsummten Rapses in der Sonne vibriert hatten. Sie pflügten wie Mähdrescher im Perpetuum-mobile-Modus durch die ehemals unschuldigen Gedanken im Kopf des anderen, wirbelten die Alltagsgedanken durcheinander und schossen diese ohne Rückfahrschein in die Erdumlaufbahn.

Die Sonne ging langsam unter, während sie darüber nachdachten, wie seltsam und faszinierend dieser Tag gewesen war. Was würde wohl jetzt der Abend bringen? Als sie im Schein der Straßenlaterne wieder vor dem Haus standen, sahen sie sich kurz an und mussten lachen, denn beide hatten spiegelbildverkehrt eine Augenbraue hochgezogen und einen fragenden Blick aufgesetzt. Sie nahm ihn wortlos an der Hand und zog ihn in den Hausflur.

 

© Manuela Hoffmann-Maleki (Letteratour) – Ich. Einfach unver-besserlich.

Ich bins, dein Herz
Statt am See

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